Europas Regierungen setzen auf Durchseuchung

Ende letzten Monat verkündete die sozialdemokratische dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen einen großangelegten Menschenversuch. Am 1. Februar fielen praktisch alle noch bestehenden Corona-Regeln – Maskenpflicht, Distanzregeln, Überprüfung von Impfstatus und Testergebnissen. Auch Großveranstaltungen sind in Dänemark wieder erlaubt, Bars und Diskotheken dürfen öffnen.

Behandlung eines Covid-Patienten auf der Intensivstation des Royal Papworth Hospitals in Cambridge, England (Bild: Neil Hall Pool via AP)

Frederiksen hatte die Pandemie schon einmal, im September letzten Jahres, für beendet erklärt. Doch damals lag die Zahl der wöchentlichen Infektionen unter 50 pro 100.000 Einwohner. Nun ist die Sieben-Tage-Inzidenz mit 5300 mehr als 100 Mal so hoch. Dänemark ist europäischer Spitzenreiter. Jeder zehnte Einwohner ist aktiv infiziert.

Trotzdem schafft die Regierung alle Schutzmaßnahmen ab. Das ist, als würde man bei Dauerregen mit schweren Überschwemmungen auch noch die Dämme öffnen, die gegen solche Katastrophen gebaut wurden. Die dänische Regierung setzt bewusst darauf, die 5,8 Millionen Einwohnern des Landes in kürzester Zeit zu durchseuchen, auch wenn das viele mit dem Leben oder dauerhaften Gesundheitsschäden bezahlen werden. Besonders gefährdet sind Kinder unter fünf Jahren, für die es keinen Impfschutz gibt.

Unzählige Menschen in ganz Europa verfolgten Frederiksens provokativen Schritt mit Entsetzen. In den Zeitungsredaktionen und Regierungszentralen herrschte dagegen Jubel. Durchseuchung ist inzwischen die offizielle Politik jeder europäischen Regierung. Was zu Beginn der Pandemie nur in Stockholm und London offen vertreten wurde, ist jetzt europäischer Konsens. Unterschiede gibt es höchstens noch beim Tempo, mit dem das Ziel erreicht werden soll.

Großbritannien, Österreich, Spanien, die Niederlande, Schweden und die Schweiz haben die bisherigen Einschränkungen und Regeln bereits weitgehend abgeschafft. Frankreich und Deutschland sind auf dem Weg dahin.

In Großbritannien setzt Premier Boris Johnson auf das Motto „nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“. Er hat nicht nur die Aufhebung aller noch geltenden Corona-Regeln, sondern auch der Meldepflicht Corona-bedingter Todesfälle angekündigt. Selbst die Quarantänepflicht für Infizierte steht zur Disposition.

In Spanien hat Regierungschef Pedro Sánchez bereits Mitte Januar erklärt, man werde die Pandemie zukünftig wie eine Grippe behandeln. Tests und Kontaktverfolgung sind drastisch reduziert, die Infektionszahlen durch neue Zählweisen heruntergerechnet worden.

Norwegen hat am 1. Februar bis auf Maskenpflicht und Ein-Meter-Abstandregel alle bestehenden Beschränkungen abgeschafft. „Wir werden mit hohen Infektionszahlen leben müssen, und wir können mit hohen Infektionszahlen leben“, begründete dies Ministerpräsident Jonas Gahr Støre.

Die Regierung der Niederlande kündigte am 26. Januar trotz Rekordinfektionszahlen eine Lockerung der Corona-Schutzmaßnahmen an. Restaurants, Theater, Kinos, Museen und Fußballstadien dürfen wieder öffnen.

Die Schweiz, deren Regeln ohnehin stets locker waren, hat die Homeofficepflicht und die Quarantäne für Kontakte infizierter Personen abgeschafft. Infizierte müssen nur noch fünf Tage in Quarantäne. Die Zertifikatspflicht für Restaurants und Veranstaltungen und die Maskenpflicht am Arbeitsplatz und an öffentlichen Orten sollen Mitte Februar fallen.

In Frankreich hebt Präsident Emmanuel Macron schrittweise die Kontakt- und Maskenbeschränkungen auf, obwohl sich täglich mehr als 320.000 Menschen anstecken.

Deutschland hat auf den steilen Anstieg der Infektionen mit der Einschränkung von Tests reagiert, so dass die tatsächliche Zahl nicht mehr nachverfolgt werden kann und sich Kontaktpersonen nicht mehr krankschreiben können. Obwohl Schulen erwiesenermaßen wichtigste Brutstätten des Virus sind, bleiben sie offen. Es ist nur eine Frage von Wochen, bis auch hier die letzten Schutzmaßnahmen fallen.

Dabei wütet Corona in Europa wie nie zuvor. Allein in der vergangenen Woche wurden rund zwölf Millionen Neuinfektionen registriert – so viele wie nie zuvor seit Beginn der Pandemie. In der letzten Woche sind 21.500 Europäer an Covid-19 gestorben, seit Beginn der Pandemie mehr als 1,6 Millionen, die Dunkelziffer nicht eingerechnet. Die WHO schätzt, dass sich bis Mitte März 60 Prozent aller Europäer mit der hochansteckenden Omikron-Variante infizieren werden.

Die Regierungen rechtfertigen ihre Durchseuchungspolitik inmitten der höchsten Welle der Pandemie damit, dass eine Kombination von Impfung, Immunisierung durch Ansteckung und milderem Krankheitsverlauf die Pandemie beherrschbar mache.

Selbst Experten, die es eigentlich besser wissen, haben sich unter immensem politischem Druck dieser Argumentation angeschlossen. So erklärte der WHO-Direktor für Europa, Hans Kluge, auf einer Pressekonferenz in Kopenhagen, Omikron verschaffe Europa die einzigartige Chance, die Ausbreitung des Virus unter Kontrolle zu bekommen und ein „Endspiel“ der Pandemie einzuläuten.

Die große Zahl verabreichter Impfungen und natürlicher Immunisierungen durch Omikron, das nahende Winterende sowie die geringere Krankheitsschwere der Variante gäben Europa die Aussicht auf eine mögliche „Feuerpause“ im Kampf gegen das Virus, so Kluge. Nach dem Abebben der Welle werde es – zumindest „für einige Wochen und Monate“ – eine globale Immunität geben.

Kluge schränkte allerdings ein, dass das Impfen weiter vorangetrieben, besonders anfällige Menschen geschützt, neu aufkommende Varianten beobachtet und das Gesundheitssystem für mögliche künftige Wellen gerüstet werden müssten. Das Coronavirus habe „mehr als einmal überrascht, also müssen wir sehr vorsichtig sein“, sagte er. Trotzdem verharmlosen seine Aussagen die enormen Gefahren der Durchseuchungsstrategie in verantwortungsloser Weise.

Ihre Kosten sind unerträglich hoch. Schon jetzt sterben täglich 3000 Menschen in Europa, und diese Zahl wird aufgrund des steilen Anstiegs der Infektionen und der niedrigen Impfquote in vielen Ländern weiter ansteigen. So sind in Deutschland nur 74 und in Frankreich nur 76 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft, im Gegensatz zu 81 Prozent in Dänemark.

Zudem kann die Pandemie nur international bekämpft werden. Die Durchseuchungsstrategie in Europa und den USA, wo die Biden-Administration denselben Kurs verfolgt, wird unweigerlich zu einem Ansteigen der Infektionen auf anderen Kontinenten führen, wo noch viel weniger Menschen geimpft sind. Damit steigt auch die Gefahr, dass sich ansteckendere und tödlichere Varianten entwickeln, die gegen die vorhandenen Impfstoffe resistent sind.

Völlig ignoriert wird auch die Gefahr, dass große Teile der Bevölkerung lebenslang erkranken. „Eine erschreckende Prognose wird laut: Long Covid droht zur Volkskrankheit zu werden,” schreibt die Frankfurter Allgemeine (FAZ) in einem ausführlichen Artikel über die bisherigen Forschungsergebnisse.

Wegen des Fehlens einheitlicher Krankheitskriterien und Erfassungsmethoden gibt es zwar noch keine umfassenden Zahlen, doch die Ergebnisse vorliegender Untersuchungen sind alarmierend. Die Zahl der Corona-Infizierten, die selbst bei leichtem Verlauf Monate später noch Symptome spüren, liegt je nach Kriterien und Studie zwischen 2 und 40 Prozent. Häufigstes Symptom ist eine krankhafte Erschöpfung, die sogenannte „Fatigue“. Hinzu kommen Atemnot, Konzentrationsstörungen, eine generelle Leistungsminderung, Herzrasen und Verlust des Geschmacks- und Geruchssinns.

„Während Covid-19 hauptsächlich für Ältere und immungeschwächte Patienten gefährlich ist,“ fasst die FAZ die Forschungsergebnisse zusammen, „ist Post-Covid ein Problem vieler junger Erwachsener und Kinder.“ Obwohl viele Zusammenhänge noch unklar sind, häufen sich Hinweise, dass das Gefäßsystem durch Covid nachhaltig geschädigt wird. „Auch deswegen ist Covid-19 mehr als ein Erkältungsleiden, es ist eine Systemerkrankung,“ folgert die FAZ.

Die Gefahr, dass Jugendliche und Kinder, die von der Durchseuchungspolitik am stärksten betroffen sind, lebenslange Gesundheitsschäden davontragen, ist also extrem hoch.

Im Gegensatz zu Kluge warnt WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus ausdrücklich von den Folgen der Durchseuchungspolitik. Am 24. Januar sagte er auf der Tagung des WHO-Exekutivrats: „Mit Covid leben zu lernen, kann nicht bedeuten, dass wir diesem Virus einen Freifahrtschein geben. Es kann nicht bedeuten, dass wir fast 50.000 Todesfälle pro Woche durch eine vermeidbare und behandelbare Krankheit hinnehmen. Es kann nicht bedeuten, dass wir eine inakzeptable Belastung für unsere Gesundheitssysteme hinnehmen, während jeden Tag erschöpfte Mitarbeiter des Gesundheitswesens erneut an die Front gehen. Es kann nicht bedeuten, dass wir die Folgen von Long Covid ignorieren, die wir noch nicht vollständig verstehen. Es kann nicht bedeuten, dass wir auf ein Virus setzen, dessen Entwicklung wir weder kontrollieren noch vorhersagen können.“

„Es gibt verschiedene Szenarien, wie die Pandemie verlaufen könnte und wie die akute Phase enden könnte – aber es ist gefährlich anzunehmen, dass Omikron die letzte Variante sein wird oder dass wir uns im Endspiel befinden“, fügte er hinzu.

Für die mörderische Durchseuchungspolitik gibt es keine wissenschaftliche Rechtfertigung. Sie hat ausschließlich politische Gründe. Damit die Wirtschaft läuft und die Profite weiter Sprudeln, sind die Herrschenden bereit, unzählige Menschenleben und die Gesundheit der nachrückenden Generation zu opfern.

Die öffentliche Gesundheitsvorsorge gehört zu den größten zivilisatorischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts. Staatliche Hygienemaßnahmen und breiter Zugang zu ärztlicher Versorgung sorgten erstmals dafür, dass ein großer Teil der Bevölkerung ein Alter von 60, 70 und mehr Jahren erreichte.

All das wird heute zur Disposition gestellt. Die kapitalistische Gesellschaft ist zutiefst krank. Während sich Amazon-Gründer Jeff Bezos eine Yacht für 430 Millionen Euro baut und eine historische Brücke in Rotterdam abreißen lässt, um sie ins Meer zu bringen, ist für den Schutz des Lebens von Millionen kein Geld da.

Alle Parteien – von den nominal linken bis zu den rechten –, die den Kapitalismus verteidigen, unterstützen die Durchsuchungspolitik. Die Hoffnung, man könne sie durch Petitionen oder Druck zu einem Kurswechsel bewegen, ist illusorisch.

Nur eine unabhängige Bewegung der internationalen Arbeiterklasse, die den Widerstand gegen die Durchseuchung mit dem Kampf gegen Ausbeutung, soziale Ungleichheit, Demokratieabbau und Krieg verbindet, kann diese mörderische Politik stoppen.

Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ist entsetzt und empört über die Durchseuchungspolitik. Notwendig ist der Aufbau einer Partei, die ihre Interessen vertritt und sie mit einer sozialistischen Perspektive bewaffnet – des Internationalen Komitees der Vierten Internationale und seiner Sektionen, der Sozialistischen Gleichheitsparteien.

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