Keine „Opfer“ für den Ukrainekrieg!

Deutsche Politiker und Medien stimmen die Bevölkerung seit Tagen darauf ein, „Opfer“ für den Krieg in der Ukraine zu bringen. Die Vorreiterrolle hat, wie oft in solchen Fällen, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier übernommen.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (Bild: DBT/photothek)

Anlässlich eines Konzerts „Für Frieden und Freiheit“ in seinem Amtssitz Schloss Bellevue erklärte Steinmeier am vergangenen Sonntag: „Nicht nur unsere humanitäre Solidarität ist gefordert.“ Die scharfen, gegen Russland verhängten Sanktionen brächten „auch für uns“ unvermeidlich Einbußen. „Wir werden bereit sein müssen, sie zu tragen, wenn unsere Solidarität nicht nur Lippenbekenntnis sein, wenn sie ernst genommen werden soll.“

„Die ganze Wahrheit ist: Viele Härten liegen erst noch vor uns,“ fuhr der Bundespräsident fort. „Unsere Solidarität und unsere Unterstützung, unsere Standhaftigkeit, auch unsere Bereitschaft zu Einschränkungen werden noch auf lange Zeit gefordert sein.“

Auch Der Spiegel stimmt seine Leserschaft auf Entbehrungen ein. Unter der Überschrift „Wie geht noch mal verzichten?“ heißt es in der jüngsten Ausgabe: „Wörter, die sehr lange keine Rolle mehr gespielt haben in der deutschen Wirklichkeit, kehren zurück: Verzicht, Entbehrung, Opferbereitschaft, Mangel. Schafft es die Regierung, die Gesellschaft darauf einzustellen? Versucht sie es überhaupt?“

Um die Opferbereitschaft seiner Leser zu stärken, bemüht das Nachrichtenmagazin Politiker, Ökonomen, Schriftsteller und Philosophen.

Der Autor Navid Kermani, laut Spiegel „einer der wichtigsten Intellektuellen des Landes“, verlangt einen sofortigen Importstopp für russische Energie und klagt die Bundesregierung an, sie schrecke in dem Augenblick zurück, „in dem reale Einschränkungen zu befürchten sind“.

Philipp Lepenies, Professor für Politik mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit an der Freien Universität Berlin, klagt, wir lebten „in einer Konsumkultur, nicht in einer Verzichtskultur“. Der Moment für Verzicht wäre womöglich sogar günstig, pflichtet ihm der Philosoph und Gastprofessor an der Universität der Künste Berlin, Philipp Hübl, bei. Wenn es gute und unmittelbar verständliche Gründe gebe, seien viele bereit, Einschränkungen hinzunehmen. „Und wenig leuchtet so ein wie der Kampf gegen einen Diktator, der Bomben auf eine Geburtsklinik fallen lässt,“ fügt der Spiegel hinzu.

Doch wofür sollen die Opfer gebracht werden?

Um „den tapferen und erbitterten Kampf des ukrainischen Volkes um Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung zu unterstützen“, antwortet Steinmeier, um „unsere Wehrhaftigkeit und unsere Mitmenschlichkeit, unseren Willen zum Frieden und den Glauben an Freiheit und Demokratie“ zu verteidigen. Der Begriff „Freiheit“ benutzt er in seiner kurzen Rede nicht weniger als acht Mal.

Wäre Steinmeier ehrlich gewesen, hätte er gesagt: Um die größte Aufrüstungsoffensive seit dem Zweiten Weltkrieg zu finanzieren; um Deutschland wieder zur führenden Militärmacht Europas zu machen; um die Ukraine, die wir bereits im Ersten und Zweiten Weltkrieg erobert, verwüstet und dann wieder verloren haben, endgültig unter unseren Einfluss zu bringen; um in Russland, das unserem Expansionsstreben immer im Wege stand, einen Regimewechsel herbeizuführen; um es zu zerschlagen und ungehinderten Zugang zu seinen gewaltigen Rohstoffvorkommen zu bekommen.

Wäre er ehrlich gewesen, hätte er hinzugefügt: Um diese Ziele zu erreichen, nehmen wir das größtmögliche „Opfer“ in Kauf – das Risiko eines dritten Weltkriegs, der ganz Europa in eine nukleare Wüste verwandelt.

Der russische Angriff auf die Ukraine ist reaktionär und muss zurückgewiesen werden. Die Bilder toter Zivilisten, zerstörter Wohnhäuser und flüchtender Frauen und Kinder haben zahlreiche Menschen entsetzt und empört. Doch die Behauptung, der Krieg sei allein dem bösen Willen eines Unholds namens Putin entsprungen, der ohne jeden Grund in ein demokratisches, freiheitsliebendes und prosperierendes Auenland Ukraine eingefallen sei, ist schlichtweg absurd.

In Wirklichkeit handelt es sich um einen Stellvertreterkrieg zwischen der Nato und Russland, in dem die ukrainische Bevölkerung als Bauernopfer dient. Er ist von den USA und ihren europäischen Verbündeten langfristig vorbereitet und provoziert worden. Sie haben die Nato, das mächtigste Militärbündnis der Welt, entgegen bestehender Absprachen immer weiter nach Osten vorgeschoben, zweimal einen Machtwechsel in der Ukraine organisiert, sie bis an die Zähne bewaffnet und faschistische Kräfte gefördert. Nun unterstützen sie den Krieg mit Waffenlieferungen im Wert von Milliarden.

Steinmeier selbst spielte dabei eine wichtige Rolle. Er war als deutscher Außenminister in Kiew, als rechtsextreme Milizen 2014 den gewählten Präsidenten Wiktor Janukowitsch vertrieben. Gemeinsam mit seinem französischen und polnischen Kollegen hatte er einen Machtwechsel vereinbart, der dann durch den rechten Putsch beschleunigt wurde. Zu Steinmeiers Verhandlungspartnern und zu den Mitgliedern der neuen Regierung gehörte auch die Swoboda-Partei, die sich auf Nazi-Kollaborateure beruft und mit der der deutschen NPD zusammenarbeitet.

Steinmeier, der weiß, dass seine Zusammenarbeit mit rechten ukrainischen Nationalisten auf Misstrauen stößt, hatte zum Solidaritätskonzert im Schloss Bellevue neben ukrainischen auch russische, belarussische und polnische Musiker geladen. Als Solist trat der russische Starpianist Jewgeni Kissin auf, der seit 30 Jahren im Ausland lebt. Neben Werken des 84-jährigen ukrainischen Komponisten Walentin Sylwestrow, der vor dem Krieg geflohen und persönlich anwesend war, wurden auch Werke von Chopin, Tschaikowsky und Schostakowitsch aufgeführt.

„Lassen wir nicht zu, dass aus Putins Hass ein Hass zwischen Völkern und zwischen Menschen wird,“ begründete dies Steinmeier. Doch der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk, ein Bewunderer des Nazi-Kollaborateurs Stepan Bandera, machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Er sabotierte die Veranstaltung und veröffentlichte einen üblen nationalistischen Tweet: „Mein lieber Gott, wieso fällt es dem Bundespräsidenten so schwer zu erkennen, dass solange russische Bomben auf Städte fallen und Tausende Zivilisten Tag und Nacht ermordet werden, wir Ukrainer keinen Bock auf ‚große russische Kultur‘ haben. Basta.“

Der Stellvertreterkrieg der Nato gegen Russland ist, wie alle imperialistischen Kriege, mit heftigen Angriffen auf die sozialen Errungenschaften und demokratischen Rechte der Arbeiterklasse verbunden. Im Ersten Weltkrieg vereinbarten SPD und Gewerkschaften einen Burgfrieden und unterdrückten alle Arbeitskämpfe. Kriegsgegner wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht saßen hinter Gittern. Vor dem Zweiten Weltkrieg zerschlug Hitler die Arbeiterbewegung und errichtete ein Terrorregime, das selbst harmlose Antikriegswitze mit dem Tod ahndete.

Demselben Zweck dienen die „Opfer“, die Politik und Medien nun verlangen. Die arbeitende Bevölkerung soll die Kosten für das größte Aufrüstungsprogramm seit Hitler und für einen Krieg bezahlen, der ihre eigene Existenz bedroht. Lohnsenkungen, Sozialabbau und Entlassungen, die längst vorbereitet waren, werden nun mit der verlogenen Begründung umgesetzt, sie seien ein notwendiges „Opfer“ für die „Freiheit“ der Ukraine.

Die Angriffe haben längst begonnen. Am Mittwoch meldete das Statistische Bundesamt eine Inflationsrate von 7,3 Prozent, die höchste seit 40 Jahren. Für Millionen Arbeiterfamilien bedeutet das einen dramatischen Niedergang des Realeinkommens. Bezahlen sie einen hohen Anteil ihres Einkommens für Benzin, Heizung oder Miete, wo die Preise regelrecht explodieren, ist der Niedergang existenzbedrohend.

Die Inflation war bereits vor dem Ukrainekrieg stark angestiegen. Sie ist ein Ergebnis der Geldschwemme, mit der Bundesregierung und Europäische Zentralbank die Börsenkurse und die Vermögen der Reichen in schwindelerregende Höhen trieben, während die Arbeitseinkommen sanken und weltweit 20 Millionen Menschenleben durch die „Profite-vor-Leben“-Politik der Pandemie geopfert wurden.

Die pandemiebedingten Unterbrechungen von Lieferketten und ökonomischen Verwerfungen hatten zur Folge, dass diese Spekulationsblase zum Anstieg der Inflation führte. Die Sanktionen gegen Russland haben dies beschleunigt. Vor allem die Preise für Öl und Gas sind stark gestiegen. Und das ist nur der Anfang.

Sollte Russland als Antwort auf die Sanktionen die Gaslieferungen nach Europa einstellen, rechnen Ökonomen mit einer Inflationsrate in Höhe von zehn Prozent. „Manche Unternehmen würden ihre Produktion wohl einstellen müssen und mehr Menschen in Kurzarbeit schicken“, sagte der Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Marcel Fratzscher.

Eine Studie des DIW rechnet bei einem dauerhaften Lieferstopp mit einem Wirtschaftseinbruch von 3 Prozent, der sich über rund 10 Jahre erstrecken könnte. Andere Einschätzungen gehen noch weiter. Bundeskanzler Olaf Scholz rechnet in diesem Fall mit Massenarbeitslosigkeit und einer schweren Rezession. Ganze Industriezweige in Deutschland seien dann bedroht, sagte er am Sonntag in der ARD-Sendung Anne Will.

Laut Einschätzung der FAZ könnte Russland den Gashahn bereits am kommenden Wochenende abdrehen. Das Land will ab dem 1. April nur noch Gaszahlungen in Rubel akzeptieren, was die Wirtschaftsminister der G7 am Montag einhellig zurückwiesen. Russland versucht mit der Umstellung von Euro und Dollar auf Rubel seine Währung zu stabilisieren, die stark an Wert verloren hat, nachdem die westlichen Sanktionen einen großen Teil der russischen Währungsreserven eingefroren haben.

Wirtschaftsminister Robert Habeck hat am Mittwoch die Frühwarnstufe des Notfallplans Gas ausgerufen. Ein Krisenteam beobachtet nun täglich die Versorgungslage. Verschlechtert sie sich drastisch, entscheidet die Bundesnetzagentur, wer vorrangig mit Gas versorgt wird. Da viele Unternehmen in der Chemieindustrie Gas nicht nur als Energiequelle, sondern auch als Rohstoff verwenden, könnte es dort zu Totalausfällen kommen.

Auch 15 Prozent des deutschen Strombedarfs werden aus Erdgas erzeugt. Private Haushalte decken sogar 41 Prozent ihres Energieverbrauchs mit Gas. Fällt ihre Versorgung aus, haben sie weder Heizung, noch Warmwasser, noch eine Kochmöglichkeit.

Der Sachverständigenrat der Bundesregierung hat seine Wachstumsprognose für dieses Jahr bereits auf 1,8 Prozent reduziert. Im November war er noch von 4,6 Prozent ausgegangen. Die Inflation veranschlagen die sogenannten „Wirtschaftsweisen“ auf 6,1 Prozent. Das wird zu Steuerausfällen führen, die – wegen der steigenden Rüstungsausgaben – durch Sozialkürzungen wieder eingetrieben werden.

Die Gewerkschaften haben signalisiert, dass sie im Krieg zu hundert Prozent auf Seiten der Regierung und der Konzerne stehen. Zwei Tage nachdem Bundeskanzler Scholz die Erhöhung des Militärhaushalts um 100 Milliarden Euro verkündet hatte, veröffentlichten die IG Metall und der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) eine gemeinsame Erklärung, in der sie sich „mit Nachdruck“ hinter die Sanktionsmaßnahmen gegen Russland stellen. Die IG Metall ließ auch keinen Zweifel, dass sie die verheerenden wirtschaftlichen Folgen der Sanktionspolitik – explodierende Sprit- und Energiepreise, hohe Inflation, Entlassungen, Kurzarbeit und Lohneinbußen – auf ihre Mitglieder abwälzen und jeden Widerstand dagegen ersticken wird.

Arbeiter können und dürfen dies nicht akzeptieren. Die „Opfer“, die ihnen abverlangt werden, dienen nicht dem „Frieden“, sondern der Eskalation von Militarismus und Krieg. Die einzige Möglichkeit, ein erneutes Abgleiten der Menschheit in Krieg und Barbarei zu verhindern, ist der Aufbau einer mächtigen internationalen Antikriegsbewegung in der Arbeiterklasse.

Der Kampf gegen Krieg sowie die Verteidigung von Einkommen, sozialen Errungenschaften und demokratischen Rechten fallen dabei untrennbar zusammen. Im Ersten Weltkrieg waren es Lebensmittelproteste und Massenstreiks von Arbeiterinnen und Arbeitern, die schließlich 1917 in die russische und 1918 in die deutsche Revolution mündeten, die den Krieg beendeten und die Kriegstreiber zum Teufel jagten.

Um der Kriegsgefahr entgegenzutreten, ist es notwendig, mit den reaktionären Gewerkschaften zu brechen und unabhängige Aktionskomitees aufzubauen, die den Kampf in den Betrieben organisieren und sich international vernetzen. Vor allem ist es nötig, eine internationale Arbeiterpartei aufzubauen, die den Kriegstreibern in jedem Land entgegentritt, jede Form von Nationalismus zurückweist und für ein sozialistisches Programm zum Sturz des Kapitalismus kämpft. Diese Partei ist das Internationale Komitee der Vierten Internationale und seine deutsche Sektion, die Sozialistische Gleichheitspartei.

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