„Der Aufruf der PES für einen aktiven Boykott entspricht der Entwicklung des Klassenkampfs“

Am 18. April hielt die Parti de l'égalité socialiste (PES), die französische Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, eine Online-Wahlveranstaltung ab, um ihren Aufruf zum aktiven Boykott der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen vorzustellen und zu diskutieren. Wir veröffentlichen hier den Beitrag von Johannes Stern, dem Chefredakteur deutschsprachigen World Socialist Web Site.

Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Freundinnen und Freunde,

ich freue mich sehr, an dieser wichtigen Wahlveranstaltung der Parti de l’égalité socialiste teilnehmen zu können. Als internationaler Sprecher überbringe ich herzliche Grüße der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP), der deutschen Schwesterpartei der PES und des gesamten Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI).

Die Perspektive der PES ist von entscheidender politischer Bedeutung. Ihr Aufruf für einen aktiven Boykott beruht nicht auf parlamentarischen Manövern, sondern entspricht der Entwicklung des Klassenkampfs und formuliert den unabhängigen Standpunkt der Arbeiter gegen die reaktionären Pläne der Bourgeoisie.

Wie die PES in ihrem Statement vom 11. April erklärt, verfolgt sie mit ihrer Kampagne das Ziel, „die Arbeiterklasse auf die Konfrontation vorzubereiten, die unweigerlich kommen wird, egal welcher Kandidat gewinnt.“

Es besteht kein Zweifel daran, dass die nächste französische Regierung eine Klassenkriegsregierung gegen die Arbeiterklasse sein wird. Beide Kandidaten, der amtierende Präsident Emmanuel Macron und seine Herausforderin Marine Le Pen, sind Todesfeinde der Arbeiter und unter großen Teilen der Bevölkerung verhasst, wie die aktuellen Proteste zeigen.

Ich muss hier nicht ausführlicher auf die beiden Kandidaten eingehen, das hat Genosse Alex Lantier bereits gemacht. Macron ist der Präsident der Reichen, der in den letzten fünf Jahren den französischen Polizeistaat gestärkt und gegen die Gelbwesten, protestierende Studenten und streikende Arbeiter eingesetzt hat. In der Pandemie steht er für eine Politik der Durchseuchung, in der Flüchtlingspolitik für Massenabschiebungen und der Außenpolitik für Krieg.

De facto hat Macron damit das Programm der extreme Rechten übernommen. Die Faschistin Le Pen kann sich nur deshalb als vermeintlich „soziale“ Alternative zu Macron aufspielen, da dieser auf Grund seiner Politik im Interesse der Reichen zutiefst verhasst ist. In Wirklichkeit ist Le Pen wie Macron eine Vertreterin des französischen Finanzkapitals und würde die Politik der sozialen Ungleichheit, der Durchseuchung und des Kriegs genauso aggressiv vorantreiben wie der amtierende Präsident.

Es ist wichtig zu verstehen, dass die rechte Politik der unterschiedlichen Kandidaten der herrschenden Klasse keine individuelle Frage ist, sondern objektive Gründe hat. Die WSWS hat bereits die Pandemie als Trigger Event bezeichnet, als ein „auslösendes Ereignis“, das die bereits weit fortgeschrittene wirtschaftliche, soziale und politische Krise des kapitalistischen Weltsystems extrem zugespitzt hat.

Der von der Nato provozierte Einmarsch Russlands in die Ukraine hat diese Entwicklung weiter verschärft. Die ständige militärische und wirtschaftliche Eskalation des Kriegs durch die imperialistischen Mächte hat schon jetzt verheerende Auswirkungen auf Millionen Arbeiter. Weltweit entwickeln sich Streiks und Proteste. Die gesamte herrschende Klasse reagiert auf diese explosive Entwicklung mit einer scharfen Rechtswende.

Das zeigt sich ganz besonders deutlich auch in Deutschland. Die sogenannte Ampel-Koalition aus SPD, FDP und den Grünen, die im vergangenen Herbst an die Macht kam, hat die rechte Politik der zuvor regierenden Großen Koalition aus SPD und CDU/CSU noch intensiviert. Ohne dass sie formal an der Macht ist, wird das Programm der rechtsextremen AfD in nahezu allen Bereichen zur offiziellen Regierungspolitik.

In Bezug auf die Pandemie hat die Ampel-Koalition die letzten verbliebenen Schutzmaßnahmen beendet – mit mörderischen Konsequenzen. Insgesamt hat die Profite vor Leben-Politik bereits mehr als 130.000 Menschen allein in Deutschland das Leben gekostet. Jeden Tag kommen zwischen 200 und 300 weitere Corona-Tote hinzu.

Ende Februar verkündete der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz mit der Einrichtung eines sogenannte „Sondervermögens Bundeswehr“ in Höhe von 100 Milliarden Euro die größte Aufrüstung des deutschen Militärs seit Hitler. Die Pläne, die jetzt mit Russlands Angriff auf die Ukraine gerechtfertigt werden, wurden in Wirklichkeit seit langem hinter dem Rücken der Bevölkerung ausgearbeitet. Bereits 2014 verkündete die Bundesregierung öffentlich die Rückkehr des deutschen Militarismus.

Dabei ging es nie um die Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten, wie die offizielle Propaganda glauben machen will, sondern immer um die Durchsetzung imperialistischer Interessen. Seit der deutschen Wiedervereinigung arbeitet die herrschende Klasse systematisch daran, Europa unter deutscher Führung zu organisieren, um seine globalen geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Putins reaktionärer Einmarsch in die Ukraine dient jetzt als Vorwand, um 80 Jahre nach dem deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, auch wieder gegen Russland vorzugehen.

Bezeichnenderweise wird die Kriegsoffensive von den nominell „linken“ Bundestagsparteien forciert. Die SPD stellt den Kanzler und führt das Verteidigungsministerium und die Grünen das Außen- und Wirtschaftsministerium. Und auch die Linkspartei, die auf europäischer Ebene mit Jean Luc Melenchons La France Insoummise verbunden ist, ist Teil der Kriegsallianz. Führende Vertreter der Partei unterstützen die Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine und trommeln sogar für die Wiedereinführung der Wehrpflicht.

Melenchons Versuch, die Unterstützung für ihn in der ersten Wahlrunde hinter Macron zu kanalisieren, entspricht der feigen und unterwürfigen Politik der Pseudolinken und der wohlhabenden Mittelschichten für die sie sprechen. Sie fürchten eine unabhängige revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus mehr als einen Rückfall in Weltkrieg und Barbarei.

Es ist klar, dass die Rückkehr Deutschlands zu einer aggressiven und hochgerüsteten Militärmacht auch die Spannungen zwischen den imperialistischen Mächten selbst auf die Spitze treiben wird – auch innerhalb Europas.

Le Pen hat in einem aktuellen Interview Deutschland als „das absolute Negativ der französischen strategischen Identität“ bezeichnet und für den Fall ihrer Wahl einen Abbruch der militärischen und politischen Zusammenarbeit angekündigt. Zwischen Paris und Berlin bestünden „unüberbrückbare strategische Differenzen“.

Die herrschende Klasse in Deutschland hofft auf einen Sieg Macrons als „kleineres Übel“, aber die Spannungen haben tiefe objektive Ursachen und würden sich auch unter seiner Präsidentschaft verschärfen. In einem aktuellen Artikel des Spiegel, der mehr oder weniger offen deutsche Atomwaffen und den Zugriff Berlins auf die „Force de frappe“ fordert, heißt es:

„Die Deutschen haben in der Vergangenheit eher durchwachsene Erfahrungen mit Macron und den Franzosen gemacht. Deutsche Diplomaten in New York haben erlebt, wie Paris einerseits öffentlich das Loblied auf die europäische Zusammenarbeit sang – in der UNO aber jeden Versuch hintertrieb, aus dem französischen Sitz im Sicherheitsrat einen europäischen zu machen. Bis heute gebe es von Macron kein echtes Angebot für eine nukleare Teilhabe, heißt es in Berliner Sicherheitskreisen.“

Deutschland und Frankreich haben in den letzten 150 Jahren drei verheerende Kriege gegeneinander geführt. 30 Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie sind alle ungelösten Probleme des 20. Jahrhunderts und die Gespenster der Vergangenheit zurück.

Die aktuelle Kriegsentwicklung bestätigt die historische Analyse der marxistischen Bewegung. Die europäische Bourgeoisie ist unfähig, Europa auf friedlichem Weg zu vereinen. „Ein einigermaßen vollständiger wirtschaftlicher Zusammenschluss Europas von oben herab, durch Verständigung zwischen kapitalistischen Regierungen ist eine Utopie“, schrieb der große russische Revolutionär und Gründer der Vierten Internationale Leo Trotzki bereits 1917.

Er erklärte die notwendige Vereinigung Europas „zu einer revolutionären Aufgabe des europäischen Proletariats in seinem Kampf gegen den imperialistischen Protektionismus und dessen Waffe, den Militarismus.“

Dies ist die Perspektive, die die trotzkistische Bewegung gegen die Sozialdemokratie und den Stalinismus verteidigt hat, und die jetzt unmittelbare Bedeutung erlangt. Die Frage von Krieg und Revolution rückt wie vor 100 Jahren wieder als konkrete Aufgabe auf die Tagesordnung. Dabei lässt sich die Vierte Internationale, um bei den Worten Trotzkis zu bleiben, nicht „von der Kriegskarte leiten, sondern von der Karte des Klassenkampfs“.

Die Proteste in Frankreich gegen Macron und Le Pen sind Teil eines europäischen und internationalen Aufschwungs des Klassenkampfs. Die zentrale Aufgabe ist es, sie mit einer klaren politischen Perspektive und Führung auszustatten. Das ist die Bedeutung des Aufrufs der PES für einen aktiven Boykott. Die große historische Aufgabe, mit der wir konfrontiert sind, liebe Genossinnen und Genossen, ist die Lösung der Krise der politischen Führung der Arbeiterklasse.

Ich rufe euch alle auf, euch dieser Aufgabe zu stellen und Mitglied der PES zu werden. Als französische Sektion der Vierten Internationale ist sie die einzige Partei in Frankreich, die die Kontinuität des revolutionären Marxismus verkörpert und das nun so dringend notwendige sozialistische Programm für die Arbeiterklasse vertritt.

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