Sinn Féin gewinnt Parlamentswahl in Nordirland

Bei der Wahl zur Northern Ireland Assembly (Nordirland-Versammlung) am 5. Mai hat die Partei Sinn Féin die meisten Stimmen erhalten und wird die meisten Sitze innehaben.

Damit hat zum ersten Mal seit der brutalen Teilung Irlands in den Jahren 1921–22 eine irisch-nationalistische Partei eine Wahl in den sechs Counties gewonnen, die ein Teil des Vereinigten Königreichs geblieben sind und deren politische Strukturen darauf ausgerichtet waren, die Vorherrschaft der pro-britischen unionistischen Parteien zu gewährleisten. Sinn Féin, die einst als politischer Flügel der aufgelösten Irish Republican Army (IRA) galt, hat sich verpflichtet, innerhalb von fünf Jahren eine Umfrage zur Grenze und zur Vereinigung Irlands durchzuführen.

Sinn Féin-Parteichefin Mary Lou McDonald und ihre Vizevorsitzende Michelle O'Neill im Jahr 2018 (Kelvin Boyes/Flickr)

Sinn Féin erhielt 250.388 bzw. 29 Prozent der Stimmen, die Democratic Unionist Party (DUP) 184.002 bzw. 21,3 Prozent. Sinn Féins Stimmanteil erhöhte sich im Vergleich zum Jahr 2017 um 1,1 Prozent, der Anteil der DUP sank um 6,7 Prozent. Sinn Féin erhielt 27 der 90 Sitze im Parlament, die DUP 24 Sitze. Obwohl sich die Gesamtzahl in der Endauszählung nicht erhöhte, bedeutet der Verlust von drei Sitzen der DUP, dass Sinn Féin einen Ersten Minister (First Minister) für die Regierung (Northern Ireland Executive) nominieren kann. Die Sinn-Féin-Parteichefin für Nordirland ist momentan Vizepräsidentin Michelle O'Neill, die seit ihrer Jugend Republikanerin ist.

Obwohl Sinn Féin nach Stimmen gewonnen hat, ist der Anteil der Stimmen für die unionistischen Parteien weitgehend gleich geblieben. Ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung ist weiterhin in Nationalisten und Unionisten sowie in Katholiken und Protestanten gespalten.

Gemäß den sektiererischen Regeln der geteilten Regierungsgewalt in Nordirland, die im Karfreitagsabkommen von 1998 festgelegt wurden, müssen sich die größten Parteien des unionistischen und des nationalistischen „Lagers“ auf eine neue Regierung einigen. Nordirland hatte keine handlungsfähige Regierung mehr, seit Paul Givan von der DUP im Februar von seinem Posten als First Minister zurückgetreten war. Der Schritt war Teil der Versuche der Partei, das Nordirland-Protokoll zu untergraben, das im Zuge von Großbritanniens Austritt aus der Europäischen Union (EU) ausgehandelt worden war.

Derzeit wird Nordirland von einer Übergangsregierung aus Ministern regiert, die keine neuen Gesetze und keinen neuen Haushalt verabschieden können. Sollte innerhalb von sechs Monaten keine neue Regierung gebildet sein, müssten entweder Neuwahlen stattfinden oder der Nordirlandminister der britischen Regierung, Brandon Lewis, müsste ein neues Abkommen zusammenschustern.

Der Grund für die Verluste der DUP ist neben der Ablehnung ihrer rechten, sektiererischen Perspektive ihre Unterstützung für den Brexit. Die DUP hat eng mit der Brexit-Fraktion der Tories in Westminster zusammengearbeitet, um die härtesten Brexit-Bedingungen durchzusetzen und die Regierung von Theresa May zu stützen. Nach Mays Sturz und Boris Johnsons Erdrutschsieg im Jahr 2019 hat dieser die DUP und die unerfüllbaren Versprechen ihnen gegenüber fallengelassen, von denen ein Tunnel nach Schottland nur das großspurigste war.

Die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland ist jetzt eine Grenze zur EU, allerdings noch eine unsichtbare. Um eine „wirkliche Grenze“ zu verhindern, müssen gemäß dem mit der EU ausgehandelten Nordirland-Protokoll bestimmte Waren – vor allem Nahrungsmittel und Medikamente, die vom britischen Festland nach Nordirland transportiert werden – geprüft und dokumentiert werden, was beträchtliche Kosten verursacht.

Diese Handelsbarriere in der Irischen See gilt Unionisten als tödliche Bedrohung für ihre Stellung in Großbritannien, obwohl sie selbst für ihre Entstehung mitverantwortlich sind. Das hat zu einer Verhärtung der Haltung der Unionisten geführt.

Der derzeitige DUP-Parteichef, Sir Jeffrey Donaldson, der sich mit 18 Jahren dem Ulster Defence Regiment angeschlossen hat, macht die Aufhebung des Protokolls und der Handelsbarriere in der Irischen See zur Grundvoraussetzung für eine Wiedereinberufung des Parlaments.

Letztes Jahr hatten die DUP-Führung, die Ulster Unionist Party (UUP), die Hardliner-Partei Traditional Unionist Voice (TUV) und die loyalistische Progressive Unionist Party eine gemeinsame Erklärung gegen das Nordirland-Protokoll veröffentlicht. Donaldson nahm an einer Reihe von Demonstrationen gegen das Protokoll teil und trat gemeinsam mit TUV-Parteichef Jim Allister, rechtsextremen loyalistischen Kommentatoren wie Jamie Bryson und Führern des Protestant Orange Order auf.

Einige Wahlkandidaten wurden Opfer von Einschüchterung und Gewalt durch loyalistische Kräfte. Die Kandidatin Hannah Kenny von People Before Profit (PBP) wurde in East Belfast am Genick gepackt und von drei Männern misshandelt. Elsie Trainer von der Social Democratic and Labour Party (SDLP) wurde angegriffen, nachdem sie zwei Jugendliche, die ihre Wahlplakate zerstört hatten, verfolgt und auf Video aufgenommen hatte.

Die UUP verlor einen ihrer zehn Sitze und erhielt nur 11,2 Prozent der Stimmen. Die TUV gewann nur einen Sitz, obwohl sich ihr Stimmenanteil auf 7,6 Prozent erhöht hat, größtenteils zu Lasten der DUP.

Die Johnson-Regierung könnte im Rahmen ihrer Fehde mit der EU um den Brexit bis zur Rede der Queen am nächsten Dienstag immer noch ein Gesetz einbringen, das das Protokoll einseitig außer Kraft setzen würde.

Weitere wichtige Veränderungen sind ein Stimmenanstieg für die Alliance Party, die 116.681 Erststimmen bzw. 13,5 Prozent erhalten hat, was 4,5 Prozentpunkte mehr bedeutet. Im Gegensatz zu Sinn Féin oder der DUP definiert sich die Alliance nicht als Repräsentant eines der nordirischen Lager unter dem sektiererischen Einstufungssystem, das im Rahmen des Karfreitagsabkommens eingeführt wurde. Scheinbar hat sie Stimmen aus der Wirtschaft und von kleinbürgerlichen Anhängern der großen unionistischen Parteien und der nationalistischen SDLP erhalten, die ebenfalls Stimmen an Sinn Féin verloren haben.

Die Alliance lehnte den Brexit ab, gab sich ein wirtschaftsliberales Image und konnte ihren Anteil im Parlament auf 17 Sitze verdoppeln. Die SDLP hat vier ihrer bisher elf Sitze verloren und kommt auf sieben. Die Alliance konnte auch zu Lasten der Grünen zulegen, die beide Sitze verloren haben.

Der Erfolg von Sinn Féin ist zum Teil auch ein Ausdruck der zunehmenden Klassenspannungen in ganz Irland. Ihre Wahlkampagne konzentrierte sich primär auf soziale Fragen. Auf diese Weise konnte die Partei von dem erbitterten Hass auf die Johnson-Regierung in Westminster profitieren, der sich durch die Pandemie weiter verschärft hat.

Sinn Féin hat jedoch keinem Teil der Arbeiterklasse einen Ausweg zu bieten. Sie gilt den rechten bürgerlichen Parteien im Süden zunehmend als tragfähiger Koalitionspartner und war bereits in der letzten Wahl stärkste Partei. Im Norden ist sie seit 2007 an der Macht und hat in enger Zusammenarbeit mit der DUP die von der britischen Regierung geforderten Austeritätsmaßnahmen umgesetzt. Ihre geplante Grenz-Umfrage ist ein Aufruf für ein vereinigtes kapitalistisches Irland. Sie ist nicht in der Lage, die sektiererischen Spaltungen zwischen katholischen und protestantischen Arbeitern zu bekämpfen, auf der Grundlage eines sozialistischen Aufrufs an die gemeinsamen Klasseninteressen und des Widerstands gegen die Bourgeoisie nördlich und südlich der Grenze.

Sinn Féin konnte auch Wähler der pseudolinken People Before Profit gewinnen. Obwohl PBP mit den bisher meisten Kandidaten angetreten war, ging ihr Anteil an den Erststimmen zurück. Ihr Manifest war nur eine etwas linkere Version von Sinn Féins eigener, an Stormont (Sitz der Nordirland-Versammlung) orientierten Politik. Doch genau wie ein Großteil der britischen Pseudolinken unterstützte PBP den Brexit und kritisierte nur den „Tory-Brexit“ der DUP. Nur ihr derzeitiger Abgeordneter Gerry Carrol wurde gewählt.

In den letzten Wochen hat sich der Klassenkampf in Nordirland dramatisch verschärft. Bei Tausenden von Arbeitern der Verkehrsbetriebe, der Kommunalbehörden, in der Industrie, dem Bildungswesen und der Gig-Economy gab es bei Urabstimmungen große Mehrheiten für Streiks. Viele Arbeiter, u.a. bei Caterpillar und den Bildungsbehörden, streiken gegen Lohnangebote unterhalb der Inflationsgrenze, und bei Translink wurde der größte Verkehrsstreik seit 20 Jahren in letzter Minute von den Gewerkschaften Unite und GMB abgesagt.

Auf der Straße vor der Wahlbehörde von Belfast protestierten Beschäftigte des öffentlichen Dienstes gegen das miserable Angebot einer 1,75-prozentigen Gehaltserhöhung. Das Manifest der PBP übte keine Kritik an der Rolle der Gewerkschaften bei der Unterdrückung des Klassenkampfs.

Die Streikwelle zeigt, dass es eine starke Basis für die Entwicklung der Arbeiterklasse zu einer unabhängigen politischen Kraft gibt. Doch dafür müssen die Arbeiter in Nordirland mit allen wirtschaftsfreundlichen Parteien brechen – mit unionistischen ebenso wie mit unabhängigen und irisch-nationalistischen Parteien. Das gleiche gilt für deren sektiererische Politik, ihre Unterstützung für den britischen Imperialismus oder den irischen Kapitalismus. Die Arbeiter müssen ihre Kämpfe gegen alle Angriffe auf ihren Lebensstandard vereinen. Alle Schichten und Berufsgruppen von Arbeitern müssen Aktionskomitees in allen Betrieben gründen und eine Socialist Equality Party in Irland aufbauen, um diesem wichtigen Kampf die notwendige politische Führung zu geben.

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