EU stoppt russische Ölimporte über Seeweg

Am Montag kündigte die Europäische Union im Rahmen des sechsten Sanktionspakets gegen Moskau ein Embargo für russische Ölimporte auf dem Seeweg an. Es gilt nicht für Ölimporte durch die Druschba-Pipeline, von der Abzweigungen durch Russland, die Ukraine und Belarus zu den Märkten in Ost- und Mitteleuropa führen.

Die Binnenstaaten Ungarn, Slowakei und Tschechien sind stark von Lieferungen über die Druschba abhängig. Ungarn bezieht beispielsweise 65 Prozent seines Öls über die Pipeline und hat seine Zustimmung zu einem vollständigen Verbot verweigert, das andere EU-Staaten gefordert haben.

Etwa zwei Drittel des russischen Öls, das Europa importiert, wird auf dem Seeweg geliefert. Vertreter der EU erklärten jedoch, man könne bis Ende des Jahres 90 Prozent aller Importe stoppen, weil Deutschland und Polen sich verpflichtet haben, auf Pipelinelieferungen zu verzichten. Laut einer Schätzung von Bloomberg wird das Embargo der russischen Wirtschaft einen Schaden in Höhe von 22 Milliarden Dollar verursachen. Einige russische Quellen stimmen dem zu, andere behaupten, es werde keine Auswirkungen haben, weil Moskau andere Käufer finden wird.

In der Einigung, die während des zweitägigen EU-Gipfels ausgehandelt wurde, ist keine Frist festgelegt, bis wann auch die russischen Ölimporte durch die Druschba-Pipeline eingestellt werden müssen. Vertreter der EU machten deutlich, dass sie sich nicht mit 90 Prozent zufrieden geben, sondern einen vollständigen Importstopp anstreben und versuchen werden Ungarn, die Slowakei und Tschechien in den kommenden Monaten dazu zu drängen. Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen erklärte am Montag in Bezug auf die Ausnahmeregelungen für diese Staaten, auf dieses Thema werde man zurückkommen und noch daran arbeiten müssen.

Das Embargo ist zwar noch nicht formell ratifiziert, wird aber den finanziellen Druck auf Russland verschärfen und obendrein in Europa und der Welt die Preise weiter durch die Decke treiben. Die Kosten dafür wird die Arbeiterklasse tragen.

Am gleichen Tag, an dem das Ölembargo verkündet wurde, berichteten die Medien, dass die Inflation in Europa im Mai mit 8,1 Prozent deutlich höher ausgefallen ist als erwartet. In vielen Ländern liegt sie um das Eineinhalbfache über diesem Durchschnittswert – in Estland bei 20 Prozent, in Litauen bei 18,5 Prozent, in Lettland bei 16,4 Prozent und in Polen bei 13,9 Prozent. In Großbritannien wird sie vermutlich auf zehn Prozent steigen. Lebensmittel und Treibstoff sind überall die größten Treiber der Inflation.

Da russisches Öl 30 Prozent der gesamten Versorgung Europas abdeckt, löst das Importverbot Spannungen innerhalb der EU aus. In Ungarn würde die Umstellung der Raffinerien auf Lieferungen aus anderen Ländern zwischen 500 und 700 Millionen Euro kosten. Ministerpräsident Viktor Orban veröffentlichte auf Facebook ein Video, in dem er versuchte, die Bevölkerung zu beruhigen und erklärte: „Wir haben den Vorschlag des Europäischen Rats, der Ungarn die Verwendung von russischem Öl untersagt hätte, erfolgreich zurückgewiesen.“

Die Presse wies in ihren Berichten über die „vorläufigen“ Ausnahmen für die drei Länder auch auf Bedenken innerhalb der europäischen Elite hin, dass diese Staaten jetzt einen beträchtlichen Vorteil über andere EU-Mitgliedsstaaten erlangen können, weil sie dadurch Zugang zu russischem Öl haben, das momentan zu stark reduzierten Preisen verkauft wird. Der Rest der EU wird gezwungen sein, auf dem Weltmarkt zu kaufen, wo die Preise in die Höhe schießen.

Der Preis für ein Barrel Rohöl der Marke International Brent stieg nach der Ankündigung des Embargos auf 123,48 Dollar und könnte noch weiter ansteigen. In Westafrika und Aserbaidschan steigen die Preise für Öl sehr stark, da die Staaten nach neuen Bezugsquellen suchen.

Laut Financial Times erwägt die Europäische Kommission Einfuhrzölle auf russisches Öl, falls sich Ungarn, Tschechien und die Slowakei nicht auf ein endgültiges Datum festlegen, an dem sie die Belieferung über die Druschba-Pipeline einstellen. Durch diese Maßnahme müssten die Länder mehr für das Öl zahlen. Das würde keinen einstimmigen Beschluss der EU erfordern, sodass die Einsprüche von Orban und den anderen übergangen werden könnten. Die Folge wären jedoch schwere innereuropäische Konflikte.

Im Vorfeld der EU-Verhandlungen über das jüngste Sanktionspaket äußerte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der Mann der CIA in Kiew, seine Frustration über die Tatsache, dass seiner Meinung nach – und nach Ansicht der USA – „zweitrangige“ Staaten die finanzielle Bestrafung Russlands behindern können: „Natürlich bin ich unseren Freunden dankbar für die neuen Sanktionen, die sie vorschlagen. Aber woher haben diejenigen, die das sechste Paket blockieren, so viel Macht? Warum dürfen sie so viel Macht haben, sogar über innereuropäische Vorgänge?“

Ein Artikel der BBC schilderte die Pläne der EU, um den derzeitigen Stopp russischer Öllieferungen sowie den künftigen Stopp von Gaslieferungen zu bewältigen. Diese Pläne umfassen verbesserte Isolierungen von Gebäuden, die Förderung grüner Energie, Ölimporte aus Ägypten, Israel und Nigeria, den Bau von Pipelines und Flüssiggas-Terminals sowie Aufrufe an Verbraucher, weniger Gas zu verbrauchen.

Die Umsetzung dieser Maßnahmen – abgesehen von der möglichen Verringerung des Privatkonsums – wird jedoch Jahre dauern. Eine schnelle Umsetzung würde die Treibstoffkosten so in die Höhe treiben, dass die Bevölkerung es sich nicht mehr leisten könnte, ihre Autos vollzutanken und die Heizung oder den Herd einzuschalten. Mit anderen Worten, es würde massive soziale Konflikte auslösen.

Das Wall Street Journal (WSJ) schrieb am 31. Mai: „In normalen Zeiten ist es schwer, das Verhalten der Verbraucher zu ändern, aber es gibt Präzedenzfälle für kollektives Handeln in nationalen Notfällen. Die europäischen Haushalte könnten einen überraschend fruchtbaren Boden liefern, wenn sie von den hohen Energiekostenrechnungen in Bedrängnis gebracht und durch den Krieg in der Ukraine erschüttert werden.“ Als Beispiel für das Vorgehen, das die EU erwägen sollte, nannte die Zeitung die Politik des „Legt euch einen eigenen Garten für den Sieg an“, was dabei half, die Ernährungslage der USA während des Zweiten Weltkriegs sicherzustellen. Zweifellos würde das WSJ mit einer Schlagzeile darüber berichten, wenn Millionen kriegsbegeisterter europäischer Haushalte Ölquellen in ihren Hinterhöfen finden würden.

Abgesehen von dem Embargo für russische Öllieferungen auf dem Seeweg verbietet das jüngste Sanktionspaket drei weitere russische Sender und schließt die Sberbank, an welcher der russische Staat einen Mehrheitsanteil besitzt, aus dem internationalen Finanzsystem SWIFT aus. Um Russlands Versuche zu sabotieren, das bisher an den europäischen Markt gelieferte Öl anderweitig zu exportieren, verbietet es Versicherern, Policen für Öllieferungen an andere Länder auszustellen. Letztere Sanktion wird gestaffelt in den kommenden sechs Monaten in Kraft treten, da Griechenland, Zypern und Malta – drei große Akteure der globalen Reedereiindustrie – gegen den Schritt protestiert haben, der ihnen schwere Verluste einbringen könnte.

Gleich nach der Ankündigung des Embargos am Montag wurden Forderungen nach weiteren Maßnahmen laut, um Russland als globalen Energieproduzenten abzuwürgen. Der polnische Ministerpräsident erklärte am Dienstag, Nicht-EU-Staaten wie Indien sollten dazu gebracht werden, kein russisches Öl mehr zu kaufen. Indien, China und andere asiatische Staaten haben einen Großteil der neu verfügbaren russischen Bestände aufgekauft. Das geschah in einem solchen Ausmaß, dass Russland Rekordeinnahmen erzielte, obwohl es seine Waren unter Marktpreisen verkaufen muss. Versuche, Peking und Neu-Delhi vom russischen Öl- und Gasmarkt auszuschließen, wird geopolitisch und wirtschaftlich brisante Folgen haben.  

Innerhalb der EU mehren sich auch die Forderungen nach einem Embargo für russisches Gas, das 40 Prozent der europäischen Gesamtlieferungen ausmacht. Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas betonte am Dienstag, dies müsse in der nächsten Sanktionsrunde enthalten sein, obwohl der österreichische Kanzler Karl Nehammer den Vorschlag sofort zurückwies, da er nicht zur Diskussion stehe.

Der Kreml ergreift bereits Gegenmaßnahmen gegen Brüssel. Am Mittwoch stellte Gazprom die Lieferungen an das dänische Gasunternehmen Orsted und Shell ein, die einen Vertrag mit einem deutschen Unternehmen über 1,2 Milliarden Kubikmeter Gas abgeschlossen hatten. Gazprom hat bereits die Lieferungen an die Niederlande, Finnland, Bulgarien und Polen eingestellt. Die EU behauptet, sie könne innerhalb eines Jahres zwei Drittel der russischen Gaslieferungen ersetzen. Was in der Zwischenzeit passiert und woher sie das restliche Drittel beziehen will, ist noch unklar.

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