Perspektive

Das Schulmassaker von Uvalde und die pathologische Gewalt der amerikanischen Gesellschaft

Der Amoklauf an einer Schule in Uvalde, Texas, am 24. Mai hat viele Diskussionen ausgelöst. Das Ausmaß des Schreckens und des öffentlichen Aufschreis nach der Ermordung von 19 Grundschülern und zwei Lehrerinnen deutet darauf hin, dass ein Wendepunkt erreicht ist.

Viele Menschen in den USA und anderswo stellen sich Fragen. Wie konnte so ein Massaker an kleinen Kindern überhaupt geschehen? Eltern sind in der unmöglichen Lage, ihren eigenen Kindern – und potenziellen Opfern – erklären zu müssen, warum es zu solchen Taten kommt.

Gleichzeitig weiß jeder, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Bilder über den nächsten, möglicherweise noch schlimmeren Amoklauf über die Fernseh- und Computerbildschirme flimmern. Fragt sich nur wo, wann und wie viele Opfer. Und danach folgt wieder ein Amoklauf. Das ängstliche Warten auf das nächste Massaker ist in Amerika zum Alltag geworden.

Das Massaker von Texas, das Unschuldige aus dem Leben gerissen hat, offenbart einen zutiefst krankhaften Zustand der amerikanischen Gesellschaft. Millionen Menschen versuchen aufrichtig zu verstehen, wie die gegenwärtigen Verhältnisse in diesem Land einen Teil der Bevölkerung auf so mörderische Weise aus der Bahn werfen. Es findet eine wachsende Politisierung und Radikalisierung statt.

Doch die meisten ziehen noch nicht die Verbindung zwischen der offiziellen Gewalt – den endlosen Kriegen und den Drohungen mit neuen und größeren Kriegen, den ständigen Polizeimorden, einer Million Tote in der Pandemie, die von den Herrschenden mit völliger Gleichgültigkeit betrachtet werden – und der Art und Weise, wie psychisch labile Menschen diese Gewalt erleben, aufnehmen und sogar reproduzieren.

Die „Anfälligkeit“ für psychische Störungen wird bedingt durch die politische und wirtschaftliche Lage sowie durch das gesellschaftliche und kulturelle Klima. Dies ist nicht die erste gewalttätige Phase in der amerikanischen oder der Weltgeschichte. Was bei manchen jungen Menschen eine wirklich schädliche „doppelte Verzweiflung“ hervorruft, ist die Kombination aus ihren eigenen, scheinbar miserablen persönlichen Aussichten und dem öden, widerwärtigen Zustand des öffentlichen Lebens, das sie vor sich sehen.

Das Fehlen einer progressiven sozialen Massen- oder Antikriegsbewegung – und sei es nur eine reformistische – hat weitreichende Folgen. Die meisten Menschen, mit Ausnahme einiger weniger, leben nicht für die Börsenkurse oder die neueste militärische Ausrüstung. Die herrschende Klasse bildet sich ein, dass sie mit endlosen Taschenspielertricks auskommen kann. Die Demokratische Partei bietet einen afroamerikanischen Kandidaten, der einen historischen Wandel verkündet; eine weibliche Kandidatin, die angeblich für die unterrepräsentierte Hälfte der Bevölkerung spricht; einen „ehrlichen Joe“, der die radikalste Regierung seit dem New Deal verspricht. Jede dieser Lügen hat den Zynismus und die Desillusionierung nur noch vertieft.

Die Medien registrieren die Empörung der Bevölkerung über die Tat des Amokläufers in Uvalde und versuchen, sie in eine beschränkte und rückständige Richtung zu lenken. Wenn es jedoch um die militärische Gewalt der USA im Irak oder in Afghanistan oder um ihren Stellvertreterkrieg in der Ukraine geht, schlagen Presse und Fernsehen einen anderen Ton an. Dann geht die Verherrlichung des Tötens und Sterbens ununterbrochen weiter, und das nicht nur in den faschistoiden Murdoch-Sendern.

Die New York Times veröffentlichte kürzlich einen jener typischen blutrünstigen Artikel unter der Überschrift „Die Pflege von Russlands Toten, die sich in der Ukraine stapeln“. Der Artikel, der sich sichtlich am Gemetzel ergötzt, beschreibt die Bemühungen eines ukrainischen Soldaten, die Leichen russischer Kriegstoter einzusammeln.

„Das ist die beste Arbeit der Welt“, so der anonyme Soldat in der Times, „die grimmige Befriedigung, die man beim Einsammeln der Leichen der Angreifer findet“. Business Insider, die Website für Finanz- und Wirtschaftsnachrichten, berichtete kürzlich: „Ein ukrainischer Soldat in einer befreiten Stadt sagte, das Töten russischer Soldaten sei jetzt ‚wie ein Sport‘.“ Dies spiegelt nur die US-Propaganda über ihre neokolonialen „Befreiungs“-Interventionen im Nahen Osten und in Zentralasien wider, die mit Gräueltaten, Folter und Massentötungen gespickt sind.

Warum sollte man annehmen, dass die tägliche Verherrlichung des Abschlachtens anderer Menschen als legitime und sogar vorzuziehende Lösung für schwierige Probleme nicht auf Menschen einwirkt, die sich in einer aus ihrer Sicht unlösbaren persönlichen Situation befinden?

Das Massensterben wurde auch in den letzten zwei Jahren durch die Corona-Pandemie „normalisiert“. Man hat der Bevölkerung auf Schritt und Tritt gesagt, dass sie mit der Pandemie „leben lernen“ müsse, dass sie sich jede Sentimentalität gegenüber den Kranken und Toten „abgewöhnen“ solle. Die Times, das Wall Street Journal und die anderen Zeitungen haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Sicherung der Profite und Konzerne als dringendstes Problem darzustellen. Auch hier stellt sich die Frage, welche zersetzenden Auswirkungen diese ständige Abwertung des menschlichen Lebens, die selbstgefällige Akzeptanz, dass viele alte, arme und gefährdete Menschen dem Virus zum Opfer fallen werden, auf das Gefüge und die Qualität des öffentlichen Lebens haben.

Gleichzeitig macht das Uvalde-Massaker die herrschende Elite nervös. Schließlich stellt es Amerika in ein negatives Licht. Auf der Website von NBC News kommentierte Jacob Ware, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Terrorismusbekämpfung beim Council on Foreign Relations, am 29. Mai unverblümt: „Der Amoklauf an der Schule untergräbt die USA sowohl in den Augen ihrer Verbündeten als auch ihrer Gegner, schadet ihrer Fähigkeit, in Fragen der Menschenrechte eine Führungsrolle zu übernehmen, und macht sie anfälliger für feindliche Propaganda... Die Schießerei vom Dienstag ist besonders geeignet, das Ansehen Amerikas zu beschädigen, wenn es sich gegen russische Gewalt gegen Kinder in der Ukraine ausspricht.“

Geleitet von dieser allgemeinen Besorgnis versuchte die Washington Post in einem Leitartikel am selben Tag, die Aufmerksamkeit von Amerikas krankem Zustand abzulenken. Sie beschrieb die Ereignisse in Uvalde als Teil eines universellen, wohl unerklärlichen Prozesses, bei dem „junge Leben“ abgekürzt werden. Junge Menschen, so die Post, „werden ihres Lebens und ihrer Zukunft beraubt – durch Vernachlässigung, Gier, orchestrierten Hass oder wahnhafte Aggressionen – von der Ukraine bis Uvalde, Tex.“

In der Tat gibt es eine Verbindung zwischen den Toten in Uvalde und denen in der Ukraine, wo ein Krieg tobt, der absichtlich provoziert und nun von Washington angeheizt wird. Aber dieser Zusammenhang wird von der Post, die einem der reichsten Männer der Welt gehört, nicht ausgesprochen: Beide Tragödien wurzeln in dem brutalen, verfallenen Zustand des amerikanischen Kapitalismus und dessen endloser Gewalt im In- und Ausland.

Die Äußerungen von Experten des Establishments über den Amoklauf in Uvalde sind so banal und verlogen wie eh und je. Die herrschende amerikanische Elite wird sich nicht freiwillig die eigenen Krallen abschneiden – sie ist nicht einmal in der Lage, sie anzuerkennen.

Ein Großteil der Aufmerksamkeit wurde auf die Untätigkeit und Inkompetenz der Strafverfolgungsbehörden in Uvalde gelenkt. Während die Medien diese Frage zweifellos nutzen, um von anderen beunruhigenden Phänomenen abzulenken, hat dieser Aspekt der Katastrophe sowohl die Familien in der Stadt als auch breitere Schichten der Bevölkerung zu Recht empört.

Wie der Hurrikan Katrina und zahllose Natur- und soziale Katastrophen in den letzten zwei Jahrzehnten gezeigt haben, ist der riesige Militär- und Polizeiapparat, der durch den „Krieg gegen den Terror“ und den Aufbau der „Homeland Security“ bis zur Unkenntlichkeit aufgebläht wurde, im Allgemeinen nutzlos, wenn es um den Schutz der Bevölkerung geht. Das ist nicht sein Zweck. Dieser Apparat taugt in den USA wie auch auf der ganzen Welt in der Regel nur zur Unterdrückung, vor allem zum Ermorden armer und wehrloser Menschen, die kaum oder gar nicht bewaffnet sind.

Diese soziale Realität zeigte sich in einer bitteren Beschwerde einer Mutter aus Uvalde, die von US-Marshals verhaftet und in Handschellen gelegt wurde, nachdem sie die Polizei aufgefordert hatte, etwas gegen das anhaltende Massaker zu unternehmen. Sie habe gesehen, wie andere Eltern zu Boden gedrückt, mit Pfefferspray besprüht und getasert worden seien. „Das haben sie nicht mit dem Schützen gemacht, sondern mit uns“, sagte sie. „So hat es sich angefühlt.“

Die amerikanische Gesellschaft wird von einer niederträchtigen, raffgierigen und ignoranten herrschenden Klasse regiert. Jeder ehrliche Amerikaner hasst die politischen Führer der beiden großen Parteien ebenso wie die Banker und Konzernchefs. Die Medien existieren nur, um ihr Gift zu versprühen, ernsthaftes Denken zu ersticken und kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen oder zu übertönen.

Aber Massen von Menschen, die eine erschütternde Erfahrung nach der anderen machen, haben jetzt genug.

Unaufhaltsam und organisch entsteht eine Bewegung, die den korrupten Status Quo durchbrechen will. Einen ersten Ausdruck findet sie in der Ablehnung der Arbeiter von Tarifverträgen, die ihnen die Gewerkschaften, die kriminellen Komplizen der Finanzoligarchie, aufzuzwingen versuchen.

Die weit verbreitete Wut und Abscheu sind eine notwendige und begrüßenswerte Entwicklung. Sie zeigen bereits, dass politischer Pessimismus ungerechtfertigt und völlig reaktionär ist. Aber diese gesunde Reaktion muss auf ein höheres Niveau gehoben werden und einen bewusst radikalen und gegen das Establishment gerichteten Charakter annehmen. Dafür ist es notwendig, ein sozialistisches Verständnis zu entwickeln und mehr Einfluss in der Arbeiterklasse zu gewinnen. Wenn Massen von Menschen die Grundlagen des Kapitalismus in Amerika in Frage stellen und sich dagegen wehren, ist ein großer Schritt getan.

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