Perspektive

Jenseits der offiziellen Klischees: Der Amoklauf in Texas offenbart die fortgeschrittene Krankheit der amerikanischen Gesellschaft

Die Ermordung von 19 Kindern und zwei Lehrerinnen und die Verwundung von 17 weiteren Menschen in der Robb Elementary School in Uvalde, Texas, am Dienstag war ein wirklich entsetzliches Ereignis. Die getöteten Schüler waren neun, zehn und elf Jahre alt und besuchten die zweite, dritte und vierte Klasse. Die getöteten Erwachsenen, beides Frauen, waren Lehrerinnen der vierten Klasse. Der Täter verbarrikadierte sich in einem Klassenzimmer und eröffnete das Feuer mit einem leichten halbautomatischen Gewehr, das er eine Woche zuvor, einen Tag nach seinem 18. Geburtstag, erworben hatte.

Hunderte, wenn nicht Tausende von Menschen werden sich von dem Schaden, der allein durch diesen einen Vorfall entstanden ist, nie wieder erholen.

Die amerikanische herrschende Elite, ihre Politiker und ihre Medien, haben nichts Aufschlussreiches oder Nützliches zu dieser jüngsten Katastrophe zu sagen. Je nach Parteizugehörigkeit und dem Grad der individuellen Ignoranz plädieren sie für schärfere Waffengesetze, mehr polizeiliche Repression oder eine Rückkehr zur Gottgläubigkeit.

Absperrband am Tatort umgibt die Robb Elementary School in Uvalde, Texas, Mittwoch, 25. Mai 2022 (AP Photo/Jae C. Hong) [AP Photo/Jae C. Hong]

Man hatte das Gefühl, selbst Präsident Joe Biden habe erkannt, dass die übliche Auswahl an Klischees die Menschen nur verärgern würde und er vielleicht besser den Mund halten sollte. Biden verwies kurz auf die Tatsache, dass „diese Art von Amokläufen nur selten irgendwo anders auf der Welt vorkommen.“ Auch Menschen in anderen Ländern, sagte er, „haben Probleme mit der psychischen Gesundheit. Es gibt innenpolitische Konflikte in anderen Ländern. Es gibt Menschen, die sich verirrt haben“, aber solche Morde „passieren [anderswo] nie mit der Häufigkeit, mit der sie in Amerika vorkommen. Warum?“ Natürlich war er nicht in der Lage, seine eigene Frage zu beantworten, außer mit dem Verweis auf die „Waffenlobby“, was exakt gar nichts erklärt.

Uvalde ist eine Stadt mit 15.000 Einwohnern, 80 Prozent davon Hispanics oder Latinos, viele von ihnen arm; sie liegt 80 Meilen westlich von San Antonio und 55 Meilen östlich der Grenze zwischen Mexiko und den USA. Doch es gibt keine Kategorie aus Größe, Geographie, Wirtschaftskraft oder ethnischer Zugehörigkeit für die Vorhersagbarkeit eines solchen Verbrechens.

Amokläufe und andere Formen antisozialer Gewalt sind in der amerikanischen Gesellschaft allgegenwärtig.

Die statistischen Beweise sind überwältigend und erschreckend. Das Gun Violence Archive hat in den ersten fünf Monaten des Jahres 2022 bereits 214 Amokläufe registriert – darunter neun in der vergangenen Woche, in neun verschiedenen Bundesstaaten. Insgesamt sind in diesem Jahr bisher mehr als 17.000 Menschen durch Waffengewalt ums Leben gekommen, davon etwa 7.600 durch Tötungsdelikte und 9.600 durch Suizid.

Auf der anderen Seite listet der Mass Shooting Tracker – welch armes Land, das solche Messungen braucht! – 253 Amokläufe im Jahr 2022 auf; das sind 1,73 pro Tag, bei denen 303 Menschen getötet und 1.029 verletzt wurden.

Derselben Quelle zufolge hat letzte Woche in Pell City (Alabama) ein Bewaffneter „seine Frau und seine beiden Töchter im Alter von 13 und 16 Jahren erschossen“ und ist „an den Folgen einer selbst zugefügten Schussverletzung gestorben.“ Bei einem anderen Vorfall am 21. Mai in Goshen (Indiana) „erschoss der Bewaffnete vier Geschwister, tötete einen 17-jährigen Jungen und verletzte mindestens zwei weitere Jugendliche.“ Der Täter wurde dann „getötet.“

Andere Zahlen sind ebenfalls bemerkenswert. Die Selbstmordrate in den USA ist zwischen 1999 und 2019 um 33 Prozent gestiegen. „Im Jahr 2020 gab es fast 46.000 Todesfälle durch Selbstmord, was ihn zur zwölfthäufigsten Todesursache in den Vereinigten Staaten macht. Nach Angaben der Substance Abuse and Mental Health Services Administration (SAMHSA) haben im selben Jahr 12,2 Millionen Erwachsene ernsthaft über Selbstmord nachgedacht, 3,2 Millionen einen Plan gefasst und 1,2 Millionen einen Selbstmordversuch unternommen“ (zitiert aus Amerikas Gesundheitsrankings).

Die Gewalt gegen sich selbst und gegen andere nimmt in jeglicher Hinsicht zu. Im Jahr 2021 starben in den USA rund 108.000 Menschen an einer Überdosis Drogen, was ebenfalls einen starken Anstieg bedeutet. Die National Highway Traffic Safety Administration schätzt, dass im Jahr 2021 43.000 Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen sind, was einem Anstieg von 10,5 Prozent gegenüber 2020 entspricht. Die Covid-19-Pandemie ist das Ergebnis einer mörderischen Regierungspolitik und hat seit Anfang 2020 zum Tod von mehr als einer Million Männern, Frauen und Kindern in den USA geführt.

Kein ehrlicher Beobachter könnte angesichts dieser Zahlen und der enormen menschlichen Tragödie, die daraus hervorgeht, zu dem Schluss kommen, dass es sich bei dem Vorfall in Uvalde und anderen ähnlichen Vorfällen lediglich um isolierte Einzelereignisse handelt. Vielmehr offenbaren sie eine weitreichende, weit fortgeschrittene soziale Krankheit.

„Der Verdächtige [in Uvalde] besuchte eine örtliche High School und lebte bei seinen Großeltern“, berichtet CNN typisch unaufgeregt. „Er hatte keine Freunde, war nicht vorbestraft und gehörte keiner Gang an. ... Er arbeitete die Tagesschicht in einem örtlichen Wendy's [Schnellrestaurant]; der Manager des Restaurants bestätigte, dass er die meiste Zeit mit sich selbst verbracht hat.“ Es gab keine offensichtlichen Warnzeichen, bis es zu spät war.

Im April feuerte ein Mann in New York City Dutzende von Schüssen in einen U-Bahn-Wagen ab und verletzte zehn Menschen. Im Januar wurde eine Frau in New York auf die Gleise der U-Bahn gestoßen und starb. Am vergangenen Sonntag erschoss ein Bewaffneter einen 48-jährigen Angestellten von Goldman Sachs „ohne Provokation“, während der Mann „in einer U-Bahn in Manhattan zum Brunch fuhr“, wie die Polizei mitteilte. „Völlig zufällig“, fügten die Polizisten hinzu.

Jedes Jahr gibt es Tausende solcher „zufälligen“ Ereignisse. Einen wildfremden Menschen von einem U-Bahnsteig zu stoßen – wie ist so etwas in einer modernen Gesellschaft möglich?

Doch in einer Gesellschaft im Krieg mit sich selbst, einer wütenden Gesellschaft mit einem hohen Maß an entpersonalisiertem Hass …

Die sozialen Bedingungen, einschließlich der Ungleichheit und der Konzentration des immensen Reichtums in wenigen Händen, die endlosen Kriege, die Brutalität und die Morde durch die Polizei, die gleichgültige offizielle Reaktion auf die tödliche Pandemie, all dies bildet die große Bühne.

Es ist jedoch notwendig, konkret zu werden, geschichtlich und gesellschaftlich. Das Ausmaß und die Vielfalt der Feindseligkeiten und Ressentiments haben sich nicht nur spontan, aufgrund der sozialen Krise oder gar des Ausbruchs staatlicher Gewalt entwickelt. Die spezifische Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten muss ihre Berücksichtigung finden.

Erstens hat sich das US-Establishment im Rahmen seiner Selbsterhaltungsbemühungen auf das Schüren von Antagonismen – nach Hautfarbe, Herkunft, Religion, Politik und mehr – spezialisiert. Die Regierung und ihre Komplizen in den Medien sind ständig auf der Suche nach Sündenböcken, um die Atmosphäre zu vergiften. Die „Japsen“, die „Kommunisten“, die „illegalen Einwanderer“, die „Pädophilen“, die „arabischen Terroristen“ – die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.

Jetzt gerade liegt die Ursache für Amerikas Probleme natürlich bei „den Russen.“ Könnte man doch nur die Bühnen, Stadien und den Äther dieses Landes von russischen Opernsängern, Musikern, Popkünstlern, Sportlern und anderen befreien, dann würde das Leben wieder zu seiner früheren Unberührtheit und Idylle zurückkehren. Es wird ständig versucht, die Bevölkerung darauf zu konditionieren, Ereignisse und Probleme in Form von persönlichen Feinden zu sehen. Jeder Mensch ist eine Insel!

Man nehme die Äußerungen von James G. Stavridis, Admiral der US-Marine im Ruhestand, derzeit stellvertretender Vorsitzender für globale Angelegenheiten und geschäftsführender Direktor der mächtigen globalen Investmentfirma Carlyle Group, ebenso Vorsitzender des Kuratoriums der Rockefeller Foundation und Befürworter einer militärischen Aggression gegen Russland und China. Am Donnerstag äußerte er sich wie folgt auf Twitter: „Wenn Du erst 18 bist und unbedingt ein Sturmgewehr in die Hände bekommen willst – melde dich beim @USMC [US Marine Corps]. Wenn du reinkommst, wird man dir beibringen, wie man es benutzt, um das Land zu schützen – und nicht, um seine Kinder zu bedrohen.“

Das kriminelle Schüren und Manipulieren von Ressentiments gegenüber vermeintlichen äußeren und inneren Peinigern geht in gefährlicher Weise einher mit einem hohen Maß an sozialer Entfremdung.

Das hat sich in den letzten Jahrzehnten verschlimmert, ist aber kein neues Phänomen. Seit dem Start der WSWS im Jahr 1998, der mit einer der ersten Wellen von Amokläufen an amerikanischen Schulen zusammenfiel, und noch vor dem Columbine-Massaker im April 1999, haben wir auf diesen Trend hingewiesen und davor gewarnt.

Ende Mai 1998, nach einem Amoklauf in Springfield (Oregon) und einer Reihe weiterer Vorfälle, veröffentlichte die WSWS einen Artikel mit der Überschrift „Entfremdung, Adoleszenz und Gewalt“. Wir erklärten, dass man der Wahrheit über diese Tragödien nicht näher kommen würde, wenn man sie nicht „als das Ergebnis einer komplexen Interaktion zwischen dem gesellschaftlichen Leben und der individuellen Psychologie“ betrachten würde.

Wir stellten fest, dass eine konzertierte ideologische Kampagne gegen die Vorstellung geführt wurde, dass die Umwelt eine bedeutende Rolle bei der Formung des Individuums spielt, einschließlich der kriminellen und der emotional gestörten Person. „Stattdessen“, schrieb die WSWS, „wird das Modell des isolierten Individuums propagiert, das sich in der Welt völlig allein durchschlagen muss und dessen Wert als Mensch durch den Erfolg bestimmt wird, den es beim Verkauf seiner Fähigkeiten auf dem Markt hat.“

Vor fast genau 24 Jahren wies die WSWS darauf hin, dass die Entfremdung in den sozialen Beziehungen „einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Was bedeutet das konkret? Der Einzelne fühlt sich zunehmend von seinen Mitmenschen abgeschnitten und nimmt andere Menschen als fremd und sogar feindlich wahr. Was braucht es, um einen anderen Menschen oder eine Gruppe von Menschen zu töten, wie es in Oregon geschehen ist? Der Jugendliche [in Springfield] schoss Berichten zufolge vier Kugeln in den Körper eines Mitschülers, der ihm zu Füßen lag. Das muss bedeuten, dass er sein Opfer nicht mehr als jemanden wie ihn selbst, als seinesgleichen erkannte. Ohne es natürlich bewusst zu wollen, hat die offizielle Gesellschaft solche Geisteshaltungen gefördert.“

Es wurden alle Anstrengungen unternommen, so der Artikel weiter, „um eine seelenlose Gesellschaft zu kultivieren, die ausschließlich von Geld und Profit beherrscht wird, um die elementare Sorge eines Menschen für den anderen auszulöschen. Das intellektuelle Leben, die Kultur, das Streben nach Wissen zum Wohle der gesamten Menschheit, werden gering geschätzt. Individualismus, Habgier und Rücksichtslosigkeit werden verehrt. Dies hat sich erheblich auf die Qualität der menschlichen Beziehungen ausgewirkt.“

Es gibt nichts, was man von diesen Äußerungen zurücknehmen müsste. Im Gegenteil, alle rückläufigen Tendenzen haben sich in den letzten Jahrzehnten vertieft und verschlimmert. In der Mitte der amerikanischen Gesellschaft klafft ein immer größer werdendes politisches, moralisches und kulturelles Vakuum. Die Bevölkerung sieht sich einer verzweifelten sozialen Lage gegenüber, ohne dass ihr geholfen wird, und die herrschende Oligarchie macht aus ihrer sozialen Gleichgültigkeit eine provokative Plattform, indem sie ständig und öffentlich alles tut, um die Empathie zu untergraben.

Während der Covid-19-Pandemie hat die offizielle Politik darauf hingewirkt, dass sich die Menschen weniger Gedanken darüber machen, ob sie die Krankheit bekommen – oder ob sie sie auf andere übertragen. Bei einigen hat sich ein beunruhigender Fatalismus eingestellt. Solidaritätsbezeugungen werden als ein Zeichen von Schwäche angesehen. Viele sind einfach nicht in der Lage, die komplexen medizinischen und psychologischen Probleme zu bewältigen, die die Pandemie mit sich bringt.

Und die amerikanische herrschende Klasse wagt es, dem Rest der Welt vorzuschreiben, wie er zu leben hat!

Der US-Kapitalismus hat sich selbst erschöpft, er ist unheilbar krank und es gibt keinen Arzt, der im Establishment oder in seinem Umfeld zu finden wäre. Unter dem Eindruck von Ereignissen wie der Katastrophe von Uvalde entwickelt sich das Gefühl, dass es so nicht weitergehen kann. Der Gedanke mag noch nicht politisch oder gesellschaftlich artikuliert sein, aber die Masse der Menschen denkt: „Das geht zu weit. So kann es nicht weitergehen.“

Gleichzeitig mögen viele Menschen aber vielleicht auch denken: „Es scheint keinen Ausweg zu geben.“ Aber das Leben, die objektiven Bedingungen sind in Bewegung, verändern sich, reifen heran.

Was wird die Dinge verändern? Vor allem das Entstehen einer sozialen Bewegung, die entschieden gegen das Establishment und den Kapitalismus gerichtet ist. Eine solche Bewegung bietet ein fortschrittliches, gesundes Ventil für die kollektive Wut. Es ist nicht nur eine Frage der Argumentation, eine solche Bewegung entsteht aus der Erfahrung breiter Schichten.

Der Klassenkampf, der Konflikt von Millionen von Arbeitern gegen die Umstände ihres Lebens, verändert diese Umstände bereits. Die sozialistische Bewegung der Arbeiterklasse, die sich auf ein Verständnis des gesellschaftlichen Lebens, seiner Gesetze und seiner Möglichkeiten stützt, vertreibt die Verzweiflung und weckt die Hoffnung. So bahnt sich eine revolutionäre Explosion an.

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