Massenproteste gegen die albanische Regierung

Letzte Woche erschütterten Massenproteste die albanische Hauptstadt Tirana. Tausende strömten auf die Straßen, um den Rücktritt der Regierung von Ministerpräsident Edi Rama von der Sozialistischen Partei zu fordern. Die explodierenden Preise befeuern die Wut der Bevölkerung über die wachsende Armut, die politische Korruption und die Gleichgültigkeit der Regierenden. Vor den Ereignissen Anfang Juli fanden bereits im März große Demonstrationen statt, die ebenfalls durch die Wut über die Inflation ausgelöst wurden. Sie lag mit 7,4 Prozent im letzten Monat so hoch wie seit 20 Jahren nicht mehr in dem kleinen Balkanland. Im Jahr 2021 betrug sie nur etwa zwei bis 2,5 Prozent.

Da es kaum öffentliche Verkehrsmittel gibt, verursachen vor allem die Treibstoffkosten albanischen Familien große Probleme. Der Regierung Rama wird vorgeworfen, das Problem verschlimmert zu haben, weil sie sich weigert, die sehr hohen Benzinsteuern zu senken, die 53 Prozent des Gesamtpreises an der Zapfsäule ausmachen.

Allerdings steigen die Preise in sämtlichen Bereichen, vor allem die Lebensmittelpreise. Die staatliche Statistikbehörde INSTAT meldete erst vor kurzem, dass die Preise für Öle und Fette im letzten Monat um 30,3 Prozent gestiegen sind, die für Brot und Getreideprodukte um 19,1 Prozent, für Milchprodukte und Eier um 18,5 Prozent und die Preise für Gemüse um neun Prozent. „Kultur und Unterhaltung“ war der einzige Bereich, in dem die Preise nicht gestiegen sind.

Da die Ausgaben für Lebensmittel laut INSTAT 42 Prozent der Haushaltseinkommen ausmachen, werden hunderttausende Menschen in dem winzigen Land mit nur 2,79 Millionen Einwohnern auf der Strecke bleiben. Eine durchschnittliche 3,6-köpfige Familie hat nur 718 Euro pro Monat zur Verfügung, und etwa ein Fünftel der Bevölkerung lebt von weniger als 5,45 Euro pro Tag. Das Bruttoinlandsprodukt Albaniens liegt bei nur 5.160 Dollar pro Jahr und damit etwa auf dem Niveau des afrikanischen Lands Namibia. Damit ist Albanien das fünftärmste Land Europas. Durch eine Kombination aus Massenauswanderung und sinkenden Geburtenraten ist die Bevölkerung seit den 1990ern um mehr als 500.000 bzw. um 15 Prozent geschrumpft.

Als Reaktion auf die Massendemonstrationen im März, bei denen Hunderte verhaftet wurden, versprach die Regierung Rama eine Anhebung des Mindestlohns auf lediglich 242 Euro pro Monat. Damit würden die ärmsten Haushalte nur 24 Euro mehr pro Monat bekommen, die jedoch bereits nach ein paar Einkäufen im Lebensmittelgeschäft verbraucht sein werden. Er warf zudem der zunehmend verarmten Arbeiterklasse seines Landes vor, sie sei nicht bereit, die Kosten des Nato-Konflikts mit Russland zu tragen: „Ich schäme mich, dass ein Nato-Staat die Konsequenzen des Kriegs in der Ukraine nicht versteht.“

Laut dem Balkan Barometer 2022, einer Umfrage des Regional Cooperative Council, brodelt in Albanien die soziale Unzufriedenheit. Laut den Ende letzten Monats veröffentlichten Ergebnissen wollen 42 Prozent der Albaner auswandern, 88 Prozent halten die soziale Ungleichheit für zu groß, 40 Prozent sind unzufrieden mit ihrer finanziellen Lage, und 82 Prozent glauben, „Gesetze werden ungleich angewandt“ – mit anderen Worten, dass alle außer den Reichen und Mächtigen ungerecht behandelt werden.

Anwälte organisierten letzten Mittwoch Proteste gegen geplante Änderungen im albanischen Justizsystem, die im Zuge einer Neugliederung der Gerichtsbezirke zu deutlich weniger Gerichten führen wird. Die Anwälte betonen, dies werde den bereits beträchtlichen Rückstau an unbearbeiteten Fällen weiter verschlimmern, sodass Angeklagte länger im Gefängnis sitzen und sie erst nach noch längerer Zeit rehabilitiert werden. Die Anwälte wollen das Justizsystem für weitere zehn Tage boykottieren.

Auch albanische Journalisten haben vor kurzem in der Hauptstadt protestiert. Anfang Juli wurde einer Reporterin, die Ministerpräsident Rama nach Korruption in seinem inneren Kreis befragt hatte, der Presseausweis für drei Monate entzogen. Rama erklärte außerdem, sie müsse „umerzogen“ werden.

Die Demonstrationen in Tirana letzte Woche waren von dem Oppositionspolitiker und ehemaligen Ministerpräsidenten Sali Berisha von der rechten Demokratischen Partei (DP) organisiert worden. Berisha, dessen eigene Regierung während seiner Amtszeit von 2005 bis 2013 in der Bevölkerung verhasst war, will die Wut über die derzeitige „Mitte-Links“-Regierung zu seinem Vorteil nutzen.

Er hat mit Mühe und Not die Kontrolle über die DP zurückerlangt, nachdem ihn seine Rivalen letztes Jahr aus der Führungsposition verdrängt hatten. Zuvor hatte US-Außenminister Antony Blinken Berisha öffentlich als korrupt bezeichnet und erklärt, Washington werde nicht mit der DP zusammenarbeiten, solange Berisha dort die Leitung innehat. Berisha steht derzeit auf einer amerikanischen Sanktionsliste und darf nicht in die USA einreisen.

Als sich am 7. Juli die regierungsfeindlichen Demonstranten in Tirana versammelten, rief der amerikanische Botschafter in Albanien, Juri Kim, sie dazu auf, „friedlich“ zu bleiben und sich an die Gesetze zu halten – als ob die Demonstranten das Problem seien und nicht die riesige Zahl von Polizisten, die die Demonstration überwachten.

Albanien ist Nato-Mitglied, Verbündeter der USA und beteiligt sich derzeit zusammen mit Griechenland, Italien, Polen, den USA, Lettland, der Türkei und Rumänien an der von Bulgarien angeführten Nato-Marine-Übung Breeze 2022 im Schwarzen Meer. Aufgrund neuer Gesetze des US-Kongresses hat Albanien kürzlich Javelin-Panzerabwehrraketen erhalten. Ministerpräsident Rama hat der Nato zuletzt die Nutzung der stillgelegten Marinebasis Pashaliman in der Bucht von Vlora angeboten, in der früher eine sowjetische Flotte stationiert war und die den einzigen Zugang der UdSSR zum Mittelmeer darstellte. Wenn die Nato das Angebot von Tirana annimmt, wird sie mit dem Stützpunkt ihr aktuelles Arsenal in Albanien erweitern, wo sie derzeit den Luftwaffenstützpunkt Kucove wieder in Betrieb nimmt.

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