Scholz wirbt für deutsche Großmachtpolitik

In einem Gastbeitrag, der am Montag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien, hat Bundeskanzler Olaf Scholz ungeschminkt erklärt, weshalb Deutschland den Stellvertreterkrieg der Nato gegen Russland unterstützt, die Ukraine schwer bewaffnet, jede Verhandlungslösung sabotiert und die Bundeswehr massiv aufrüstet.

Bundeskanzler Olaf Scholz [Photo by Bundesregierung/Schacht]

Mit der Verteidigung von Demokratie und „westlichen Werten“, der Abwehr eines autoritären Aggressors und allem anderen, was sonst als offizielle Begründung angeführt wird, hat es nichts zu tun. In Wirklichkeit soll der Krieg in der Ukraine Deutschland helfen, zur führenden Militärmacht Europas aufzusteigen und sich aus einer Großmacht in eine Weltmacht zu verwandeln.

Der Artikel trägt den programmatischen Titel: „Europa in Zeiten des Krieges: Die EU muss zu einem geopolitischen Akteur werden.“ Scholz schreibt: „Oft ist in den vergangenen Jahren zu Recht gefordert worden, die EU müsse zum geopolitischen Akteur werden. Ein ehrgeiziger Anspruch, aber ein richtiger! Mit den historischen Entscheidungen der letzten Monate hat die Europäische Union einen großen Schritt in diese Richtung getan.“

Wenn ein Mitglied der deutschen Regierung „Europa“ oder „EU“ sagt, meint es Deutschland. Scholz betont in seinem Artikel, dass eine abweichende Politik kleinerer Staaten in der EU künftig nicht mehr geduldet wird. Wie bereits im Finanz- und Wirtschaftsbereich sollen Brüssel, Berlin und die mächtigen Wirtschaftsinteressen, die hinter ihnen stehen, auch in der Außenpolitik den Kurs diktieren.

Die „wichtigste Antwort Europas auf die Zeitenwende“ laute „Geschlossenheit“, erklärt Scholz. „Wir müssen sie unbedingt beibehalten und wir müssen sie vertiefen. Für mich heißt das: Schluss mit den egoistischen Blockaden europäischer Beschlüsse durch einzelne Mitgliedstaaten. Schluss mit nationalen Alleingängen, die Europa als Ganzem schaden. Nationale Vetos, etwa in der Außenpolitik, können wir uns schlicht nicht mehr leisten, wenn wir weiter gehört werden wollen in einer Welt konkurrierender Großmächte.“

Das zeigt auch, wie verlogen die Behauptung der Selenskij-Regierung ist, der Beitritt zur EU bedeute Demokratie und nationale Selbstbestimmung. In Wirklichkeit versprechen sich die Oligarchen, für die Selenkij spricht, von einem EU-Beitritt, dass sie die eigene Arbeiterklasse effektiver ausbeuten können.

Die Arbeiter Griechenlands, deren Lebensstandard durch das Spardiktat der EU dezimiert wurde, können davon ebenso ein Lied singen, wie die Arbeiter Bulgariens, Rumäniens und anderer osteuropäischer Staaten, die auch nach 15 Jahren EU-Mitgliedschaft nur einen Bruchteil so viel verdienen wie ihre westeuropäischen Kollegen. Als EU-Mitglieder genießen sie zwar Freizügigkeit und dürfen in anderen EU-Ländern arbeiten, aber dort werden sie auf Baustellen, in Schlachthöfen und im Dienstleistungssektor zu Sklavenlöhnen ausgebeutet.

Scholz unterstützt bedingungslos das Ziel der Nato, den Krieg bis zur militärischen Niederlage Russlands fortzusetzen, auch wenn er damit einen Atomkrieg riskiert. „Wir unterstützen die Ukraine – und zwar solange sie diese Unterstützung braucht: wirtschaftlich, humanitär, finanziell und durch die Lieferung von Waffen,“ schreibt er.

Zu Beginn des Krieges war Scholz und der SPD vorgeworfen worden, sie stellten sich nur halbherzig hinter die Ukraine und zögerten die Lieferung von Waffen hinaus. Doch inzwischen hat sich die Partei eindeutig positioniert. Mitglieder, die vor einem völligen Bruch mit Moskau warnen, sind isoliert. Gegen Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, der mit dem russischen Präsidenten Putin befreundet ist und lange für den russischen Energiekonzern Gazprom arbeitete, läuft sogar ein Parteiausschlussverfahren.

Der neue SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil hatte bereits am 21. Juni auf einer Konferenz der parteinahen Friedrich-Ebert-Stiftung für „neue strategische Partnerschaften“ geworben. „Wir brauchen neue strategische Allianzen auf Grundlage von wirtschaftlichen Interessen und politischer Orientierung,“ erklärte er. „Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben. Nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung hat Deutschland heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem.“

Klingbeil betonte ausdrücklich, dass diese Rolle als „Führungsmacht“ auch den Einsatz militärischer Mittel bedeute. „Ich vermute, einige sind jetzt alarmiert,“ sagte er. „Der Vorsitzende der SPD redet von Führungsmacht, von Bundeswehr, von militärischer Gewalt. Ich kann mir vorstellen, wie so manche Debatte jetzt läuft. Ich habe aber den Anspruch, dass wir realistisch sind.“

Mit dem Stellvertreterkrieg gegen Russland knüpft die deutsche Regierung an die Tradition von Hitlers Wehrmacht an. Eine militärische Niederlage Russlands, wie sie die Nato und die Bundesregierung anstreben, würde die Voraussetzungen schaffen, das riesige Land aufzuspalten und seine gewaltigen Rohstoffreserven zu plündern – ein Ziel, das Deutschland bereits im Zweiten Weltkrieg mit dem Überfall auf die Sowjetunion verfolgte.

Scholz betrachtet den Ukrainekrieg außerdem als Mittel, die deutsche Dominanz in Osteuropa zu stärken. Als „Land in der Mitte Europas“ werde Deutschland „Ost und West, Nord und Süd in Europa zusammenführen“, schreibt er. Die Ukraine, die Republik Moldau, Georgien und alle sechs Länder des Westlichen Balkans sollen in die EU aufgenommen werden. „Im östlichen Bündnisgebiet – in Litauen, in der Slowakei, in der Ostsee“ – werde Deutschland seine militärische Präsenz „deutlich aufstocken“.

Auch hier knüpft Scholz an verbrecherische Traditionen an. Die Kontrolle über „Mitteleuropa“, wie die Region damals genannt wurde, war zentrales Kriegsziel Deutschlands im Ersten und im Zweiten Weltkrieg. Bereits im berüchtigten „Septemberprogramm“ von Theobald von Bethmann Hollweg, das der damalige Reichskanzler kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs verfasste, hieß es, nur ein durch „Mitteleuropa“ verstärktes Deutschland sei in der Lage, sich zwischen den Weltmächten Großbritannien, USA und Russland als ebenbürtige Weltmacht zu behaupten.

Auffallend ist, dass Scholz in seinem Artikel die USA mit keiner Silbe erwähnt. Das ist kein Versehen. Derzeit sind die USA als größte Militärmacht der Welt und Vormacht der Nato für Deutschland zwar unverzichtbar, doch langfristig gelten sie als strategischer Rivale.

Die deutschen Medien verfolgen den inneren und äußeren Niedergang der USA mit einer Mischung aus Sorge und Häme. Typisch ist ein Kommentar der Süddeutschen Zeitung zum Besuch von US-Präsident Joe Biden in Saudi-Arabien.

Biden, der „mit einer völlig überladenen Wunschliste ankam, um gut 24 Stunden später mit vielen hehren Worten, aber wenig konkreten Werken wieder abzufahren“, habe „eine Lektion in Machtverlust“ erfahren, schreibt Stefan Kornelius, der Politikchef der Zeitung. „Die Reise illustriert den Verfall der amerikanischen Autorität, sie lässt die Fliehkräfte sichtbar werden, die in einer inzwischen mehrpoligen Welt wirken.“

Der deutsche Imperialismus reagiert auf den Autoritätsverlust der ehemaligen Schutzmacht mit der größten Aufrüstungsoffensive seit Hitler. Er beschränkt seine geopolitischen Ambitionen nicht auf Russland und Europa, auch der „Globale Süden“, wie Scholz „Asien, Afrika und Lateinamerika“ nennt, soll zu seiner Einflusssphäre werden.

Wenn Deutschland „in dieser schwierigen Zeit Verantwortung für Europa und in der Welt übernimmt“, wird es „die Anliegen des Globalen Südens zu unseren Anliegen“ machen, schreibt Scholz. Ganz bewusst habe er seine „Kollegen aus Indien, Südafrika, Indonesien, Senegal und Argentinien jüngst zum G7-Gipfel nach Deutschland eingeladen“.

Sowohl Scholz wie Klingbeil bemühen sich, die Rückkehr Deutschlands zu Militarismus und Großmachtpolitik als Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine darzustellen, den sie als „Zeitenwende“ bezeichnen. In Wirklichkeit ist es umgekehrt. Die Wiederbelebung des deutschen Militarismus ist eine der Hauptursachen des Kriegs in der Ukraine.

Bereits 2014 hatten der damalige Bundespräsident Joachim Gauck und führende Vertreter der Bundesregierung – darunter der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und die derzeitige Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen – eine aggressivere weltpolitische und militärische Rolle Deutschlands verkündet und dies in der Ukraine in die Tat umgesetzt. Sie unterstützten dort den Putsch, der mithilfe rechtsextremer Milizen ein westliches Marionettenregime an die Macht brachte.

Moskau reagierte mit der Annektierung der Krim, deren Einwohner sich mit großer Mehrheit für den Anschluss an Russland aussprachen, und der Unterstützung separatistischer Bewegungen in der Ostukraine, die nicht bereit waren, das ultranationalistische Regime in Kiew zu akzeptieren. Seither wurde die Ukraine von der Nato systematisch aufgerüstet und jeder Ansatz zu einer Verhandlungslösung sabotiert, was den russischen Präsidenten Putin schließlich zur reaktionären Entscheidung provozierte, die Ukraine militärisch anzugreifen.

Die Sozialistische Gleichheitspartei hatte 2014 als einzige Partei vor der Rückkehr des deutschen Militarismus und ihren Folgen gewarnt und dagegen mobilisiert. Die Bilanz dieser Arbeit ist auf der World Socialist Web Site und in zwei Büchern des Mehring Verlags – „Wissenschaft und Kriegspropaganda?“ und „Warum sind sie wieder da?“ – dokumentiert.

Alle unseren damaligen Warnungen haben sich inzwischen bestätigt. Die Wiederkehr des deutschen Militarismus geht mit der Rehabilitierung des Nationalsozialismus und seiner Kollaborateure, wie Stepan Bandera, einher. Und sie ist mit einer Kriegserklärung an die Arbeiterklasse verbunden.

Auch das spricht Scholz in seinem FAZ-Artikel offen aus. Er bereitet die deutsche Bevölkerung auf große und langdauernde Opfer vor. „Dieser Weg ist nicht leicht, auch nicht für ein so starkes, wohlhabendes Land wie unseres,“ schreibt er. „Wir werden einen langen Atem brauchen.“

Schon jetzt litten viele Bürgerinnen und Bürger unter den Auswirkungen des Krieges und blickten mit Sorge auf ihre nächsten Rechnungen für Strom, Öl oder Gas, so Scholz. Die Weltwirtschaft stehe „vor einer seit Jahrzehnten ungekannten Herausforderung. Unterbrochene Lieferketten, knappe Rohstoffe, die kriegsbedingte Unsicherheit an den Energiemärkten – all das treibt weltweit die Preise.“ Doch er sei überzeugt, dass „wir stärker und unabhängiger aus der Krise hervorgehen, als wir hineingegangen sind“.

Loading