Umweltkatastrophe: Tonnen toter Fische in der Oder

Seit Ende Juli schwimmen Tonnen toter Fische in der Oder. Es handelt sich um eine Umweltkatastrophe von gewaltigem Ausmaß, deren Ursache bisher nicht geklärt und deren volles Ausmaß noch nicht abzusehen ist.

Tote Fische in der Oder [Photo by Youtube-Video OderSpreeAngler]

Die ersten Meldungen trafen ab 26. Juli ein. Senator Wadim Tyszkiewicz, einst Bürgermeister von Nowa Sól, das an der Oder liegt, schreibt auf seinem Facebook Account: „Katastrophe. Die Fische, die nicht gestorben sind, schwimmen unter Qualen. … Hechte schwimmen wie in einem Amoklauf und schnappen Sauerstoff von der Wasseroberfläche. Das Wasser im Fluss ist trübe, und der Schaum riecht nach Chlor und Klärgrube. Es gibt Tausende tote Fische.“

Mit 866 km ist die Oder der achtlängste Fluss in Zentraleuropa. Er beginnt in Tschechien, fließt durch Sląskie (Schlesien) und wird bei Schiedlo, kurz vor Eisenhüttenstadt, zum Grenzfluss zwischen Polen und Deutschland, bevor er bei Stettin in die Ostsee mündet.

Am Mittwoch tauchten auch am deutschen Oderufer im Landkreis Oder-Spree erste tote Fische auf. Die Stadt Frankfurt an der Oder gab einen Warnhinweis heraus, dass aus „ungeklärten Ursachen ein massives Fischsterben zu beobachten sei“. Am Donnerstag zog die giftige Flut an Schwedt vorbei. Mittlerweile dürfte sie in den deutsch-polnischen Naturschutzpark Unteres Odertal eindringen und von dort über das Stettiner Haff weiter Richtung Ostsee fließen.

In Polen hat der Anglerverband Freiwillige organisiert, um die Fischkadaver zu beseitigen. Laut eigenen Aussagen haben sie innerhalb weniger Tage über 10 Tonnen toten Fisch aus der Oder geborgen. Auf diesem Facebook Account eines Freiwilligen wird das tragische Ausmaß ersichtlich.

Auch im deutschen Oderabschnitt wurden mehrere Tonnen Fischkadaver geborgen. Nachdem Meldungen über eine Quecksilber-Belastung der Oder eingegangen waren, stellten einige Freiwillige die Entsorgung aus Eigenschutz ein. Andere machten jedoch mit provisorischer Schutzausrüstung weiter, da die massenhafte Verwesung im Fluss an sich eine ökologische Gefahr darstellt, insbesondere falls die Kadaver giftige Chemikalien enthalten.

Unsichtbar bleiben bisher die Auswirkung auf das gesamte Flussbiotop – auf die Pflanzenwelt, auf die Kleinstlebewesen in der Oder und seinen unzähligen Nebenarmen sowie auf Vögel und andere Tiere, die sich von Fischen ernähren. Aus Polen gibt es Berichte von toten Seevögeln und Bibern.

„Es scheint, dass alles, was Luft aus dem Wasser atmet, gestorben ist,“ berichtete Johannes Giebermann vom Landschaftspflegeamt Frankfurt/Oder dem Spiegel. „Nicht nur Fische in großem Ausmaß, sondern auch beispielsweise Muscheln und Schnecken. Die gesamte Dimension können wir gerade noch gar nicht überblicken.“

„Zurzeit treiben Tonnen toter Fische in der Oder – und das bei extremem Niedrigwasser und großer Hitze,“ berichtet der Spiegel. „Klar ist: Die Kadaver müssen raus aus dem Wasser. Unklar ist währenddessen noch immer, was der genaue Grund für das Massensterben ist.“

Ohne diesen Grund zu kennen, lässt sich aber das Massensterben schwer bekämpfen. „Nur wenn wir das wissen, können wir jetzt richtig handeln“, betont Giebermann, der früher für den Naturschutzbund Deutschland (Nabu) tätig war.

Die Staatsanwaltschaft Wroclaw und das Landeskriminalamt (LKA) Brandenburg haben Ermittlungen wegen eines möglichen Umweltdelikts aufgenommen. Deutsche Behörden haben am Donnerstag eine erhöhte Konzentration von Quecksilber in Wasserproben nachgewiesen, polnische Behörden eine Woche zuvor eine erhöhte Konzentration des Lösungsmittels Mesitylen (bzw. 1,3,5,-Trimethylbenzol). Dennoch gibt es noch keine eindeutige Erkenntnis, was die Ursache für die Katastrophe ist.

Nach Angaben der Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) geht das Fischsterben möglicherweise auf eine Vergiftung durch chemische Substanzen zurück. „Es scheint tatsächlich so zu sein, dass es sich um chemische Substanzen aus industrieller Produktion handelt“, erklärte sie nach einem Treffen mit ihrer polnischen Amtskollegin Anna Moskwa am Sonntag im polnischen Stettin. „Aber wir wissen das nicht abschließend.“

Die polnische Regierung behauptet aktuell, die Katastrophe sei nicht auf Schwermetalle zurückzuführen. Dies hätten die jüngsten Analysen toter Fische durch das staatliche Veterinärinstitut ergeben, schrieb Moskwa am Samstagabend auf Twitter. Die Analysen wiesen aber auf erhöhte Salzwerte im Wasser hin und stimmten somit mit den Erkenntnissen der deutschen Behörden überein. Auch Warschau äußerte die Vermutung, dass die Oder mit Chemie-Abfällen vergiftet worden sei und die polnische Polizei setzte eine Belohnung in Höhe von umgerechnet 210.000 Euro für die Aufklärung aus.

Doch der Reihe nach:

Als sich die Meldungen von unzähligen toten Fischen häuften, ordnete die Woiwodschaftsinspektion für Umweltschutz in Wrocław (Breslau) am 28. Juli Wasserproben an. Diese entkräfteten den Anfangsverdacht der Desoxidation des Flusswassers. Zu einem solchen Mangel an Sauerstoff im Wasser kommt es gerade in heißen Sommermonaten häufig, da warmes Wasser den Sauerstoff schlechter bindet als kaltes. Es wurde sogar ein Sauerstoffüberschuss festgestellt, der unnatürlichen Ursprungs sein musste. Die ausführlichen Laborergebnisse bestätigten diesen Verdacht.

Bei der Kleinstadt Oława, etwa 30 km vor Wrocław gelegen, und an der Lipki-Schleuse weiter flussaufwärts wurde mit achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit Mesitylen (1,3,5,-Trimethylbenzol) nachgewiesen. Weiter flussabwärts konnten nur Derivate, also Überbleibsel, von zyklischen und aromatischen Kohlenwasserstoffen (wie Mesitylen) gefunden werden.

Mesitylen wird unter anderem als Lösungsmittel verwendet und ist für Wasserorganismen hoch toxisch. Bei Menschen kann es bei Inhalation oder Verschlucken zu Schläfrigkeit, Kopfschmerzen, Husten, Mattigkeit und Halsschmerzen kommen. Der Stoff reizt die Haut, Augen und Atmungsorgane. Die Dämpfe wirken dazu in höherer Konzentration narkotisierend. Aufgrund dessen wurde eine behördliche Warnung ausgegeben, den Kontakt mit dem Wasser zu vermeiden und keinen Fisch aus der Region zu verzehren.

Aus den Entnahmeorten der Wasserproben schlussfolgerte die Umweltinspektion, dass die Verschmutzung flussaufwärts in Raum der Woiwodschaft Opole (Oppeln), die hinter der Lipki-Sperre beginnt, entstanden sein muss.

Und tatsächlich räumte die Umweltschutzinspektion der Woiwodschaft Oppole ein, dass es am 14. Juli „im Kanal von Gliwice zu einem Vorfall“ gekommen war. Dort tauchten tote Fische auf. Recherchen ergaben eine sehr hohe Wassertemperatur von 25 Grad Celsius und eine zu hohe Konzentration von Chloriden. Beschwichtigend versicherte die Behörde aber: „Das waren keine großen Fischmengen, und die Forschung hat gezeigt, dass eine solche Menge an Chloriden nicht die direkte Ursache für das Sterben sein kann.“

Der über 40 km lange Kanal verbindet die Oder mit dem Hafen der Industriestadt Gliwice (Gleiwitz). Die Kanaleinmündung liegt jedoch rund 100 km von der flussabwärts liegenden Lipki-Schleuse entfernt, und es gibt keine Meldungen über massenhaft tote Fische zwischen diesen beiden Punkten.

Einen weiteren Fall von Verschmutzung meldete die Gazetta Wyborcza aus Oława selbst, also der Stadt, in der die erste Mesitylen-Belastung festgestellt wurde.

Im Mittelpunkt stehen zwei Papierfabriken, eine neue von Jack Pol und eine halb zerfallene von PPHU Karaś, die beide an einem Schleusenkanal liegen und laut der Bürgerinitiative „Alles für Oława“ ihr Abwasser in die Oder leiten. Die Bürgerinitiative weist die Betrügereien der beiden Firmen ausführlich nach. Sie hat seit Jahren vergeblich versucht, die Behörden zum Handeln zu bewegen.

Die Bürgerinitiative schreibt: „Seit mehreren Jahren waren staatliche Institutionen nicht in der Lage, den Täter zu lokalisieren, der das Gift freisetzt, und dessen chemische Zusammensetzung zu untersuchen. Das zeigt die Hilflosigkeit des Systems, in dem wir heute leben. Wir zahlen Steuern, unterhalten diese Institutionen, und doch ist es so.“

Sie benennt auch klar die Gründe: „Es geht um Geld. Diese Abfälle sollten fachgerecht entsorgt werden. Das kostet natürlich Geld, also ist es am einfachsten, sie direkt in den Fluss zu leiten. Das ist eine enorme Einsparung für die Anlage. Über ein Dutzend Jahre oder so könnten es Hunderte oder sogar Tausende von Tonnen sein ...!“

Wyborcza verweist ebenfalls auf diesen Aspekt. Sie schreibt: „Die schädlichste Stufe [der Papierherstellung] ist das Bleichen des Zellstoffs unter Verwendung von Chlorgas oder Chlorverbindungen, wodurch gefährliche organische Halogenverunreinigungen in das Abwasser von Papierfabriken freigesetzt werden. Wenn organische Chlorverbindungen hohen Temperaturen ausgesetzt werden, wie dies beim Bleichen der Fall ist, verwandeln sie sich oft in persistente und hochgiftige Verbindungen, sogenannte Dioxine.“

Flussabwärts, bis zur deutschen Grenze, haben unzählige Personen berichtet, die Oder stinke chlorhaltig.

Bereits in einer Stadtratssitzung im Februar wies Jack Pol solche Anschuldigungen als „Unsinn“ und „Verleumdung“ zurück und fordert etwas mehr Respekt für „ein Unternehmen, das seit 25 Jahren auf diesem Markt tätig ist, 130 Mitarbeiter beschäftigt und Grundsteuern an die Stadt zahlt“.

Womöglich gibt es eine noch nicht völlig aufgeklärte Wechselwirkung mit den Auswirkungen der Dürre und mit der Verzerrung des Wasserlaufs durch unzählige Schleusen, die die Oder befahrbar machen. Das könnte erklären, warum das Massensterben erst jetzt, im Hochsommer eingesetzt hat.

Unklar ist auch noch, was es mit der etwa 30 cm hohen Welle auf sich hat, die laut deutschen Messstellen durch die Oder schwappte. Das letzte Stauwehr liegt beim Wasserkraftwerk im polnischen Waly, etwa 30 km nach Wrocław. Wurde es geöffnet, um die Verschmutzung schneller fortzuspülen?

Neben der chemischen Verschmutzung leidet die Oder, wie alle Flüsse der Region, aktuell unter extremem Niedrigwasser. In Eisenhüttenstadt liegt der Pegel derzeit bei 1,61 Meter – und damit 60 Zentimeter unter dem Mittel im August. Zahlreiche Sandbänke behindern die Schifffahrt und verringern den Durchfluss auf 53 Prozent des langjährigen Vergleichswerts, berichtet die Berliner Zeitung unter Berufung auf die WSA-Hydrologin Cornelia Lauschke.

Przemysław Daca, Präsident der polnischen Wasserbehörde (PGW WP), ist der Ansicht, dass die gegenwärtige Katastrophe mit Sicherheit von der hydrologischen Dürre und dem niedrigen Wasserfluss beeinflusst wird. „Alles, was Sie brauchen, ist ein kleiner Faktor, irgendein Element von Abwasser, Klärgrube oder Verschmutzung in kleinen Mengen, was bisher kein Problem war und im Fluss verdünnt wurde, aber nun eine ökologische Katastrophe verursacht hat,“ sagte Daca der Zeitung Wyborzca.

Seit dem 1. August melden die polnische Wasserprobestellen keine Mesitylen-Belastung mehr, jedoch weiterhin eine überhöhte Sauerstoffsättigung. Nach dem Wochenende wollen die polnischen Stellen Ergebnisse obduzierter Fische bekanntgeben.

Die Betroffenen reagieren teils wütend: „Sie hatten zwei Wochen Zeit, um den Schuldigen zu finden! Sie hatten zwei Wochen Zeit, um die Leute zu warnen!“ schrien Bewohner in Zielona Góra dem stellvertretenden Umweltminister Jacek Ozdoba während einer Pressekonferenz entgegen.

Von deutscher Seite wird vielfach Polen für die fehlende Meldung der Vorfälle am oberen Oderlauf kritisiert. Doch auch die deutschen Behörden haben es „nicht geschafft, den entstandenen Problemen in einer angemessenen Frist zu begegnen“, wie der Bürgermeister von Frankfurt Oder, René Wilke, erklärte. Er spricht von „Staatsversagen“.

Das gleiche Muster findet sich in Polen. Mitglieder der oppositionellen Bürgerplattform (PO) kritisieren die Versäumnisse der PiS-geführten Zentralregierung, diese wiederum verweist auf die Verantwortung der PO-geführten Kommunalverwaltungen. Klar ist, dass ein Vertuschen wie in Oława dauerhaft nur möglich ist, wenn staatliche Behörden aller Ebenen dies unterstützen oder wenigstens dulden.

Die Tragödie wirft ein Schlaglicht auf den tiefsitzenden Nationalismus aller Parteien und dessen praktische Auswirkungen. 18 Jahre nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union gibt es offensichtlich weder einen funktionierenden, grenzüberschreitenden Umweltschutz, noch einen unbürokratischen Austausch zwischen den Kommunen entlang der Grenze.

Grüne Politiker aus Brandenburg zeigen mit dem Finger auf Polen, sprechen von einem „Versagen von Informationspflichten“ und fordern die Bundesregierung in Berlin auf, sich einzuschalten. Grüne Politiker aus Polen zeigen mit dem Finger auf die PiS in Warschau.

In Wahrheit zeigt diese Naturkatastrophe den Bankrott des ganzen kapitalistischen Systems. Eine der Hauptursachen ist aller Wahrscheinlichkeit nach die Profitgier eines Unternehmens, das giftige Stoffe in den Fluss leitet und sich auf die Unterwürfigkeit der lokalen Behörden verlassen kann, weil es Steuereinnahmen und Arbeitsplätze verspricht – oder Politiker schmiert.

Zugleich zeigen die staatlichen Behörden die gleiche kriminelle Untätigkeit, die man von der Corona-Pandemie und der Klimakatastrophe kennt. Bis heute haben weder die deutsche noch die polnische Regierung zentrale Maßnahmen gegen die Umweltkatastrophe an der Oder eingeleitet: Weder um die vermutlich giftigen Kadaver koordiniert zu entsorgen, noch um die weitere Verseuchung der Flusslandschaft aufzuhalten. Es gibt noch nicht einmal eine gemeinsame Koordinierungsstelle zum Kampf gegen die Naturkatastrophe und ihre Folgen.

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