New York: Notstand wegen Ausbreitung des Polio-Virus

In New York breitet sich eine Polio-Epidemie aus. Am Freitag rief die Gouverneurin von New York, Kathy Hochul, deshalb den Notstand für den gesamten Bundesstaat aus. Den Ausschlag gab offenbar der Nachweis des Polio-Virus zu Beginn des neuen Schuljahrs in einer Abwasserprobe in Nassau County auf Long Island.

Kathy Hochul, Gouverneurin von New York, Manhattan, April 2022 [Photo by Marc A. Hermann / MTA / CC BY 4.0]

Wie die Gesundheitsbehörden des Bundesstaats mitteilten, wurde das Polio-Virus bereits in 56 Abwasserproben entdeckt. Sie wurden in Proben in den Counties Rockland, Orange und Sullivan gefunden, die sich im Nordwesten von New York City entlang der Grenzen zu New Jersey und Pennsylvania, befinden. Zwischen Mai und August wurde das Virus auch in New York City selbst in Proben nachgewiesen, und zuletzt, Anfang September, auch in Nassau County.

Etwa 50 Prozent dieser Proben wurden genetisch mit dem Polio-Fall eines umgeimpften jüdischen Jugendlichen aus Rockland County im Juni in Verbindung gebracht. In Rockland befindet sich eine große Gemeinschaft von ultraorthodoxen chasidischen Juden, deren Impfquoten deutlich unter denen der allgemeinen Bevölkerung liegen.

Der junge Mann wies Symptome wie Fieber, Nackensteifheit und Schwäche in den Beinen auf. Das Virus verbreitet sich in der Regel durch Kontamination mit virushaltigen Fäkalien. In diesem Fall wurde das Polio-Virus in seiner Stuhlprobe nachgewiesen.

Beunruhigend ist jedoch, dass sieben der Proben nicht mit dem Fall in Rockland County in Verbindung gebracht werden konnten. Das bedeutet, dass sich der Erreger weitaus stärker in der Bevölkerung ausgebreitet hat, als bisher angenommen wurde. Der junge Mann in Rockland hat sich wahrscheinlich eine bis drei Wochen vor dem Auftreten der Symptome infiziert. Er war nicht ins Ausland gereist, hatte aber kurz zuvor an einer großen Veranstaltung teilgenommen.

Laut der US-Seuchenschutzbehörde CDC wurde Polio im Jahr 1979 in den USA ausgerottet. Der letzte Polio-Fall im Jahr 2013 betraf eine Person, die sich im Ausland mit der Krankheit infiziert hatte. Der derzeitige Ausbruch wurde durch ein Polio-Virus ausgelöst, das von einem Impfstoff abstammt. Das bedeutet, eine Person, die mit einem abgeschwächten Polio-Virus-Schluckimpfstoff (dem Sabin-Impfstoff) geimpft worden war, hat das Virus ausgeschieden und weiter verbreitet.

In den USA wird die Polio-Impfung durch Injektion mit einem inaktivierten Polio-Virus-Impfstoff des Herstellers Salk durchgeführt. Weil dieser keine lebenden Viren enthält, können die Geimpften es unmöglich weiterverbreiten. Die Schluckimpfung auf der andern Seite, die ein wichtiger Faktor bei der weltweiten Ausrottung des Polio-Wildvirus war, erzeugt Immunität durch ein abgeschwächtes Lebendvirus, das unter normalen Umständen nicht gefährlich ist.

Allerdings können Menschen mit Immunschwäche nach einer Schluckimpfung möglicherweise das abgeschwächte Lebendvirus weitergeben und in Gebieten mit geringer Durchimpfungsrate Ausbrüche verursachen. Genau diese Befürchtung haben die Gesundheitsbehörden in New York jetzt geäußert.

Gouverneurin Hochul schrieb in ihrer Erklärung: „Während der Corona-Pandemie sind die routinemäßigen Impfraten gegen Polio in allen Altersgruppen gesunken, und die Impfzurückhaltung hat zugenommen.“ Sie fügte hinzu, dass die „Impfquote gegen Polio unter zweijährigen Kindern in New York bei 78,96 Prozent und in mehreren Counties (...) noch deutlich niedriger liegt.“ In Rockland County liegt die Quote in einem Bezirk sogar bei nur 37 Prozent.

Die Ausrufung des Notstands dient dazu, die staatlichen und bundesstaatlichen Mittel in Anspruch zu nehmen, die sonst nicht verfügbar wären oder nicht ausreichen, um „die Impfkampagnen zu stärken, das Netzwerk von Polioimpfstoff-Verteilern auf Sanitäter, Hebammen und Apotheker auszuweiten und Ärzte und ausgebildete Pflegekräfte zu ermächtigen, Polioimpfungen durchzuführen“. Daneben sind die Gesundheitssysteme auch angewiesen, Fälle zu verfolgen und Daten an das Gesundheitsministerium von New York zu melden.

Die Gesundheitsbeauftragte Dr. Mary T. Bassett erklärte dazu: „Bei Polio können wir nicht einfach den Zufall entscheiden lassen. Wenn Sie selbst oder ihr Kind ungeimpft sind oder die Impfung nicht auf dem neuesten Stand ist, ist die Gefahr eines paralytischen Krankheitsverlaufs sehr real. Ich rufe die Bevölkerung von New York dringend auf, kein Risiko einzugehen. Die Polio-Impfung ist sicher und wirksam – sie schützt fast alle Menschen, die die empfohlene Dosis erhalten, vor einer Erkrankung. Warten Sie nicht mit der Impfung.“

Das Wiederauftreten von Polio nach mehr als vier Jahrzehnten erschüttert die Kommunen in den USA. Man war allgemein davon ausgegangen, dass diese schreckliche Krankheit der Geschichte angehöre. Angesichts der Tatsache, dass Polio nur bei einem kleinen Teil seiner Opfer zu Lähmungen führt, bedeutet ein einziger Fall von paralytischer Polio, dass es Hunderte weitere Infizierte gibt, welche die Krankheit unbemerkt an andere weitergeben.

Allerdings ist nicht nur das Auftreten von Polio so beunruhigend. Die Corona-Pandemie hat in den letzten drei Jahren fast 1,1 Millionen Amerikaner getötet und weitere Millionen geschädigt, und in diesem Kontext gewinnt der Vorfall große Bedeutung, zumal sich auch die Affenpocken ausbreiten.

Dieser dreifache Schlag ist nicht einfach ein unglückliches, aber zufälliges Ereignis. In marxistischen Begriffen ausgedrückt, handelt es sich um eine Reihe von scheinbaren Zufällen, die Ausdruck einer historischen Notwendigkeit sind. Sowohl die Entstehung neuer, als auch die Rückkehr alter Pandemien sind das Ergebnis dessen, was Leo Trotzki als die „Todesagonie des Kapitalismus“ bezeichnet hat. Das Gleiche gilt für die offensichtliche Unfähigkeit der herrschenden Klasse, eine öffentliche Gesundheits-Infrastruktur zu unterhalten, die in der Lage ist, mit einer solchen Bedrohung fertig zu werden – geschweige denn mit dreien gleichzeitig.

Experten für Infektionskrankheiten haben ausführlich vor einer möglichen Pandemie durch eine Atemwegserkrankung gewarnt, lange bevor die Welt etwas von einem mysteriösen Virus hörte, an dem die Einwohner der großen chinesischen Industriestadt Wuhan erkrankten. Die Ausbrüche von Sars-CoV-1 (2002-04) und MERS (2012) waren nur Generalproben der Natur.

Und als die Weltgesundheitsorganisation Sars-CoV-2 zum internationalen Gesundheitsnotstand erklärte, bestand die Reaktion der herrschenden Klassen der Welt nicht etwa in einer wirkungsvollen gesundheitspolitischen Strategie, um die Pandemie zu unterdrücken, sondern sie nutzten die Gelegenheit, um Billionen an Steuergeldern in die Kassen der Finanzaristokratie umzuleiten.

Der Ausbruch der Affenpocken wurde seit Jahrzehnten vorausgesagt, und nun haben sich weltweit schon mehr als 60.000 Menschen infiziert. Die Pandemie brach im Gefolge der Corona-Pandemie aus, nachdem die Maßnahmen zur Eindämmung von Sars-CoV-2 plötzlich aufgehoben wurden, sodass das Virus aus den isolierten Gebieten im zentralen Westafrika ausbrechen konnte, in denen es bereits endemisch ist. Es konnte bald einen Fuß in die Tür der sozialen Netzwerke bekommen und breitete sich schnell in mehr als 60 Staaten aus. Da jetzt auch die Schulen wieder öffnen, steigt auch die Zahl der Affenpockenfälle bei Kindern.

Hätte man diesen verarmten afrikanischen Ländern in den letzten zwei Jahrzehnten die verfügbaren Impfstoffe gegen Affenpocken sowie therapeutische und diagnostische Ressourcen zur Verfügung gestellt, dann gäbe es jetzt keine Affenpocken-Pandemie.

Die Globalisierung und der internationale Handel haben diesen einst seltenen Krankheitserregern unweigerlich ein weites Betätigungsfeld verschafft. Die Tatsache, dass das derzeitige Virus bisher weit weniger tödlich ist, als die historischen Erfahrungen mit den Pocken nahelegen, sorgt bei den staatlichen Gesundheitsbehörden nur für noch größere Apathie. Wäre die als Clade I bekannte Kongobecken-Variante, die viel tödlicher ist, plötzlich ausgebrochen, so wäre die Lage noch viel schlimmer.

Doch drei Jahre Corona-Pandemie haben die Gesundheitseinrichtungen in den USA an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Jetzt wird versucht, Pflegekräfte für Behandlungsfehler verantwortlich zu machen, die durch Überarbeitung und Unterbesetzung entstanden sind. Arbeiter werden zum Sündenbock für die Krise eines Gesundheitssystems gemacht, das durch das Profitstreben ständig untergraben wird. Dies ist eins der Symptome der kapitalistischen Fäulnis, die sich auf jeden Aspekt der Gesellschaft auswirken.

Im Falle von Polio sind sowohl die wissenschaftlichen Grundlagen der Krankheit als auch die Maßnahmen des Gesundheitswesens zu ihrer Bekämpfung allgemein bekannt, und haben sich vor mehr als 60 Jahren in der Praxis bewährt. Es ist ein Gradmesser für den rasanten Verfall der kapitalistischen Gesellschaft, dass diese Krankheit jetzt wieder zurückkehrt, wenn sie eigentlich – wie die Pocken – weltweit ausgerottet sein sollte.

In einer Handvoll von besonders verarmten Ländern wie Afghanistan und in abgelegenen Teilen Pakistans sowie in einigen Gebieten Afrikas gibt es noch ein Reservoir aktiver Polio-Infektionen. Doch die wirkliche Quelle der Gefahr liegt im Rückgang der Impfquoten, vor allem in den USA, wo die Kampagnen rechter „Impfgegner“ schon vor der aktuellen Kampagne gegen sämtliche Versuche zur Eindämmung von Covid-19 beträchtliche Auswirkungen hatte.

Die Anfälligkeit der chasidischen Gemeinden im Bundesstaat New York hat beispielsweise nichts mit ihrer Version des Judentums zu tun. Sie steht im Zusammenhang mit den schädlichen Bestrebungen von Impfgegnern, in isolierten Bevölkerungsgruppen, sowohl in abgelegenen ländlichen Gebieten als auch in bestimmten Bevölkerungsgruppen in stärker urbanisierten Gebieten Misstrauen und Angst vor Impfungen zu schüren.

Es geht um den Mangel an öffentlicher Aufklärung über Impfungen und an Lehrplänen, die Kindern und Jugendlichen die Geschichte des öffentlichen Gesundheitswesens und das Wesen von Krankheiten vermitteln. Es geht darum, dass die Finanzierung der medizinischen Versorgung und der öffentlichen Gesundheitssysteme nicht annähernd einer minimalen sozialen Gleichheit angemessen ist. Es geht auch um die fehlende Umsetzung einer weltweit koordinierten Pandemieprävention, die in Zukunft unweigerlich zu weiteren Pandemien führen wird, obwohl ausreichend Mittel und Kapazitäten zu ihrer Prävention und Ausrottung vorhanden wären.

Tatsächlich ist die Ausrufung des Notstands wegen Polio auch eine Bankrotterklärung, ein Eingeständnis, dass das öffentliche Gesundheitssystem in den USA völlig versagt hat. Sie ist auch ein Gradmesser für die Befürchtung der herrschenden Eliten, dass die Fassade, die sie aufgerichtet haben, vor ihren Augen zusammenbrechen könnte.

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