Neue Erkenntnisse im Polizeimord an einem Teenager in Dortmund

Neue Erkenntnisse zu mehreren tödlichen Polizeieinsätzen zeigen die wachsende Brutalität, mit der die Polizei gegen Migranten und sozial Schwache vorgeht. Bezeichnend ist auch die Leichtfertigkeit, mit der sich die verantwortlichen Innenpolitiker vor ihre Beamten stellen und deren Taten rechtfertigen. Dies wird besonders am Tod eines 16-Jährigen deutlich, der am 8. August in Dortmund einem solchen Einsatz zum Opfer fiel.

Ein Polizeibeamter streckte Mouhamed Lamine Dramé, der ein Messer gegen sich selbst richtete, mit vier Kugeln aus einer Maschinenpistole nieder. Zuvor hatten andere Beamte einer zwölfköpfigen Polizeieinheit den offenbar depressiven Jugendlichen mit Tränengas und Elektroschockern traktiert.

Ursprünglich wollten die Polizei Dortmund und der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul, den Polizeimord als weiteren „Einzelfall“ und Fall von Notwehr von Seiten der Polizei abtun. Kurz nach dem Einsatz sagte Reul: „Ich auf jeden Fall beneide die Polizisten nicht, die diese Entscheidung treffen müssen. Aber sie müssen sie treffen, um den jungen Mann zu schützen. Das war ja die Absicht.“

Den jungen Mann schützen, indem man ihn erschießt? Die Polizei war durch einen Sozialarbeiter der Jugendhilfeeinrichtung herbeigerufen worden, weil der Teenager auf dem Hof kauerte, sichtlich traumatisiert, und sich ein Messer an den Bauch hielt. In dieser Situation schickte die Polizei, um „den jungen Mann zu schützen“, weder Dolmetscher noch psychologisch geschultes Personal, um Kontakt zu ihm aufzunehmen und die Lage zu entspannen.

Stattdessen rückte sie mit 12 Beamten in voller Montur, mit Tränengas, Elektroschockern und Maschinenpistole an, und kein einziger der Polizisten hatte seine Bodycam eingeschaltet. Wenige Minuten später war Mouhamed tot.

Nach Aussage der Beamten sei der Junge sofort bei ihrer Ankunft mit gezücktem Messer auf sie zu gerannt. Deshalb seien auch nur wenige Minuten vergangen, bis die Todesschüsse fielen. Diese Version machte sich auch der Innenminister zu Eigen, und er sagte: „Dieser psychisch offensichtlich kranke Mensch stürmt auf die Polizisten mit dem Messer zu und dann – so ist meine heutige Informationslage – schießt der, der dafür vorgesehen ist, und rettet den Polizisten. Und in der Situation ging es um die Frage: Sticht der zu – oder schießt die Polizei?“

Diese Aussage von Innenminister Reul kommentierte die WSWS bereits am 12. August mit den Worten: „Das ist nichts anderes als ein Freibrief für weitere Polizeimorde.“

Am 15. September hat nun die WDR-Sendung Monitor bekanntgemacht, dass es ein neues Beweismittel gibt, das die „Notwehr“-Behauptung der Polizei zunichtemacht. Es handelt sich um die Aufzeichnung eines Telefonats zwischen dem Sozialarbeiter und der Notrufzentrale der Polizei, quasi ein Tonmitschnitt des gesamten Einsatzes bis zu den tödlichen Schüssen.

Seither hat auch die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen fünf der Beamten aufgenommen und ermittelt insbesondere wegen Totschlags gegen den Todesschützen. Monitor zitierte in der Sendung ausführlich aus einem Dokument der Staatsanwaltschaft über den Hergang, und er widerspricht der Version der Polizisten diametral.

Demzufolge ist völlig klar, dass der Jugendliche bei Eintreffen der Polizei niemanden außer sich selbst mit dem Messer bedrohte. Auch war er offenbar durch einen Zaun von den Polizisten getrennt. Dennoch sprühte die Polizei ihn nach kurzer Ansprache derart mit Pfefferspray voll, dass „dem Jugendlichen die aufgesprühte Flüssigkeit über den Kopf lief“, wie es laut monitor im Dokument der Staatsanwaltschaft heißt. Danach „stand er auf, wischte sich mit einer Hand über den Kopf und wendete sich mit einem Schritt nach rechts“ – also in keiner Weise aggressiv gegen seine Peiniger, die Polizisten.

Diese setzten unmittelbar danach zu zweit ihre Taser gegen ihn ein, und „sehr zeitnah, gegebenenfalls sogar zeitgleich zu dem Einsatz des zweiten Geräts“ gab ein Polizist die tödlichen Schüsse aus seiner Maschinenpistole auf Mouhamed ab.

Wie diese Dokumente zeigen, ist die Begründung und Rechtfertigung von Polizei und Innenminister, man habe Mouhamed Dramé vor seinem Selbstmord schützen müssen, zynisch und unglaubwürdig. Die Behauptung, er sei mit dem Messer auf die Polizeibeamten zugestürmt, und sie hätten aus Notwehr schießen müssen, wird durch das, was heute über das Geschehen bekannt ist, widerlegt. Selbst Reul sieht sich inzwischen gezwungen, sich von seiner ursprünglichen Verteidigung des tödlichen Einsatzes zu distanzieren. Und dennoch, und trotz aller bekanntgewordenen Fakten, ist es fraglich, ob die Schuldigen jemals juristisch zur Verantwortung gezogen werden.

Dabei ist der Polizeimord von Dortmund kein Einzelfall.

Tatsächlich war Mouhameds Tod der vierte solche Fall infolge von Polizeigewalt in nur einer Woche. Bereits am 2. August erschossen SEK-Beamte im Frankfurter Bahnhofsviertel einen obdachlosen 23-jährigen Somalier. Angeblich hatte er zuvor zwei Frauen bedroht oder belästigt. Am 3. August wurde bei einer Zwangsräumung in Köln der stadtbekannte russische Musiker Jozef Berditchevski (48) von Polizeikugeln tödlich getroffen, weil er sich gegen die Räumung seiner Wohnung gewehrt hatte. In der Sonntagnacht des 7. August nahm ein Polizeieinsatz in Oer-Erkenschwick ein tödliches Ende, nachdem ein 39jähriger in seiner Wohnung randaliert hatte. Die herbeigerufenen Polizisten gingen mit Pfefferspray auf ihn los und „fixierten“ ihn so brutal, dass er das Bewusstsein verlor und kurze Zeit später starb.

Schon früher in diesem Jahr hatten ähnliche Fälle die Öffentlichkeit alarmiert. So war schon Anfang Mai ein 47-jähriger Mann in Mannheim nach einer brutalen Polizeikontrolle zu Tode gekommen. Auch hier hatte ein Arzt die Polizei gerufen, da ein „hilfsbedürftiger Patient“ eine Einrichtung, das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI), verlassen hatte.

Ein Gutachten stellte im September fest, dass es sich um einen „nicht natürlichen Tod infolge des Polizeieinsatzes“ gehandelt habe. Der Mann, der an psychischen Problemen litt, soll an einer „lage- und fixationsbedingten Atembehinderung“ und daraus folgender „Stoffwechselentgleisung“ sowie „Ersticken durch eine Blutung in die oberen Atemwege“ verstorben sein. Der Mann hatte laut Obduktion an einer Herzinsuffizienz gelitten, wie der SWR am 14. September berichtete.

Wie die WSWS schon am 21. Mai schrieb, enthüllte damals ein Video, das auf Twitter kursierte, wie brutal die Polizei vorging. Als zwei Polizisten den Mann in der Innenstadt entdeckten, überwältigten sie ihn mit Gewalt, und einer der beiden Beamten versetzte dem fixierten und herzkranken Mann zwei Faustschläge gegen die Schläfe.

Im Fall eines weiteren Polizeieinsatzes mit tödlichem Ausgang in Mannheim nur wenige Tage nach dem ersten hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen einen Polizisten am Dienstag, den 13. September, eingestellt. Sein Verhalten wurde als Notwehr gewertet. Der Beamte hatte einem Mann ins Bein geschossen, doch laut Ermittlungen soll dieser infolge hohen Blutverlusts durch Messerstiche, die er sich selbst zugefügt hatte, gestorben sein.

Die blutige Reihe ließe sich fortsetzen. Parallel zur Kriegspolitik der Ampel-Koalition und ihrer Aufrüstung des Staatsapparats nehmen die Fälle, bei denen Arbeiter und Jugendliche tödlichen Polizeischüssen zum Opfer fallen, ständig zu. Und andere sterben, wie Oury Jalloh, in der Polizeihaft, oder sie kommen im Zusammenhang mit einer brutalen Abschiebung ums Leben.

Gleichzeitig werden Polizisten wegen tödlicher Einsätze fast niemals verurteilt. Laut den Zahlen des Statistischen Bundesamts wurden im Jahr 2020 bei 4.500 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibedienstete lediglich in 70 Fällen Strafverfahren eingeleitet.

Üblich ist auch die Art und Weise, wie sich Führungspolitiker aller Couleurs reflexartig vor die Beamten stellen. Sie nehmen sie selbst bei Todesfällen und offenkundigem Rassismus in Schutz und machen sich die Version der Polizei zu Eigen.

Berliner Polizisten attackieren den 30-jährigen Syrer in seiner Wohnung (Screenshot aus dem Video)

Das zeigte jüngst das Beispiel der Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Als das rassistische Vorgehen der Berliner Polizei am 9. September gegen eine syrische Familie in Alt-Hohenschönhausen an die Öffentlichkeit gelangte und Wut und tiefe Bestürzung auslöste, stellte Faeser sich schützend vor die Polizisten.

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