Soziale und wirtschaftliche Krise in Polen spitzt sich zu

In Polen spitzt sich die soziale und wirtschaftliche Lage immer weiter zu. Die Auswirkungen von hohen Zinsen, Ukrainekrieg und Inflation, die so hoch ist wie seit 25 Jahren nicht mehr, drohen das Land in eine tiefe Rezession zu stürzen.

Die Inflationsrate, die Ende letzten Jahres noch bei 8,6 Prozent lag, beträgt inzwischen trotz einem „Inflationsschutzschild“ der Regierung über 17 Prozent. In vielen Ländern Ost- und Südosteuropas ist sie sogar noch höher. Auch die sogenannte Kerninflation, die die stark schwankenden Preise von Lebensmitteln und Energie nicht berücksichtigt, hat die symbolische Grenze von 10 Prozent überschritten.

Protestierende Pflegekräfte in Polen 2021

Polen ist nicht Mitglied der Eurozone. Die Polnische Zentralbank hat den Leitzins in mehreren Schritten auf 6,75 Prozent erhöht. Er liegt damit deutlich höher als der Leitzins der EZB, der zuletzt 1,25 Prozent betrug. Inzwischen verzichtet die Polnische Zentralbank auf weitere Zinserhöhungen, da die hohen Zinsen bereits zu einem deutlichen Wirtschaftseinbruch geführt haben.

In Polen gibt es kaum Zinsbindung, und so steigen die Zinsen von laufenden Krediten und verteuern sich Neuinvestitionen. Bei Konsumgütern hält sich der Absatzrückgang noch in Grenzen, aber das ist vor allem auf die hohe Zahl ukrainischer Flüchtlinge (laut UNHCR 2,6 Millionen) zurückzuführen, die gegenwärtig in Polen leben.

Wie verheerend die Auswirkungen der steigenden Zinsen auf die polnische Wirtschaft sind, zeigt insbesondere ein Blick auf die Baubranche. Im Vergleich zum Vorjahr wurde dort im August ein drastischer Rückgang bei Wohnungsneubauten von 46 Prozent verzeichnet. Da viele polnische Unternehmen ihren Fahrzeug- und Maschinenpark leasen, sind sie auch da mit steigenden Kosten konfrontiert.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Polens Wachstumsprognosen für dieses und nächstes Jahr erneut gesenkt: Auf 3,8 Prozent für dieses Jahr und auf 0,5 Prozent für 2023.

Pawel Borys, der Präsident des Polnischen Entwicklungsfonds, zeichnete auf Twitter eine düstere Prognose. Nach seiner Rückkehr von den Jahrestagungen des IWF und der Weltbank schrieb er, die Stimmung sei „so schlecht wie während der Krisen 2009 und 2012“. Borys geht davon aus, dass eine Rezession in Deutschland und Italien auch auf die polnische Wirtschaft zurückschlagen und zum weiteren Anwachsen von Arbeitslosigkeit und Staatsschulden führen wird.

Der Kursverlust des Zloty (PLN), der innerhalb des letzten Jahres von 3,9 auf 5 PLN je Dollar sank, bedeutet für Polen eine Verteuerung der Importe, insbesondere aus den USA, wo es milliardenschwere Rüstungskäufe getätigt hat. Viele polnische Unternehmen importieren Rohstoffe und Komponenten in Dollar aus Fernost und exportieren fertige Produkte in Euro nach Westeuropa, was aufgrund der „stärkeren Position des Dollars die Marge sehr schnell schrumpfen“ lässt, wie der Chefökonom der Polnischen Handelskammer, Piotr Soroczyński, kommentierte.

Die sozialen Folgen der Krise sind schon jetzt verheerend. Der neu erschienene Armutsbericht („Poverty Watch 2022“) des European Anti-Poverty Network gibt einen Blick auf die grassierende Armut im vergangenen Jahr. Laut Prof. Ryszard Szarfenberg ist die Armut in den letzten Jahren zwar zurückgegangen, hat nun aber „das Gesicht eines älteren und behinderten Menschen“.

Rund 1,6 Millionen Polen leben unter dem Existenzminimum. Für einen Ein-Personen-Haushalt liegt dieses bei 692 PLN (etwa 145 Euro). Hinzu kommt eine Dunkelziffer von Obdachlosen, die überhaupt nicht erfasst werden. 4,6 Millionen Polen leben in relativer Armut, d.h. sie verdienen weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens. Das lag im September 2022 bei 6.688 PLN, nominell ein Plus von 14,5 Prozent im Vergleich zu Vorjahr. Angesichts der Inflation sanken die Reallöhne jedoch um rund 3 Prozent.

Standen früher Kinder und große Familien im Fokus des Armutsberichts, ist der Anteil extrem armer Kinder u.a. wegen dem von der PiS-Regierung eingeführten Kinderbetreuungsgeld 500 plus erheblich gesunken – von 700.000 im Jahr 2015 auf 333.000 im Jahr 2021. Weiterhin leben jedoch fast eine Million Kinder in relativer Armut.

Hinzu kommen 246.000 ältere Menschen über 65, die unter dem Existenzminimum leben. Senioren bitten immer häufiger um Nahrungsmittelhilfe, betont Szarfenberg. Betroffen sind vor allem solche, die keinen Rentenanspruch haben und von Sozialhilfe leben. Diese wurde im Februar 2022 trotz hoher Inflation nur gering von 645 PLN auf 719 PLN erhöht.

Szarfenberg hält im kommenden Jahr eine Zunahme der Armut um mehr als 2 Prozentpunkte für wahrscheinlich. Grund sei vor allem die fehlende Anpassung der Sozialleistungen an die Inflation. Familienleistungen seien seit 2016 nicht mehr angepasst worden.

Tatsächlich wurde die minimale Erhöhung der Sozialhilfe bereits mehrfach von steigenden Preisen aufgefressen. Obwohl die Regierung mit dem „Inflationsschutzschild“, der Senkung der Mehrwertsteuer von 23 auf 8 Prozent und der Streichung der Kraftstoffsteuer, versuchte gegenzusteuern, haben die Benzin- und Dieselpreise Rekordhöhen erreicht. Seit September stiegen die Preise um rund 170 Prozent, und zuletzt kostete der Liter Diesel 8 PLN.

Auch die Tonne Steinkohle kostet trotz staatlicher Subvention 2000 PLN und damit doppelt zu viel wie vor einem Jahr. Die Preise auf dem freien Markt liegen mittlerweile bei 4000 PLN und mehr. Auf der Suche nach günstiger Kohle für den Winter stehen die Menschen zum Teil stundenlang an oder fahren 100 Kilometer nach Tschechien oder der Slowakei, wo sie noch etwas günstiger ist.

Als Reaktion legalisierte die Regierung nun auch wieder den Kauf von Braunkohle durch den Kraftwerkbetreiber PGE, was wegen des hohen Schadstoffausstoßes verboten war. Der Preis dafür liegt nur zwischen 190 und 500 PLN pro Tonne, aber auch der Heizwert ist vier Mal niedriger. Hinzu kommt, dass dreimal mehr Schwefel und fünfmal mehr Quecksilber in die Luft gelangen.

Die steigenden Energiekosten haben bereits zu vielfachen Einsparungen geführt.

So kündigte die Jagiellonen-Universität in Krakau an, die zentralen Vorlesungen ab Oktober wegen der um bis zu 700 Prozent gestiegenen Strompreise nicht mehr in Präsenz, sondern Online durchzuführen. Von anderen Universitäten gibt es ähnliche Berichte.

Auch Schulen und Kitas wurden von den jeweiligen Kommunen aufgefordert, Einsparpläne zu entwickeln, auch wenn zugleich routinemäßig betont wurde, „die Kinder müssen es warm haben“ und man wolle „keinen Fernunterricht“. Auch Einkaufszentren und Handelsketten kündigten Einsparmaßnahmen bei Beleuchtung und Heizung an.

Am heftigsten zeigen sich die Auswirkungen jedoch beim Preisanstieg für Lebensmittel. Im ersten Halbjahr 2022 stieg der Preis für Butter um 48, für Fleisch um 31 und für Obst um 24 Prozent. Der Preis für Öl stieg bis September um 62, für Salz, Milch und Nudeln um 37, für Mehl und Reis um 20 und für Zucker um 100 Prozent. Als Folge nahmen schwere Ladendiebstähle im ersten Halbjahr um 27 und leichte um 13 Prozent zu. Wie die Branchenzeitschrift Wiadomości Handlowe berichtete, reagierten Geschäfte darauf mit vermehrter Diebstahlsicherung, selbst an Butterstücken.

Die Oppositionsparteien organisieren zusammen mit den Gewerkschaften eine Reihe harmloser Proteste, die als Blitzableiter für die zunehmenden sozialen Konflikte dienen sollen. Gleichzeitig unterstützen sie den Kriegskurs der Regierung gegen Russland und greifen die PiS in der Wirtschafts- und Sozialpolitik von rechts an. Die staatliche Subventionspolitik, steigende Sozialausgaben und insbesondere das Kindergeld 500Plus sowie zu zögerliche Zinserhöhungen der Zentralbank seien schuld an der Misere.

Unter der Parole „Vereint und stinksauer auf PiS“ demonstrierten oppositionsnahe Gruppen in den vergangenen Wochen in mehreren Städten gegen gestiegene Energiepreise und Inflation. Es kamen jeweils nur wenige hundert Teilnehmer.

Zum nationalen Tag der Bildung organisierte die Opposition unter #KartkaDoCzarnka (Rote Karte für Czarnek) auch Proteste gegen die Politik von Bildungsminister Przemysław Czarnek. Die Lehrergewerkschaften, konfrontiert mit einer regelrechten Personalflucht wegen miserabler Arbeitsbedingungen, hatten parallel dazu eine Woche lang ein „Bildungsdorf“ vor dem Ministerium organisiert und am vergangenen Samstag mit einer überschaubaren Kundgebung für 20 Prozent mehr Gehalt protestiert.

Mit derselben Methode hatten die Gewerkschaften vor einem Jahr die Proteste von Krankenschwestern, Sanitätern und Ärzten abgewürgt. Nachdem Zehntausende in Warschau protestiert hatten, inszenierten die Gewerkschaften eine sogenannte „Weiße Stadt“, während sie wochenlang mit der Regierung verhandelten, um das Camp dann ohne Ergebniss sang- und klanglos zu beenden.

NSZZ „Solidarność“, eine der drei großen polnischen Gewerkschaftsdachverbände, hat nun für den 17. November „die größte Demonstration in Warschau seit Jahren“ angekündigt. Gespräche mit der Regierung über Lohnerhöhungen, Deckelung der Energiepreise und Senkung des Renteneintrittsalters seien gescheitert, so die Gewerkschaft. Zu den Protesten sollen Bergleute, Stahl- und Autoarbeiter, aber auch staatliche Angestellte und Polizisten mobilisiert werden.

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