Nach Selenskyjs Washington-Reise: Neuer Angriff der Ukraine auf Russlands Kernland

Nach der Rückkehr des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj aus Washington tötete das ukrainische Militär drei russische Soldaten bei einem Drohnenangriff auf den Luftwaffenstützpunkt Engels in der Nähe von Saratow, Hunderte von Kilometern von der Grenze zur Ukraine entfernt.

In der letzten Woche hatte Selenskyj persönlich vor dem US-Kongress gesprochen und die Vereinigten Staaten aufgefordert, die ukrainischen Kriegsanstrengungen weiterhin zu finanzieren und das ukrainische Militär zu unterstützen, bis der „absolute Sieg“ errungen sei.

Ein ukrainischer Soldat beobachtet aus einer unterirdischen Kommandozentrale in Bakhmut, Region Donezk, heraus die Aufnahmen einer Drohne. 25. Dezember 2022 [AP Photo/Lib's]

Am Tag nach Selenskyj Rede unterzeichnete US-Präsident Joe Biden den National Defense Authorization Act (NDAA), mit dem die US-Militärausgaben im Vergleich zum Vorjahr um 88 Milliarden Dollar erhöht und die bisher für den Ukraine-Krieg bereitgestellten Mittel verdoppelt werden.

Am Tag vor der Unterzeichnung des Haushaltsplans kündigte Biden die Entsendung einer Patriot-Raketenbatterie in die Ukraine an. Es ist das modernste Raketensystem, das die Vereinigten Staaten bisher an die Ukraine liefern.

Im Laufe dieser Woche wird Biden das Haushaltsgesetz unterzeichnen, mit dem die Mittel zur Finanzierung des laufenden Kriegs mit Russland bereitgestellt werden.

Der jüngste Angriff der Ukraine auf russisches Territorium ist ein klares Signal Washingtons, dass sich der Krieg im kommenden Jahr 2023 noch verschärfen wird.

Einen Einblick in die Denkweise der Biden-Regierung bot ein Artikel in der New York Times, in dem die Gründe für die zunehmend eskalierenden Aktionen und die Unterstützung der USA dafür darlegt werden.

„Die Ukraine greift immer mutiger Ziele tief im russischen Territorium an, weil Kiew zu der Einschätzung gelangt ist, dass Moskaus Militär an der Grenze seiner konventionellen Fähigkeiten kämpft“, berichtet die Times.

Weiter heißt es: „In Kiew ist unter offiziellen Vertretern und Zivilisten das Gefühl weit verbreitet, dass Russland, abgesehen von einer nuklearen Verschärfung, der Ukraine nicht viel mehr antun kann als das, was es bereits tut. Daher überwiegt die Verlockung, Moskaus Raketenfähigkeiten im eigenen Land zu beschneiden, allen Bedenken hinsichtlich einer Eskalation zum Trotz.“

Die Zeitung zitierte einen ukrainischen Oberst, der zu dem Schluss kommt: „Es gibt keine Reaktion... Warum? Weil die Russen einfach nicht die Kapazitäten dazu haben.“

Kritisch merkt die Times an: „Amerikanische Regierungsvertreter haben deutlich gemacht, dass sie nicht dagegen sind, wenn die Ukraine mit ihren eigenen Waffen zurückschlägt.“

Bislang reagiert die Putin-Regierung auf die Provokationen der USA und ihres Stellvertreters in Kiew mit immer neuen Luftangriffen auf die ukrainische Energieinfrastruktur, was verheerende Folgen für die Bevölkerung der Ukraine hat. Bis zu einem Viertel der Bevölkerung des Landes ist derzeit ohne Strom, sagte Selenskyj diese Woche in einer Rede.

Und obwohl die Times nicht erwartet, dass Russland mit einer Eskalation reagieren werde, haben die Ereignisse der letzten Woche offenbar eine deutliche Verschärfung des Tons auf Seiten der russischen Offiziellen bewirkt.

Ukrainische Soldaten feuern im Dezember 2022 im Donezk-Gebiet eine französische Panzerhaubitze auf russische Stellungen ab [AP Photo/Lib's]

Am 21. Dezember, als Selenskyj in Washington weilte, kündigten russische Militärs eine umfassende militärische Umstrukturierung und eine Aufstockung der russischen Armee um 30 Prozent an.

Am 22. Dezember bezeichnete der russische Präsident Wladimir Putin den Konflikt, der bis zu diesem Zeitpunkt als „militärische Sonderoperation“ bezeichnet wurde, erstmals offen als Krieg.

Am letzten Donnerstag sagte Putin auf einer Pressekonferenz, es sei nicht das Ziel Russlands, die Dynamik eines militärischen Konflikts weiter anzuheizen, „sondern im Gegenteil, diesen Krieg zu beenden“.

Am 26. Dezember forderte der russische Außenminister Sergej Lawrow einen Regimewechsel in Kiew: „Unsere Vorschläge zur Entmilitarisierung und Entnazifizierung der vom [ukrainischen] Regime kontrollierten Gebiete, zur Beseitigung der von dort ausgehenden Bedrohungen für die Sicherheit Russlands, einschließlich unserer neuen Gebiete, sind dem Feind wohlbekannt... Der Punkt ist einfach: Erfüllt sie zu eurem eigenen Besten. Andernfalls wird die russische Armee die Frage entscheiden.“

Am 25. Dezember deutete Dmitri Medwedew, der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, erstmals an, dass Russland einen Präventivschlag gegen die USA und ihre Verbündeten durchführen könnte.

„Das Einzige, was unsere Feinde heute aufhält, ist die Einsicht, dass Russland sich im Bereich der nuklearen Abschreckung von den Grundsätzen der Staatspolitik der Russischen Föderation leiten lassen wird. Und im Falle einer realen Bedrohung wird es danach handeln“, schreibt Medwedew in einem 4.500 Wörter langen Artikel für die Rossiiskaya Gazeta.

„Das Problem ist, dass in diesem Fall niemand später herausfinden wird, was es war – ein Vergeltungsschlag oder ein Präventivschlag. Das erschreckt natürlich die westlichen Wohltäter, die dem ukrainischen politischen Pöbel lange Zeit die Illusion von Unverwundbarkeit und Straffreiheit im Tausch gegen völligen Gehorsam vermittelt haben. Daher schwankt die westliche Welt zwischen dem brennenden Wunsch, Russland so weit wie möglich zu demütigen, zu beleidigen, zu zerstückeln und zu vernichten, und dem Wunsch, eine nukleare Apokalypse zu vermeiden.“

Er fragte: „Ist der Westen bereit, einen vollwertigen Krieg gegen uns zu entfesseln, einschließlich eines Atomkriegs, der von Kiew ausgeht?“

Während Selenskyj schon früher einen nuklearen Präventivschlag gegen Russland in Aussicht gestellt hatte, war dies das erste Mal, dass sich ein russischer Politiker in Bezug auf die USA so äußerte.

„Was sollte die Nato tun? Die Möglichkeit ausschließen, dass Russland Atomwaffen einsetzt“, sagte Selenskyj am 7. Oktober. „Wir brauchen Präventivschläge, damit sie wissen, was mit ihnen passiert, wenn sie Atomwaffen einsetzen, und nicht umgekehrt.“

Von Bedeutung ist, dass Selenskyj diese Äußerungen am selben Tag machte, an dem Biden davor warnte, dass der menschlichen Zivilisation bei einer Eskalation des Krieges die „Aussicht auf ein Armageddon“ drohe.

Vor Selenskyjs Besuch in den USA in der vergangenen Woche bekräftigte der ukrainische Präsident seine Aussage, dass das Kriegsziel der Ukraine die Rückeroberung der Krim sei. Zwar hatte sich die Ukraine 2021 verpflichtet, das 2014 von Russland annektierte Gebiet militärisch zurückzuerobern, doch hatten ukrainische Politiker diese Forderung in der Anfangsphase des Kriegs nicht öffentlich erhoben, um ihre Rolle in dem Konflikt als defensiv darzustellen.

Vor seiner Rede vor dem US-Kongress sagte Selenskyj in einer Fernsehansprache: „Dies ist unsere Region Luhansk, dies ist unser Süden der Ukraine, dies ist unsere Krim.“ Er fügte hinzu: „Die Ukraine wird dem Feind nichts von ihrem Besitz überlassen.“

In einem Interview mit dem Economist in der vergangenen Woche wurde Selenskyj nach seiner neuen Definition eines Sieges gefragt.

Das Magazin fragte: „Zu Beginn des Krieges haben wir Sie gefragt: ‚Was ist ein Sieg?‘ Und Ihre Antwort war: ‚So viele Menschenleben wie möglich zu retten. Denn Land ist gut, aber es ist nur ein Gebiet. Ohne Menschen bedeutet es nichts.‘ Wie hat sich Ihr Verständnis von Sieg seither verändert?“

Daraufhin wiederholte Selenskyj seine Erklärung, dass die Ukraine das Ziel verfolge, die Krim zurückzuerobern. Auf die Frage, welcher Preis dafür „zu hoch“ wäre, dass die Ukraine „bis zu den Grenzen von 1991“ vordringe, stellte Selenskyj klar, dass sein Ziel die vollständige Rückeroberung der Halbinsel sei, koste es, was es wolle.

Angesichts der massiven Ausweitung des Engagements der Vereinigten Staaten in dem Konflikt steht die Welt vor der erschreckenden Aussicht, dass die 200.000 militärischen und zivilen Opfer, die beide Seiten in diesem Krieg 2022 zu beklagen haben, nur das Vorspiel sein könnten.

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