Der Raketenangriff von Makejewka und die politische Krise in Russland

Am Neujahrstag wurden bei einem ukrainischen Raketenangriff auf eine Kaserne im Donbass möglicherweise mehrere hundert russische Soldaten getötet. In dem Bemühen, jede Verantwortung dafür von sich zu weisen, beschuldigt der Kreml seither die eigenen Soldaten.

Generalleutnant Sergej Serdjukow behauptete in einer Videobotschaft am 4. Januar, die Ukraine habe die Kaserne, in der sich die Soldaten befanden, nur deshalb treffen können, weil die Männer entgegen den militärischen Vorschriften ihre Handys benutzt hätten. Dies sei der „Hauptgrund“ dafür, dass mindestens 89 Soldaten einer einzigen Rakete zum Opfer gefallen sind – eine militärische Demütigung für Russland, die für die betroffenen Männer und ihre Familien eine Katastrophe bedeutet.

Die vom Kreml angegebene Zahl der Toten, unter denen sich der stellvertretende Kommandeur eines Regiments befindet, ist nach allgemeiner Auffassung deutlich zu niedrig angesetzt. In dem ehemaligen Schulgebäude, das dem Erdboden gleichgemacht wurde, waren etwa 600 Soldaten stationiert. Da die Soldaten über einem Munitionsdepot einquartiert waren, das sich im Keller des Gebäudes befand, war das Ausmaß der Zerstörung besonders groß.

Die Frau eines Soldaten, der die Explosion überlebte, hat der Presse berichtet, ihr Mann sei inmitten von blutigen Fleischmassen zu sich gekommen. Das Verteidigungsministerium musste bereits die Zahl der Todesopfer, die zunächst mit 63 angegeben worden war, nach oben korrigieren. Die Angehörigen der Soldaten hatten die Zahl als falsch bezeichnet.

Trotz zahlreicher Nachfragen hat der Kreml bisher noch keine Liste der Toten veröffentlicht. Kiew behauptet, die Rakete habe 400 russische Soldaten getötet und 300 verwundet. Bei den meisten von ihnen soll es sich um junge Wehrpflichtige gehandelt haben, aber es könnten auch Spezialkräfte darunter gewesen sein. Die Stadt Samara, aus der viele der Wehrpflichtigen stammten, gab bekannt, dass allein in ihren Krankenhäusern 60 – 70 Verwundete behandelt würden.

Die Ehefrauen einiger Soldaten berichteten der Presse in Samara, dass die Behörden sie in keiner Weise über das Schicksal ihrer Ehepartner informiert hatten. Sie mussten alles selbst herausfinden. Andere warten noch immer auf Informationen.

Einer kremlfreundlichen Journalistin, Anastasia Kashevarova, zufolge, werden die Überlebenden entweder zurück in den Kampf geschickt oder „irgendwo anders [hingeschickt], außer Sichtweite“. Andere, sagte sie, seien von der Staatsanwaltschaft vorgeladen, die den Vorfall untersuche. „Bitte erwähnen Sie nicht seinen Namen“, sagte eine Frau über ihren Mann der Presse. „Ich habe Angst“, sagte sie und erklärte, dass er überlebt habe und „halbnackt“ selbst ein Krankenhaus in Rostow aufgesucht habe. Diejenigen, die den Angriff miterlebt haben, „werden als überflüssige Zeugen abgeschrieben“, wie sich ein Angehöriger ausdrückte.

Die amerikanische Regierung hat ihrerseits mit ungezügelter Freude auf die Nachricht reagiert, dass die Ukraine mit einer von den USA gelieferten HIMARS-Rakete auf einen Schlag Hunderte russischer Soldaten töten konnte. Admiral a.D. John Kirby, Koordinator für strategische Kommunikation im Nationalen Sicherheitsrat, erklärte am 5. Januar, er werde „die Hände nicht in den Schoß legen“, und er fügte hinzu, Washington werde die Ukraine weiterhin mit den Systemen und der Unterstützung versorgen, die sie zu ihrer Verteidigung brauche, einschließlich weiterer HIMARS.

Die Putin-Regierung versucht, ihr Debakel zu vertuschen und die Folgen zu bewältigen, indem sie einerseits die Verantwortung den toten und verwundeten Soldaten in die Schuhe schiebt, und sie andererseits zu Helden erklärt. Am Tag nach der Behauptung des Verteidigungsministeriums, die Soldaten hätten durch das Telefonieren dem Feind ihre Koordinaten verraten, kündigte der russische Präsident eine besondere staatliche Auszeichnung für die Überlebenden des Anschlags an.

Die Fähigkeit der Ukraine, Russland mit Hilfe einer von den USA gelieferten HIMARS-Rakete einen derart massiven Schaden zuzufügen, ist zu einem nicht geringen Teil der russischen Militärplanung anzulasten. Es ist eins von zahlreichen Versagen in den letzten elf Monaten. Einem Nachrichtenbericht zufolge, könnte die Handynutzung der Soldaten bei der Weitergabe der Koordinaten an das ukrainische Militär deshalb eine Rolle gespielt haben, weil die Soldaten sich versammelt hatten, um die Neujahrsansprache von Präsident Putin anzuhören.

Der Blutzoll in Makejewka verschärft die politische Krise des Kremls. Der Tod so vieler Wehrpflichtiger, die Putin im vergangenen Jahr in einer „Teilmobilmachung“ einberufen hatte, kann die Ängste in der breiten Bevölkerung über die Kosten des Kriegs nur verstärken. Die russische Regierung hat ihn in eine Sackgasse geführt.

Der Kreml ist sich der extremen Unpopularität des Militärdienstes bewusst und hat nachdrücklich betont, dass er nicht beabsichtige, die Wehrpflicht zu verlängern, obwohl er dies sehr wohl tun könnte. Selbst unter Bedingungen, unter denen jegliche Kritik an der „besonderen Militäroperation“ verboten ist, und Verstöße mit hohen Geld- und Gefängnisstrafen geahndet werden, wird in den Nachrichten und sozialen Medien regelmäßig über Desertionen, Wehrdienstverweigerung und Proteste gegen die schlechte Ausrüstung an der Front berichtet. Gleichzeitig drücken Inflation, ausstehende Löhne und die Ausbreitung von prekären Arbeitsverhältnissen auf die Realeinkommen.

Nach Angaben des Levada-Zentrums, eines kremlkritischen russischen Meinungsforschungsinstituts, gaben im Dezember 2022 sieben Prozent weniger als im Februar, nämlich 41,2 Prozent der Befragten an, dass sie den Krieg uneingeschränkt unterstützten. Die Zahl derjenigen, die ihn „größtenteils“ unterstützen, stieg im gleichen Zeitraum um 10 Prozentpunkte. In den letzten 11 Monaten haben etwa 20 Prozent der Befragten durchwegs angegeben, dass sie mit dem Vorgehen des Kremls in der Ukraine teilweise nicht einverstanden seien.

Die Unterstützung der Bevölkerung für den Einmarsch der russischen Regierung in die Ukraine beruht auf dem Irrglauben, dass die Putin-Regierung eine Art echten Kampf gegen den amerikanischen und europäischen Imperialismus führe. Die Grausamkeit der antirussischen Politik Washingtons und seiner Nato-Verbündeten (auf die Putin in seinen Reden und Erklärungen immer wieder hinweist) ist real, und sie ist einer Bevölkerung, die beim nationalsozialistischen Versuch, die Sowjetunion von der Landkarte zu tilgen, 30 Millionen und mehr Menschenleben verlor, kaum entgangen.

Der Kreml versucht, die latente, diffuse antiimperialistische Stimmung, die aus der Tragödie und dem Heldentum des sowjetischen Siegs im Zweiten Weltkrieg resultiert, auszunutzen, um Unterstützung für seine eigene Agenda zu gewinnen. Diese hat nichts mit der Verteidigung der russischen Arbeiter zu tun, dafür aber alles mit der Verteidigung des Rechts der russischen Kapitalisten, „ihre eigene“ Bevölkerung auszubeuten. Seit Stalins Zeiten hat die russische herrschende Elite den Kampf gegen den Faschismus immer zu Unrecht als einen russischen Nationalkampf, als einen Kampf für die „nationale Verteidigung“, dargestellt.

Die Putin-Regierung ist jedoch mit dem Problem konfrontiert, dass die sowjetischen Massen, einschließlich der russischen Bevölkerung, den Faschismus nicht bekämpft haben, um den Kapitalismus oder die „russische Nation“ zu verteidigen. Vielmehr haben sie den Faschismus bekämpft, um ihre sozialistische Revolution zu verteidigen, oder das, was davon trotz Stalins Verbrechen noch übrig war. Die heutige herrschende Elite hat längst sämtliche Errungenschaften aus dem Kampf für den Sozialismus in der UdSSR liquidiert. Um sich über Wasser zu halten, klammert sie sich immer verzweifelter an den russischen Nationalismus.

Bei der Auflösung der Sowjetunion in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren war eine der zentralen Behauptungen der kommunistischen Parteibürokratie, dass der Imperialismus ein Mythos sei und die Menschen in der Sowjetunion von ihren neuen kapitalistischen Freunden nichts zu fürchten hätten. Nachdem die Stalinisten jahrzehntelang die Revolutionen der Arbeiterklasse auf der ganzen Welt unterdrückt hatten, bestanden sie (wie Michail Gorbatschow wiederholt sagte) darauf, dass das Ende des Kalten Kriegs eine neue Ära des Friedens einläuten werde. In ihrem Bestreben, sich durch die Wiederherstellung des Marktes und die Integration der UdSSR in das globale kapitalistische System zu bereichern, plünderte die Elite die sowjetische Arbeiterklasse und alle wirtschaftlichen und sozialen Ressourcen, die sie in mehr als 80 Jahren Kampf und Opferbereitschaft aufgebaut hatte.

Die Erben dieser Katastrophe, zu denen auch Präsident Putin gehört, stecken nun in einer Sackgasse. Nach Jahren der Annäherung an ihre „westlichen Partner“ müssen sie feststellen, dass der Imperialismus doch kein Mythos ist. Russland ist am Ende seiner brutalen Logik angelangt. Mit dem Einmarsch in die Ukraine dachte der Kreml, er könne eine Art Einigung mit den USA und der Nato erzwingen, die dem russischen Staat das Überleben ermöglichen würde. Stattdessen ist der Krieg eskaliert, und es gibt keinen Ausweg, wie auch immer die kommenden Wendungen aussehen werden. Der nationale Weg hat nur in die Sackgasse geführt.

Das militärische Debakel vom Neujahrstag droht, wie alle vorangegangenen Debakel der letzten elf Monate, den nationalen Mythos Russlands zu zerstören. Damit geht auch der schwache Rückhalt der Putin-Regierung in Bruch. Die frustrierte und wütende Reaktion der rechten Nationalisten im Land auf die Todesopfer von Makejewka ist in dieser Hinsicht aufschlussreich.

Igor Strelkow, ein ehemaliges Mitglied der russischen Sicherheitsdienste und führender prorussischer Aktivist im Donbass, prangerte die Verteidigungsbeamten für die offensichtliche Dummheit an, eine so große Zahl von Soldaten an einem einzigen Ort zu stationieren.

„Das kann jeden Moment wieder passieren“, warnte er am Montag auf Telegram. „Dies ist nicht die einzige derartige (extrem dichte) Stationierung von Personal und Ausrüstung in Reichweite der HIMARS-Raketen“, schrieb Strelkov bezüglich der von Washington an die Ukraine gelieferten Raketenwerfer.

„Was in Makejewka passierte, ist kriminelle Nachlässigkeit“, schrieb Pavel Gubarev, der seit 2014 auf Seiten der prorussischen Kräfte im Donbas kämpfte, auf derselben Social-Media-Plattform. „Das sind die Fehler des Frühjahrs/Sommers 2022“, sagte er und fügte hinzu, dass die russischen Truppen rund um die besetzte Zone zunehmend durch HIMARS- und andere Angriffe hinter den Linien gefährdet seien.

Der Journalist und Moskauer Duma-Abgeordnete Andrej Medwedew schrieb ebenfalls auf Telegram: „Es war allen im Voraus klar, dass die ukrainischen Streitkräfte und ihr Sicherheitsdienst in der Silvesternacht versuchen würden, dort anzugreifen, wo wir verwundbar sind. Warum gab man dem Feind diese Möglichkeit, uns zu schaden? Warum wurde die Entscheidung getroffen, Personal auf diese Weise einzusetzen? Wer hat das entschieden?“

Er fügte hinzu: „Jeder Soldat und jeder Offizier ist wichtig. Das Leben eines jeden Soldaten ist ein hohes Gut. Mit dem Ansatz, ‚Frauen werden neue gebären‘, werden wir nicht nur nicht gewinnen, sondern unsere Aussichten werden düster sein.“

Er beschuldigte die Militärs der „direkten Feindunterstützung“. Andere haben erklärt, dass eine Wiederholung der Ereignisse von Makejewka aufgrund des Versäumnisses, die Truppen intelligent einzusetzen, mit „Verrat“ gleichbedeutend sei.

Loading