Über die Ursachen des Kriegs in der Ukraine: Eine Antwort auf Gideon Rachman von der Financial Times

Dieser Artikel wurde ursprünglich als Thread auf Twitter veröffentlicht.

Der Kolumnist Gideon Rachman von der Financial Times genoss lange Zeit den Ruf, einer der nachdenklicheren Journalisten der kapitalistischen Presse zu sein. Dass er als Reaktion auf den Ukraine-Krieg das Propagandanarrativ der Nato vollständig akzeptiert, hat diesem Ruf schweren Schaden zugefügt.

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Rachmans jüngste Selbstdemontage seines Rufs ist eine Kolumne, in der er den US-amerikanischen Wissenschaftler John Mearsheimer attackiert. Mearsheimer hatte gut begründet argumentiert, dass der Plan der Biden-Regierung, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, eine existenzielle Bedrohung für Russland geschaffen und den Überfall im letzten Februar ausgelöst habe.

In der Kolumne mit dem Titel „Es ist sinnlos, den Westen für den Ukraine-Krieg verantwortlich zu machen“ erklärt Rachman, Mearsheimers Haltung zum Krieg würde „die Realität auf den Kopf stellen“.

Rachman schreibt: „Das Argument, die USA seien für den Krieg in der Ukraine verantwortlich, ignoriert ein Prinzip, das für Moral und Gesetz von grundlegender Bedeutung ist: dass die Verantwortung für einen Mord oder eine mörderische Invasion bei der Person liegt, die den Abzug betätigt oder den Befehl gibt.“

Das ist, wie jede ernsthafte historisch fundierte Studie über Krieg zeigt, eine völlig banale und falsche Analogie. Individuelle Tötungsdelikte und Kriege zwischen Staaten unterscheiden sich durch völlig unterschiedliche Ebenen der Kausalität.

Kriege ergeben sich aus der komplexen Interaktion sozialer, wirtschaftlicher und geopolitischer Prozesse und Interessen im Weltmaßstab. Die wirkliche Ursache eines Kriegs wird selten damit beantwortet, wer „den ersten Schuss“ abgegeben hat.

Bei der Suche nach den Ursachen eines Kriegs befassen sich Historiker mit dem Zusammenspiel von innerstaatlichem und internationalem Druck auf die wichtigsten staatlichen Akteure und Entscheidungsträger.

Zudem versuchen die Konfliktparteien im Vorfeld eines Kriegs oft, ihren potenziellen Gegner durch Manöver dazu zu bringen, mit Feindseligkeiten zu beginnen, um sich den politischen und propagandistischen Vorteil zu verschaffen, die moralische Überlegenheit für sich beanspruchen zu können.

Doch je weiter der Krieg sich entwickelt und die zugrundeliegenden Fragen und Ziele in den Fokus rücken, um so unwichtiger wird die Bedeutung des „ersten Schusses“ als erklärender Faktor. Der Amerikanische Bürgerkrieg begann mit dem Angriff auf Fort Sumter 1861, aber er war nicht die „Ursache“ des Konflikts.

Die Ermordung von Erzherzog Ferdinand in Sarajevo 1914 lieferte den Vorwand für einen Krieg, der bereits seit langem vorbereitet worden war. Doch die Ermordung war nicht die wesentliche Ursache des Ersten Weltkriegs.

Was den derzeitigen Krieg in der Ukraine angeht, so ging der russischen Invasion am 24. Februar 2022 eine lange Kette von Ereignissen voraus. Rachman scheint vergessen zu haben, dass in der Ostukraine seit 2014 Krieg herrscht, der mehr als 14.000 Todesopfer gefordert hat.

Zudem wurden die Kämpfe in der Donbass-Region durch den Sturz der pro-russischen gewählten Regierung in Kiew ausgelöst, in einem Putsch, der von den USA unterstützt und größtenteils finanziert wurde.

Der Ursprung des Kriegs lässt sich noch weiter zurückverfolgen, mindestens bis zur Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991, die eine Kettenreaktion nationaler und ethnischer Konflikte nach sich zog. Ein ähnlicher Prozess entwickelte sich in Jugoslawien nach dessen Zerfall 1990–91.

Es gibt noch ein weiteres Problem in Rachmans Argumentation. Er behauptet, Russland verhalte sich anders als andere Nationen, weil es von einem sehr bösen Mann namens Wladimir Putin geführt wird. Rachman schreibt, der „Charakter eines Staats und seiner Führer spielt sehr wohl eine Rolle“.

Putins Bosheit erklärt, warum Russland einen nicht zu rechtfertigenden Krieg begonnen hat.

„Präventivkriege werden manchmal als akzeptabel betrachtet – aber nur wenn ein rivalisierender Staat kurz vor dem Angriff steht.

Die Ukraine war letztes Jahr offenkundig nicht in dieser Position. Doch wenn Mearsheimer diesen Punkt verwischt, macht er sich zu einem unwissentlichen Verteidiger von Putins Angriffskrieg.“

Doch durch diese Anklage gegen Mearsheimer fängt sich Rachman in seiner eigenen Schlinge.

Selbst wenn man akzeptiert, dass Putins Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, rechtswidrig war, weil Russland kein unmittelbarer Angriff drohte, übergeht Rachman die Tatsache, dass sich die USA genauso rechtswidrig verhalten haben, als sie in Afghanistan und den Irak einmarschiert sind.

Dieses Ausweichen entlarvt die entscheidende Schwäche von Rachmans Argument: In seiner Analyse der Kriegsursachen ignoriert er vollständig die Politik der USA und der Nato in den letzten 30 Jahren.

Rachman erkennt nicht an, dass es einen Zusammenhang zwischen den „endlosen Kriegen“ der USA – die zu Regimewechseln, der Ermordung von Staatschefs und massenhaften zivilen Todesopfern geführt haben – und der geplanten Aufnahme der Ukraine in die Nato gab.

Dass er jede kritische Bewertung der Ursache des Kriegs vermeidet, macht ihn – in Anlehnung an die Worte, die er gegen Mearsheimer benutzt hat, – zu einem „unwissentlichen Verteidiger“ der Nato.

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