Die Proteste gegen Netanjahu und die Sackgasse des Zionismus

Am Samstagabend versammelten sich in Tel Aviv mehr als 130.000 Menschen zu einer weiteren Demonstration gegen die Regierung des faschistischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Weitere 100.000 kamen in 60 Städten und Großstädten in ganz Israel zusammen. Laut den Veranstaltern nahm insgesamt eine Viertelmillion Menschen an den Protesten teil.

Dies war bereits der siebte wöchentliche Protest in Folge gegen Netanjahus Pläne, seine Regierung mit diktatorischen Vollmachten auszustatten. Netanjahu setzt eine Agenda um, die sich ausschließlich an den Bedürfnissen der israelischen Oligarchen orientiert.

Demonstration vom 14. Januar 2023 in Tel Aviv gegen die Pläne der Regierung, das Rechtssystem des Landes grundlegend zu ändern [AP Photo/Oded Balilty]

Ende letzten Jahres stellte Netanjahu, der dienstälteste israelische Ministerpräsident, eine Koalition aus rechtsextremen, rassistischen und ultrareligiösen Politikern zusammen. Nach vier Jahren zunehmender Instabilität sind sie nun dabei, das Westjordanland, das Israel seit dem Sechstragekrieg 1967 unrechtmäßig besetzt hält, vollständig zu annektieren. Sie bekennen sich zur Apartheid, wie im „Nationalstaatsgesetz“ verankert, das die jüdische Vorherrschaft als rechtliche Grundlage des Staats festschreibt, und zum jüdischen Gebet in der Al-Aqsa-Moschee.

Die schon stark unterhöhlten Maßnahmen gegen Diskriminierung wollen sie durch umfassende Änderungen am israelischen Rechtssystem ganz abschaffen. Insgesamt geht es ihnen darum, die Unterdrückung der Palästinenser, aber auch der Arbeiter jüdischer und palästinensischer Herkunft in Israel selbst, durch Polizei und Militär zu verschärfen.

Bezalel Smotrich, ein Siedler und Anführer der ultranationalistischen Partei HaTzionut HaDatit (Der religiöse Zionismus), hat von Netanjahu eine wichtige Funktion erhalten: Er ist nicht nur Finanzminister, sondern auch Verantwortlicher für die israelischen Siedlungen im Westjordanland, die er weiter ausbauen wird.

Eine weitere Schlüsselfigur ist Itamar Ben-Gvir, der Parteichef von Otzma Jehudit (Jüdische Stärke) und früher Mitglied der in Israel verbotenen Partei Kach, die 25 Jahre lang auf der Liste der terroristischen Organisationen des US-Außenministeriums stand. Er ist für die nationale Sicherheit zuständig, kontrolliert die Polizei und baut die Nationalgarde zu seiner eigenen Miliz auf, um die Militärherrschaft in Israels gemischt palästinensisch-jüdischen Städten durchzusetzen. Seine erste Amtshandlung war ein provokanter Besuch in der Al-Aqsa-Moschee im israelisch besetzten Ost-Jerusalem, der drittheiligsten Stätte des Islam.

Netanjahu, gegen den mehrere Verfahren wegen Korruption laufen, ernannte den Schas-Parteichef Arieh Dery, der schon dreimal wegen finanziellen Fehlverhaltens verurteilt worden ist, zum Gesundheits- und Innenminister. Diese Entscheidung wurde inzwischen vom Obersten Gerichtshof für „unangemessen“ erklärt.

Inzwischen hat die Knesset in erster Lesung wesentliche Bestandteile des „Justizreform“-Gesetzes gebilligt. Die Regierung soll mehr Macht im Richterauswahlkomitee erhalten, indem eine größere Zahl der Richter politisch berufen wird. Außerdem sollen die Gerichte nicht mehr über Entscheidungen oder Handlungen urteilen dürfen, die nach Ansicht der Richter im Konflikt mit den Grundgesetzen Israels stehen. Noch nicht abgestimmt wurde im Parlament über die geplante Bestimmung, dass die Knesset Entscheidungen des obersten Gerichts mit einfacher Mehrheit widerrufen kann, während das Oberste Gericht bei der juristischen Überprüfung von Gesetzen nur einstimmige Entscheidungen treffen darf. Zusammengenommen würden diese Vorschriften der Regierung eine unanfechtbare Macht verleihen.

Netanjahus Pläne haben den Zorn fast des gesamten juristischen Establishments sowie von einer Schicht säkularer Generäle und Oppositionsführer erregt, die unter Führung von Naftali Bennett, Jair Lapid und Benny Gantz für kurze Zeit die israelische Regierung gebildet hatten. Allerdings hatten viele ehemalige Mitglieder dieser zu Unrecht so bezeichneten „Regierung des Wandels“ in der Vergangenheit auch schon unter Netanjahu gedient.

Inzwischen sprechen Kommentatoren in Israel und der Welt nicht nur von einer Verfassungskrise, sondern auch von einem möglichen Bürgerkrieg.

Netanjahus Koalitionspartner fordern, Lapid und Gantz sowie die ehemaligen Generäle Moshe Ya'alon und Yair Golan wegen „Vaterlandsverrats“ anzuklagen. Weil sie den Protest gegen den faktischen Putsch im Justizwesen anführen, wirft die Regierung ihnen vor, sie hätten zu „allgemeinem zivilem Ungehorsam“ aufgerufen. Netanjahus Partei Likud hat bei der Polizei Anzeige gegen den ehemaligen Ministerpräsidenten Ehud Barak und gegen oppositionelle Aktivisten wegen Aufwiegelei und zivilem Ungehorsam erstattet.

Polizeipräsident Kobi Shabtai bereitet seine Kräfte darauf vor, jeden Widerspruch zu unterdrücken. In einer Fernsehansprache erklärte er: „Die derzeitige Lage raubt mir den Schlaf. Wir befinden uns auf abschüssigem Gelände.“ Weiter erklärte er, die Behörden würden Vorkehrungen gegen Attentate treffen, und er habe eine Spezialeinheit zur Bekämpfung von Aufrufen zur Gewalt aufgestellt: „Die israelische Polizei wird keine gewalttätigen Äußerungen oder Veröffentlichungen zulassen, die zu Gewalt und zur Schädigung von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens oder anderen Personen auffordern.“

Auf den Kundgebungen sprachen der ehemalige General Moshe Ya'alon, Lapid und Gantz. Es sind rechte Politiker, die kaum politische Differenzen mit Netanjahu haben und nur befürchten, dass seine von faschistischen Kräften unterstützte Machtübernahme die Stabilität der kapitalistischen Herrschaft und des israelischen Staates gefährdet.

Viele Demonstranten trugen bei den Kundgebungen am Samstag israelische Flaggen und riefen „Nein zur Diktatur“ und „Demokratie“. Einige forderten Netanjahus Geldgeber in Washington auf, der neuen Regierung Einhalt zu gebieten. Dies ist jedoch so vergeblich wie irreführend.

Der US-amerikanische Botschafter Tom Nides forderte Netanjahu zwar auf, „auf die Bremse zu treten“, betonte aber, die USA würden „Israel in Sicherheitsfragen und bei der UNO weiterhin den Rücken stärken“. Allen Meinungsverschiedenheiten über die Regierungsvorhaben für das Justizwesen und die Ausweitung der Siedlungen zum Trotz bekräftigte der Botschafter: „Auch wenn’s schwer fällt, ... man kann zu seinem Verbündeten eine großartige Beziehung haben, auch wenn man sich manchmal nicht einig ist.“

Einige wenige Demonstranten widersetzten sich dem aufgezwungenen zionistischen Konsens. Plakate mit Aufschriften wie: „Rechte nur für Juden sind keine Demokratie“, und: „Eine Nation, die eine andere Nation besetzt hält, wird niemals frei sein“ auf Arabisch, Hebräisch und Englisch stellten einen Zusammenhang zwischen der jahrzehntelangen israelischen Besatzung der Palästinensergebiete mit dem Niedergang der Demokratie her.

Die Gewerkschaften des Dachverbands Histadrut unterstützen die Demonstrationen nicht, sondern tun alles in ihrer Macht Stehende, um die Streiks und Proteste der Arbeiter gegen die Regierung zu begrenzen.

Die Anführer der Demonstrationen lehnen es ab, an die palästinensische Bevölkerung Israels zu apellieren. Bei früheren Demonstrationen haben sie Palästinenser abgewiesen und setzten das von Ben-Gvir initiierte Verbot palästinensischer Flaggen begeistert und oft gewaltsam durch. Deshalb nehmen bisher nur wenige Palästinenser an den Protesten teil.

Auch werden die Slogans darauf beschränkt, das Oberste Gericht zu verteidigen, welches doch das Jüdische Nationalstaatsgesetz angenommen hat, ohne mit der Wimper zu zucken, und Siedlungen, Landnahme und Zwangsräumungen wie beispielsweise im Ost-Jerusalemer Stadtteil Scheich Jarrah bewilligt.

Netanjahus Versuche, die gelegentliche und begrenzte Kontrolle der Regierung durch das Oberste Gericht abzuschütteln, gehen Hand in Hand mit verstärkten Polizeistaatsschikanen. Nicht nur in den besetzten Gebieten, sondern auch in Israel selbst häufen sich die Verhaftungen, Leibesvisitationen, Festnahmen an Kontrollpunkten und Repressionen gegen Palästinenser.

Es vergeht kaum ein Tag, ohne dass die Polizei oder bewaffnete Siedler einen oder mehrere Palästinenser töten. Durch neue Gesetze werden den Familien von Palästinensern, denen Terrorismus vorgeworfen wird, ihr Aufenthaltsrecht oder die Staatsbürgerschaft aberkannt, wenn sie finanzielle Hilfe von der Palästinenserbehörde angenommen haben. Der Entzug des Aufenthaltsrechts in Israel, der derzeit 140 israelischen Palästinensern und 211 Palästinensern aus Ost-Jerusalem droht, wäre ein offener Verstoß gegen das Völkerrecht.

Für Juden will die Regierung das Tragen von Waffen zulassen, was einer Legitimierung von Bürgerwehren gleichkommt. Sie hat neun Siedler-Außenposten im besetzten Westjordanland anerkannt und den Bau von 10.000 Häusern in den bestehenden Siedlungen bewilligt. Daraufhin wurde für Sonntag zu einem Generalstreik in Ost-Jerusalem aufgerufen.

Auch wenn tausende Menschen aus tiefer demokratischer Überzeugung an den Kundgebungen teilnehmen, führen die Proteste unter ihrer jetzigen Führung und Perspektive in die Sackgasse, denn sie bewegen sich auf der Grundlage einer „jüdischen nationalen Einheit“ und stellen die Unterdrückung der Palästinenser und die Herrschaft der Finanzoligarchie nicht in Frage.

Israel gehört zu den Ländern mit der stärksten sozialen Polarisierung auf der Welt. Im Jahr 2021 gab es 71 Milliardäre, was der zweithöchste Pro-Kopf-Anteil weltweit ist. Die reichsten zehn Prozent der Israelis kontrollieren 62 Prozent des Reichtums, und das oberste Prozent verfügt über 31 Prozent des Reichtums.

Die herrschende Elite streicht seit Jahren Sozialprogramme und wichtige öffentliche Leistungen wie das Bildungs-, Gesundheits- und Verkehrswesen zusammen, auf welche die israelischen Arbeiter angewiesen sind. Im Rahmen der Politik des „freien Marktes“ wurden Löhne und Arbeitsbedingungen immer wieder angegriffen.

Dieses enorme Wohlstandsgefälle und die daraus resultierenden scharfen sozialen Spannungen sind der Grund für den giftigen Nationalismus des zionistischen Regimes. Es setzt Maßnahmen im Stil der Apartheid um und verschärft die Angriffe auf die Palästinenser. In der Außenpolitik provoziert es den Iran und seine Verbündeten in Syrien, dem Libanon, dem Gazastreifen und dem Jemen mit dem Ziel, jüdische Israelis unter der Flagge des Zionismus zu versammeln und die wachsenden sozialen und politischen Spannungen nach außen abzulenken.

Eine politische Offensive gegen den israelischen Staat kann nur erfolgreich sein, wenn er sich auf die gemeinsame Klassengrundlage der jüdischen und palästinensischen Arbeiter, einschließlich in den besetzten Gebieten, stützt. Er muss sich nicht nur gegen die israelische Regierung wenden, sondern auch gegen ihre imperialistischen Hintermänner, wie auch gegen die bürgerlichen arabischen Regimes, die sich offen hinter Israel gestellt haben.

Im Kampf gegen die Errichtung einer Diktatur können israelische Arbeiter allein, ohne die Unterstützung der Palästinenser, keinen Schritt vorwärts machen. Das zionistische Projekt eines jüdischen Staates, das auf der ethnischen Säuberung der einheimischen Palästinenser beruht, muss zurückgewiesen werden! Israelische und palästinensische Arbeiter müssen gemeinsam für den Sturz des kapitalistischen Profitsystems kämpfen; sie müssen den nationalstaatlichen Rahmen sprengen, auf dem dieses basiert. Dies erfordert einen Kampf für die sozialistische Umgestaltung der Wirtschaft im ganzen Nahen Osten, um seine immensen Ressourcen zum Nutzen aller Völker einzusetzen.

Eine solche Perspektive ist gegen alle Parteien und Organisationen gerichtet, die die Arbeiterklasse einem Bündnis mit einer der imperialistischen Mächte oder den arabischen Regimes unterordnen. Sie erfordert den Aufbau von Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in Israel, Palästina und dem ganzen Nahen Osten, um diesen Kampf zu führen und zu organisieren.

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