73. Berlinale: Jakob der Lügner – die DDR Urfassung

Der Film Jakob der Lügner ist den meisten durch die Hollywoodverfilmung von 1999 (Regie: Peter Kassovitz) geläufig. Die Berlinale zeigte dieses Jahr den ursprünglichen Film von 1974 aus der DDR (Regie: Frank Beyer / Drehbuch: Jurek Becker). Den tschechischen Hauptdarsteller Vlastimil Brodsky hatte die Berlinale 1975 mit einem Silbernen Bären geehrt. Jakob der Lügner ist der einzige DDR-Film, der für einen fremdsprachigen Oscar nominiert wurde.

Manuela Simon und Vlastimil Brodský in "Jakob der Lügner" [Photo by Herbert Kroiss / DEFA-Stiftung]

Die Handlung spielt 1944 in einem jüdischen Ghetto in Polen. Die sowjetische Armee marschiert Richtung Westen. In das streng isolierte Ghetto dringt keine Nachricht. Jakob, der wegen angeblichen Überschreitens der Sperrstunde zur SS muss, erfährt dort zufällig, dass die Rote Armee nicht mehr weit ist.

Als der hungrige Mischa (Henry Hübchen) leichtsinnig sein Leben riskiert, um an Kartoffeln zu kommen, sagt Jakob, die „Russen“ seien bald da. Doch Mischa glaubt die Sache mit der SS nicht. Niemand kam bisher lebend zurück. So schwindelt Jakob, er besäße ein Radio, was ihn selbst in Lebensgefahr bringt. Aber das Ghetto schöpft Hoffnung. Niemand bringt sich mehr um. Die kleine Lina bedrängt Jakob, ihr das Radio zu zeigen. Und weil sie noch nie eins gesehen hat, hält sie die Petroleumlampe dafür. Lina darf das „Radio“ nur hören. Jakob mimt aus dem Nebenzimmer den Radio-Märchenonkel.

Jeden Tag muss Jakob für die Ghettobewohner neue Nachrichten erfinden. Auf die Dauer geht es über seine Kräfte, zumal Deportationen beginnen wegen der näher rückenden Roten Armee. Er erklärt, das Radio sei kaputt. Doch die Nachbarn finden einen Rundfunkmechaniker. Jakob sagt die Wahrheit, worauf sich sein Freund, der Friseur Kowalski (Erwin Geschonneck), das Leben nimmt. Am Ende des Films rollt der Deportationszug in Richtung Auschwitz.

Becker und Beyer wählten bewusst diesen Schluss, sachlich und ohne Märtyrer, anders als die Hollywood-Verfilmung, wo Jakob sogar eine Widerstandsgruppe anführt. Gerade das wollten Beyer und Becker nicht – einen Helden, der über der Masse steht. Beyer meinte ironisch, das Happy-End des Hollywood-Films erinnere ihn etwas an den „Sozialistischen Realismus“ der Stalinzeit.

In den 1960er Jahren hatte das Kinopublikum der DDR die Nase voll von schablonenhaften Kommunisten, die von ebensolchen Nazis gejagt wurden, während die einfache Bevölkerung eine Statistenrolle spielte. Es entstanden Alltagsfilme, die das DDR-Leben realistisch schilderten und damit existentielle Fragen bezüglich der DDR selbst aufwarfen. Die gesamte Filmproduktion der DEFA 1965/66 wurde verboten, darunter Frank Beyers Bauarbeiter-Komödie Spur der Steine.

Die Filme, von denen die SED behauptete, sie würden die Bevölkerung aufwiegeln, reflektierten die angespannte Situation wenige Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer. Sie warfen der SED mehr oder weniger vor, die arbeitende Bevölkerung, insbesondere die Jugend, daran zu hindern, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Mit anderen Worten, sie forderten die von der Partei propagierte Macht der Arbeiterklasse ein. Dieser demokratische Geist beeinflusste auch das Drehbuch zu Jakob der Lügner, das Becker Ende 1966 einreichte.

Der Film kommt ohne die üblichen belehrenden und organisierenden stalinistischen Funktionäre aus. Aus dem historischen Jakob Heym, der bewusst gegen das Verbot verstieß, ein Radio zu besitzen, wurde der fiktive, unpolitische ehemalige Pufferbäcker Jakob, der kein Radio besitzt und rein zufällig in eine Situation gerät, auf die er (nicht zufällig) spontan menschlich reagiert. Statt der Rekonstruktion eines realen Ghettos mit überfüllten Straßen, Wohnungen und herumliegenden Leichen, konzentriert sich der Film auf die sensibel gespielten Hauptfiguren.

Jakob der Lügner konnte erst 1974 realisiert werden, da Beyer nach Spur der Steine keine Kinofilme mehr drehen durfte. Inzwischen hatte Becker das Drehbuch zu einem erfolgreichen Roman entwickelt, für dessen Verfilmung sich auch das westdeutsche ZDF interessierte. Der in der BRD lebende alte deutsche Filmstar Heinz Rühmann war bereit, für die Hauptrolle des Jakob auch in der DDR-Produktion mitzuspielen.

Das verhinderte Staats- und Parteichef Erich Honecker persönlich. Die DDR war 1973 durch ihre Aufnahme in die UNO als selbstständiger Staat anerkannt worden. „Es sollte alles vermieden werden, was auf eine einheitliche Kulturnation hinweisen könnte“, so Beyer in seiner Autobiografie.

Auch mit dem damaligen Bruderland Polen, gab es Schwierigkeiten. Für den Film engagierte polnische Schauspieler durften nicht anreisen. „Das hing wohl mit dem Verhältnis der Polen mit ihren jüdischen Mitbürgern zusammen. Neben Akten der Solidarität während des Krieges gab es ja auch Antisemitismus und Verrat. Das war aber damals ein Tabu in Polen.“

Zwischen 1966 und 1974, als das Filmprojekt auf Eis lag, änderte sich die Stimmung in der DDR. Die Zeit der radikalen Forderungen war vorbei. In um Realität bemühten Alltagsfilmen ging es nun darum, sich innerhalb des Unabänderlichen Freiräume zu erkämpfen, wie das Recht auf Privatleben, auf ein privates Glück. So in Beyers Fernsehmehrteiler Die sieben Affären der Dona Juanita (1973) oder Heiner Carows zum Kultfilm avancierten Werk Die Legende von Paul und Paula (1973). Der Film Jakob der Lügner, in seiner poetischen wie nüchternen Grundhaltung passt gut in diese Zeit.

Die Berlinale-Aufführung des alten DDR-Klassikers Jakob der Lügner ist eine willkommene Wiederentdeckung. Nicht zuletzt erinnert der Film an die große Hoffnung, die mit der Existenz der Sowjetunion verbunden war, deren Armee, in der ukrainische und russische Soldaten gemeinsam kämpften, Europa vom Faschismus befreite.

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