73. Berlinale: „Wie schaffen es Menschen, in dieser Welt zu leben?“ – Junge Stimmen in Kurzfilmen

Oftmals spiegeln die ersten Filmversuche von jungen Regisseuren direkter und unmittelbarer die Umbrüche der Gegenwart wider, als dies in ausgereiften Filmprojekten bereits etablierter Regisseure der Fall ist. So auch bei der diesjährigen Berlinale.

Besonders beeindruckend waren einige Beiträge aus Frankreich, die mit erfrischend offener und ehrlicher Sprache und teilweise überraschend experimentellen Mitteln das gegenwärtige Lebensgefühl der jungen Generation darzustellen versuchen.

Nuits blanches

„Weiße Nächte“ (der deutsche Titel lautet „schlaflose Nächte“) sind zum Feiern da, für Tanz, Spaß und jugendliche Träume. Doch der Film Nuits blanches zeigt das Gegenteil. Die 30 Jahre alte Regisseurin Donatienne Berthereau versetzt den Zuschauer in ein politisch aufgewühltes Paris, mitten in den Präsidentschaftswahlkampf im April 2022. Es ist die Zeit zwischen beiden Wahlgängen, kurz vor der Stichwahl.

Nuits blanches [Photo by Les Films du Sursaut]

Wenn die Kamera über abgerissene und verunstaltete Plakate der beiden Kandidaten schwenkt, erahnt der Zuschauer die Stimmung im Lande: Die Wähler können nur noch zwischen Pest und Cholera wählen – zwischen dem verhassten „Präsidenten der Reichen“ Emmanuel Macron und der neofaschistischen Kandidatin Marine le Pen.

Dann ein Szenenwechsel. Ein fast barockes Bild, zwei junge Frauen, nackt, die eine hält die andere im Arm wie eine Mutter. Es ist die Protagonistin Solène mit ihrer Geliebten. Doch der gleichgültige Gesichtsausdruck passt nicht dazu. Solène, kokainsüchtig, löst sich fast unwillig aus der Umarmung, um später bei einer Kundgebung in Paris aufzutauchen und schließlich in einer Nachtbar die Gläser zu waschen. Daneben entbrennt eine hitzige Debatte einiger junger Bar-Besucher über die Stichwahl. „Man muss betrunken sein, um Macron zu wählen“, sagt der eine. „Macron oder Marine sind doch gleich.“ „Du musst Le Pen verhindern“, entgegnet der andere. „Macron ist Scheinfaschist, Le Pen echte Faschistin.“

Soléne ist uninteressiert, geht nach hinten, schnupft eine Dosis Kokain. Später sieht man sie im Drogentaumel in einem Techno-Club und danach im Bett mit einem jungen Mann. Ihre Gleichgültigkeit betrifft auch das Körperliche, Sexuelle. Ihre Freundin, die ihr deshalb Vorwürfe macht, verlässt sie schließlich. Solène läuft am Ende allein durch die Straßen, sitzt am Seine-Ufer, in der Hoffnung auf eine Handynachricht ihrer Freundin, und grübelt: „Wie schaffen es Menschen, in dieser Welt zu leben?“

Als eine antifaschistische Demonstration mit lauten Sprechchören, Pfeifen und Trommeln vorbeizieht, offensichtlich ein Protest der Bewegung „La France insoumise“ („Unbeugsames Frankreich“) des pseudolinken Politikers Jean-Luc Mélenchon, schließt sie sich für einen kurzen Moment an, ohne Engagement. Der Film endet düster, ohne Perspektive: Vor einem Denkmal, mit einem Antifa-Slogan bemalt, haben sich schwerbewaffnete CRS-Polizisten (französische Bereitschaftspolizei) aufgepflanzt.

Solènes Perspektivlosigkeit und Gleichgültigkeit sind der negative Ausdruck einer explosiven Spannung in der jungen Generation. Zwei rechte Kandidaten, die beide unwählbar sind, ein aussichtsloser Protest von pseudolinken Gruppen und die Bedrohung durch den Polizeistaat – das ist die düstere Wirklichkeit, wie sie Solène wahrnimmt. Sie sieht nicht den tatsächlichen sozialen Gegenpol, die Arbeiterklasse, die jetzt in Frankreich mit Macht auf die Bühne tritt und in Massenstreiks und Proteste getrieben wird.

Das Umfeld, in dem Solène verkehrt und das auch dem der Regisseurin entspricht, ist stark geprägt von der Zeit seit den 1990ern nach dem Ende der Sowjetunion, in der Individualismus, Konzepte von „Selbstverwirklichung“, „Selbstfindung“ oder „Suche nach der eigenen Identität“ propagiert wurden. Eine breite Schicht von Studierenden, jungen Kultur- und Filmschaffenden und Selbstständigen, die sich von Projekt zu Projekt hangeln, ist weitgehend von der Arbeiterklasse abgeschnitten.

Vor allem junge Menschen im Künstlermilieu, die sich mit prekären Beschäftigungen wie Solène als Barkellnerin über Wasser halten, sind oftmals von pseudoradikalen, halbanarchistischen Vorstellungen beeinflusst. Doch das ist eine Sackgasse. Drogenabhängigkeit und Depressionen sind, wie die Regisseurin selbst beklagt, verbreitet. Einen Ausweg gibt es nur in Verbindung mit den erneuten Kämpfen der Arbeiterklasse in Frankreich und weltweit.

In ihrem Statement für die Berlinale beschreibt die Regisseurin ihr Motiv mit den Worten: „Die Figur der Solène mag unsympathisch oder sozial negativ erscheinen, aber sie bringt die zunehmend schwierige Herausforderung zum Ausdruck, ‚seinen Platz in der Welt zu finden‘, in einer Welt, in der soziale Gewalt und politische Absurdität jede Zukunftsaussicht schwinden lässt.“

Sie spricht sich gegen Apathie aus und betont: „Wenn die Welt uns keine Aufmerksamkeit schenkt, wenn uns nur noch eine erschreckende und abstoßende Zukunft vor Augen geführt wird, wie können wir dann leben, ohne uns selbst um uns und die anderen zu kümmern? Können wir einen Ort finden, wo wir hingehören, wenn wir uns nur noch in uns selbst verkriechen?“

Les Chenilles

Den Goldenen Bären für Kurzfilm erhielt verdienterweise der französische Film Les Chenilles (Die Raupen) von Michelle und Noel Keserwany, zwei Schwestern aus dem Libanon, die in ihrer Heimat unter Jugendlichen durch Musikvideos bekannt und beliebt wurden. Er erzählt von zwei jungen Frauen aus der Levante, die es auf der Suche nach einer Lebensperspektive in die französische Industriestadt Lyon verschlagen hat, wo sie sich als Kellnerinnen in einem Café verdingen. Die Freundschaft, die sich zwischen ihnen entwickelt, verknüpfen die Filmemacherinnen mit der Geschichte der Seidenstraße und der Ausbeutung der Arbeiterinnen in den Seidenfabriken des 19. Jahrhunderts.

Michelle und Noel Keserwany [Photo by Richard Hübner / Berlinale 2023]

Asma (Masa Zaher) aus Syrien lebt schon seit fünf Jahren in Lyon, ist bereits eine erfahrene Angestellte des Straßencafés. Sarah (Noel Keserwany) ist erst vor kurzem aus dem Libanon gekommen und lebt in einer Sammelunterkunft. Das Verhältnis zwischen beiden Frauen ist anfangs gespannt. Sarah macht Fehler bei der Arbeit, ist noch von ihrer Flucht nach Frankreich traumatisiert, Asma dagegen fühlt sich erfahren und gut integriert. Doch beginnt sie, der neuen Kellnerin gegen die Schikanen von Chef und Gästen zu helfen.

Nach einer durchwachten Nacht auf einer Bank an der Saône – Asma hat ihren Wohnungsschlüssel verloren, Sarah hat keine Lust auf die Sammelunterkunft – sind sie Freundinnen. Wenn Asma sich wohlig an die Schulter von Sarah lehnt, schaut sie auf die Statue im Zentrum von Lyon vor dem Justizpalast, die das Künstlerduo Michael Elmgreen und Ingar Dragset entworfen hat: Die Skulptur mit dem Titel „Das Gewicht des Selbst“ zeigt eine nackte männliche Figur, die eine andere männliche Figur mit dem gleichen Gesicht auf seinem Arm hält. Die Frauen interpretieren sie mit den Worten: „Wenn man den anderen hält, hält man sich selbst.“

In diesem Film geht es nicht um Gender, wie die Jury dies in ihrer Begründung behauptet. Trotz seiner Orientierung auf Frauenfiguren und ihre Sehnsüchte geht es Les Chenilles nicht um den Kampf der Geschlechter, sondern um die Klassenwidersprüche in der kapitalistischen Produktion, die der Diskriminierung der Frau zugrunde liegen.

Die Freundschaft von Asma und Sarah wächst auf der Grundlage von Solidarität, wie unter den Arbeiterinnen der Seidenfabriken. Sie entwickelt sich nicht auf der Basis ihrer weiblichen Körper, in die „die Folgen der Kolonialisierung eingeschrieben sind“, wie es die Kurzfilmjury in ihrer absurden Begründung für die Preisvergabe beschreibt. Ihre Freundschaft führt auch nicht dazu, dass, „wenn die dritte Person zu einem ‚Ich‘ wird“, sie „nicht länger Objekte der Ausbeutung“ sind, sondern sich „in Subjekte verwandeln“.

Tatsache ist, dass Sarah und Asma sich weiterhin für wenig Geld ausbeuten lassen müssen. Das blumige Bild der titelgebenden Seidenraupe, mit der der Film beginnt und die laut einem japanischen Fürsten am liebsten zwischen den Brüsten der Frau lebt, ist in dieser Hinsicht eine ironisierende Metapher für die Tatsache, dass Millionen Frauen Seide produzieren, ohne Seide kaufen zu können – und dies im übertragenen Sinne noch heute tun.

Huit (8)

Der surreal und phantastisch wirkende Film Huit (8), ebenso in Frankreich produziert,folgt einem Kind (Fatime Coulibaly), Tochter eines farbigen Hausmeisters, das „zu träumen lernt in einer verschlafenen Welt“. Es versucht, vergeblich, einen Laserstrahl zu fangen. Er flackert bei ihrer schlafenden Mutter, entschwindet in der Klimaanlage des Hochhauses, wo ihr Vater arbeitet, und als das Mädchen ihre Träume auf Zettelchen hinterherschickt, ist die Anlage plötzlich verstopft, fängt zu tropfen an.

Huit (8) [Photo by Screenshot]

„Geld, Ruhm, Erfolg – verlockend, aber ich habe keinen Bock darauf“, ist das Lebensgefühl einer Gruppe Jungens in der tristen Wohnsiedlung, die dem Filmteam auf ihre Fragen antworten. Und dies betrifft auch drei junge Mädchen, die vor ihren Bildschirmen sitzen. „Wenn du dich in der Welt langweilst, wie sie ist, kannst du deine eigene Geschichte erfinden“, ist ihr Motto.

Eines der drei Mädchen schaut dem Zuschauer ins Gesicht und sieht doch nur den Bildschirm vor sich. Sie erzählt von einem Präsentationsvideo auf TikTok, wo eine Frau verspricht, „die Träume realer zu machen“. Man könne mit ihrer Methode stundenlang „auf den Herzschlag hören“. Das will sie lieber nicht machen, sagt das Mädchen: „Man muss bloß bezahlen, damit man schlafen und sich ausruhen kann“. Auch sie ist von einem Laserpunkt gefangengenommen und versucht, ihn zu schlucken.

„Dieser Film ist in gewisser Weise postapokalyptisch“, sagt die französisch-chilenische Regisseurin Anaïs-Tohé Commaret, die ihre filmische Methode als „magischen Realismus“ beschreibt: „Anstatt zu zeigen, dass das Universum durch eine Atombombe verwüstet wurde, zeigt er eine Apokalypse durch den Kapitalismus, d.h. isolierte Individuen, die Schwierigkeiten haben, miteinander zu kommunizieren, gefangen in einer unendlichen Langeweile, depressiv.“

Den Filmtitel „8“ habe sie bewusst gewählt, weil die zwei Schleifen dieser Zahl sich nie treffen. Sie habe in ihrem Film mit dem Sound und den Bildern ein herabdrückendes Gefühl erzeugen wollen, erklärt sie weiter. „In der heutigen kapitalistischen Gesellschaft sind wir so sehr unter Druck, erfolgreich zu sein, berühmt und reicher zu werden, unsere eigene Stimme zu finden, dass es uns regelrecht niederdrückt oder sogar erdrückt. Und in ‚8‘ sehen wir das bei den schwächsten Menschen, den Jugendlichen und den Kindern. Ich wollte, dass einige Figuren nur horizontal dargestellt werden, als ob sie von diesem Druck erdrückt werden. Vor allem die Figur der Mutter, die ihr ganzes Leben lang arbeiten musste. Heute ist sie davon erschlagen, also liegt sie. Die Figuren haben es schwer, wach zu bleiben. Also beginnen sie zu träumen.“

Klima, Gender- und Identitätspolitik und Ukraine

Insgesamt leidet die Kurzfilm-Auswahl wie auch die Auswahl in anderen Sektionen der Berlinale unter der Tendenz, möglichst alles unter dem Gesichtspunkt von Gender- und Identitätspolitik zu beurteilen. Die Inhalte und die beteiligten Film-Crews stellen überwiegend weibliche Akteure ins Zentrum, sowie Angehörige ethnischer Minderheiten und aus der Bevölkerung des globalen Südens.

Drei der Kurzfilme befassen sich mit der Klimakatastrophe. In Veiled City von Natalie Cubides-Brady herrscht düstere Endzeitstimmung. Archivfilme und -bilder aus der Zeit des großen Smogs in London 1952 begleiten die emotionslose Stimme einer zeitreisenden jungen Frau an ihre imaginäre Schwester. Die Lage ist „menschengemacht“, so die Briefeschreiberin, und wird in eine „Welt ohne uns“ führen.

Waiting, ein künstlerisch interessanter deutscher Animationsfilm von Volker Schlecht nutzt das Aussterben von Fröschen, erforscht durch eine Biologin, als Sinnbild für die Zerstörung der Natur und der Menschheit selbst. Letztere wird als Kampf von Ringern dargestellt – begleitet von einem Kommentar zur sozialen Ungleichheit. Es gebe nur ganz wenige, die mächtig und reich werden, die meisten erreichten jedoch nichts.

Terra Mater spielt in Afrika, wo demonstrierende Anwohner vor einem riesigen Müllberg aus Plastik, auf dem die Geier nach Essbarem suchen, gegen Neokolonialismus protestieren und die Menschen der anderen Länder zu „mehr Respekt“ für ihr Leben auffordern.

Ergänzt wird in diesem Jahr die Kurzfilmauswahl, ähnlich wie in anderen Sektionen, durch einen ukrainischen Film, den fünfminütigen It’s a Date der Regisseurin Nadia Parfan (Heat Singers, 2019 u.a.), der eine lobende Erwähnung der Jury erhielt. Auf der Grundlage von Claude Lelouchs C’était un rendez-vous von 1976 besteht er aus einer rasanten Fahrt mit dem Auto durch die Großstadt, in dem auch der Zuschauer sitzt, allerdings nicht in Paris, sondern im kriegsgeplagten Kiew. Er vermittelt eine Welt, die Kopf steht. Selbst für die Ewigkeit gebaute orthodoxe Kirchen wackeln massiv, wenn das Auto vorbeirast.

Nadia Parfan sieht sich selbst als ukrainische Patriotin und Feministin, lässt am Ende anders als in Lelouchs Vorlage eine Fahrerin in Militärkleidung aussteigen und ihre Freundin umarmen. Ungeachtet ihrer Intentionen, könnte der Film allerdings genauso gut in anderen Städten der Welt spielen, wo nicht russische, sondern vorwiegend US-geführte Bombenangriffe Leid und Elend angerichtet haben – Bagdad, Tripolis, auch Damaskus, wo gerade Israel mit US- und deutschen Waffen zivile Häuser zertrümmert hat, oder schon 1999 im serbischen Belgrad, wo die Nato begleitet von Aufklärungsjets der Bundeswehr das Stadtzentrum bombardierte.

Die drei beschriebenen Kurzfilme aus Frankreich, wo sich gegenwärtig eine massive Aufstandsbewegung unter Arbeitern entwickelt, zeigen erfreulicherweise, dass es neben den von der offiziellen Kulturpolitik beeinflussten Tendenzen inzwischen auch ernsthaftere Stimmen unter jungen Regisseuren gibt, die nicht bei der Oberfläche der Dinge stehenbleiben. Angesichts von Krieg, Polizeigewalt, neofaschistischer Terror und sozialem Elend in der ganzen Welt, die die jugendlichen Träume platzen lassen, schaffen ihre filmischen Arbeiten Platz für Nachdenklichkeit und Erkenntnis, dass die bestehende Welt so nicht bleiben kann und darf.

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