Die Massenproteste in Israel und die Hexenjagd gegen den „linken Antisemitismus“

Seit Jahren läuft weltweit eine unerbittliche Kampagne gegen die Gegner des Zionismus als „linke Antisemiten“. So wird auch jeder bezeichnet, der die Errichtung Israels durch die Vertreibung der Palästinenser und ihre ständige Verfolgung kritisiert.

Diese Hexenjagd richtet sich gegen jeden, der eine Analogie oder einen Vergleich zwischen Israels Behandlung der Palästinenser und dem Hitlerfaschismus herstellt oder Israel je mit der Apartheidherrschaft in Südafrika gleichgesetzt hat. Sie stützt sich auf die Behauptung, dass der Zionismus die kollektiven Interessen der Juden auf der ganzen Welt vertrete, und dass der Staat Israel diese kollektive Selbstidentität verkörpere.

Ausschnitt aus der Definition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance [Foto: Screenshot von der Website der IHRA] [Photo: screenshot from web site of International Holocaust Remembrance Alliance]

Im Mittelpunkt dieser Kampagne stand die sogenannte „Arbeitsdefinition“ über Antisemitismus, welche die zwischenstaatliche Organisation International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) im Jahr 2016 verabschiedet hat, und auf der sie seither beharrt. Die IHRA-Definition enthält Beispiele für Antisemitismus, die effektiv auch jegliche Kritik an der israelischen Regierung verbieten. Antisemitisch sei unter anderem:

  • das Abstreiten des Rechts auf jüdische Selbstbestimmung, etwa durch die Darstellung Israels als rassistisches Projekt
  • die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird
  • Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten.

Keines dieser Verbote der freien Meinungsäußerung, die definieren, was angeblich unzulässige Kritik sei, halten der Realität der explosiven Konflikte stand, die jetzt in Israel ausgebrochen sind. Die Massenprotestbewegung jüdischer Israelis gegen die rechtsextreme Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat die politische Lüge von der unbestrittenen universellen Legitimität des Staates Israel auf verheerende Weise entlarvt.

Zehntausende Israelis protestieren am Montag, 27. März 2023, vor dem Parlament in Jerusalem gegen die Justizreform von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu [AP Photo/AP]

Seit der Wahl von Netanjahus Regierung im November letzten Jahres, die sich auf rechtsextreme und ultrareligiöse Parteien stützt, hat diese begonnen, die Justiz der Regierung unterzuordnen. Diese Maßnahme soll die Unterdrückung sozialer und politischer Konflikte erleichtern und den Weg für eine Politik ebnen, die einen Großteil des besetzten Westjordanlandes auf Dauer annektiert und nicht nur gegen die Palästinenser, sondern auch gegen den Iran und dessen Verbündete blutige Kriege führt.

Die Koalition plant auch neue Gesetze, die den palästinensischen Knessetmitgliedern den Einzug ins israelische Parlament verwehren und ihren Parteien die Teilnahme an Wahlen verbieten, was 20 Prozent der israelischen Bürgerinnen und Bürger dauerhaft entmündigen wird.

Dies baut auf dem israelischen Grundgesetz von 2018 auf, das im Volksmund als „Nationalstaatsgesetz“ bekannt ist und die jüdische Vorherrschaft als rechtliche Grundlage des Staates festschreibt. In dem neuen Grundgesetz heißt es: „Das Recht auf nationale Selbstbestimmung ist im Staat Israel einzigartig für das jüdische Volk.“ Auch wird „das ganze und vereinigte Jerusalem“ zu Israels Hauptstadt erklärt und der jüdische Siedlungsbau zum „nationalen Wert“ erhoben, den der Staat „ermutigt und unterstützt“. Arabisch verliert seinen Status als offizielle Staatssprache. Dies hat Gruppen wie Amnesty International, Human Rights Watch und die israelische Organisation B'Tselem dazu veranlasst, das Gesetz zu verurteilen und als eine neue Form der Apartheid zu bezeichnen.

Netanjahus geplanter politischer Coup hat die größte Massenprotestbewegung in der Geschichte Israels ausgelöst. Und obwohl deren Führer noch immer ihren Zionismus und ihre Loyalität zu Israel beteuern, sprechen die Ereignisse für sich, was die Behauptung der „nationalen Einheit“, der Grundlage des Zionismus, angeht.

Hunderttausende sind Woche für Woche auf der Straße und demonstrieren, um das Abgleiten in eine Diktatur unter einer Regierung anzuprangern, zu der auch bekennende Faschisten wie der Finanzminister Bezalel Smotrich, gehören. Mindestens jeder fünfte Israeli beteiligt sich an diesem Widerstand, und sein Ausmaß zeigt, dass die Protestbewegung von tiefer liegenden sozialen und wirtschaftlichen Sorgen angetrieben wird. Der zionistische Gewerkschaftsverband Histadrut sah sich gezwungen, Streiks auszurufen, um spontanen Arbeitsniederlegungen israelischer Arbeiter zuvorzukommen.

Benjamin Netanjahu, Vorsitzender der Likud-Partei (links), Bezalel Smotrich, rechtsextremer israelischer Abgeordneter (rechts) und der israelische Ministerpräsident Yair Lapid (Mitte) bei der Vorstellung der Regierung in der Knesset (Jerusalem) 15. November 2022 [AP Photo/Tsafrir Abayov]

Die Polizei reagiert mit Tränengas und Wasserwerfern, um Demonstrationen aufzulösen und Massenverhaftungen vorzunehmen. Almog Cohen von der rechtsextremen Partei Jewish Power fordert die Verhaftung der Oppositionsführer wegen Hochverrats. Dies würde auch den früheren Verteidigungsminister Benny Gantz, den ehemaligen Ministerpräsidenten Yair Lapid und den ex-Generalmajor Yair Golan betreffen. Auf beiden Seiten werden Warnungen laut, dass Israel in einen Bürgerkrieg abgleiten könne.

Inzwischen prangern Millionen von Israelis und viele seiner prominentesten Vertreter immer wieder laut den Abstieg des Landes in eine faschistische Herrschaft an. Sie tun dies auf eine Art und Weise, wie sie im Vereinigten Königreich und in weiten Teilen Europas unzulässig wäre und unweigerlich Vorwürfe der Einschüchterung, der Verleumdung und des Antisemitismus nach sich ziehen würde.

Die Hexenjagd auf 'linken Antisemitismus' im Vereinigten Königreich

Im Vereinigten Königreich wird die Hexenjagd auf den „linken Antisemitismus“ von einer Allianz aus dem rechten Blair-Flügel der Labour Party, von Zionisten und Konservativen geführt, die alle enge Verbindungen zu den Sicherheitsdiensten Großbritanniens, der USA und Israels unterhalten. Als Jeremy Corbyn 2015 Labour-Chef wurde, haben sich die Hexenjäger auf ihn eingeschossen und behauptet, seine Anhänger hätten die Partei in eine antisemitische Richtung gedrängt, die eine Bedrohung für britische Juden sei. Sollte Corbyn je Premierminister werden, dann wären diese gezwungen, aus dem Vereinigten Königreich zu fliehen.

Jeremy Corbyn bei einer Kundgebung in London, 1. Oktober 2022

Indem sie die linken Parteimitglieder aus der Labour Party vertrieben, wollten die Blair-Anhänger sicherstellen, dass die Partei eine zuverlässige Stütze der Reaktion im britischen Staatsapparat bliebe. Tausende wurden suspendiert, ausgeschlossen oder vertrieben. Und obwohl dies viele von Corbyns engsten Verbündeten betraf, kapitulierte dieser vor seinen Kritikern und übergab die Führung der Partei an Sir Keir Starmer.

Bis heute bleibt Corbyn aus der Parlamentsfraktion von Labour ausgeschlossen und ihm wurde mitgeteilt, dass er nie wieder als Labour-Abgeordneter kandidieren werde. Dies alles, weil er es gewagt hatte, zu behaupten, dass seine politischen Gegner die Bedrohung durch Antisemitismus in der Partei übertrieben hätten.

Die Hexenjagd ging jedoch weit über die britische Labour Party hinaus. Die IHRA-Definition wird als politischer Knüppel benutzt, um die Stimme der Palästinenser und ihrer Unterstützer an den Universitäten zum Schweigen zu bringen. Die Antisemitismus-Keule wird auf der ganzen Welt gegen Akademiker und Künstler wie beispielsweise Günter Grass oder Roger Waters genutzt, um ihr Leben zu ruinieren und ihre Integrität in den Dreck zu ziehen.

Das übergeordnete Ziel dieser Offensive besteht darin, eine Rechtfertigung für die Durchsetzung der Interessen des britischen und US-amerikanischen Imperialismus im Nahen Osten zu liefern, indem man Antisemitismus auf unehrliche und unzulässige Weise mit einer prinzipiellen Opposition gegen die Politik des israelischen Staates gleichsetzt. Dies gilt insbesondere für jede Kritik an der Rolle, die das israelische Militär und die Polizei in Syrien, dem Libanon und dem Iran und gegen die Palästinenser spielen.

Diese Orgie im Stil der McCarthy-Ära zielt letztlich auf die Arbeiterklasse. Weil sie sich den Verbrechen des Imperialismus auf internationaler Ebene und im eigenen Land widersetzt, wird sie mit Zensur bedroht, politisch schikaniert und sogar strafrechtlich verfolgt.

Die Vorstellung, dass Israel die Interessen aller Juden verkörpere, führt außerdem dazu, dass jüdische Arbeiter der Kontrolle des zionistischen Staats und von dessen Politikern untergeordnet werden. Gleichzeitig werden arabische Arbeiter den bürgerlichen islamistischen Gruppen, Sunniten wie Schiiten, einschließlich der vom Iran dominierten Achse des Widerstands überlassen, und der Anspruch dieser Gruppen, die antiimperialistischen Interessen der Arbeiter und unterdrückten Massen der Region zu vertreten, wird für bare Münze genommen.

Die politischen Einschränkungen, die mit der konsequenten Bekämpfung des „linken Antisemitismus“ einher gehen, machen jeden Kampf gegen die imperialistische Kriegstreiberei und für die Einheit der Arbeiterklasse im Nahen Osten unmöglich. Damit wird das wesentliche politische Ziel der Hexenjäger entlarvt: Es geht ihnen darum, den Sozialismus zu verunglimpfen und das Bekenntnis zu den unabhängigen und universellen Interessen der Arbeiter der Region, gleichviel ob jüdisch oder arabisch, zu diskreditieren.

Der Kolumnist der New York Times, Roger Cohen, bei einem Vortrag im Tempel De Hirsch Sinai in Seattle, Washington [Photo by Joe Mabel / CC BY-SA 4.0]

Als Reaktion auf eine Kolumne Roger Cohens von der New York Times mit dem Titel „Antisemitischer Antizionismus“ erklärte die WSWS:

Der breitere Zweck der Kolumne wird schon in der ersten Zeile deutlich: „Das Zusammentreffen der harten Linken mit der harten Rechten ist eine alte politische Geschichte, wie sie Hitler verstand, als er seine Partei Die Nationalsozialisten nannte.“

Cohens „alte politische Geschichte“ ist eine alte politische Lüge. Der Nationalsozialismus wurde nicht in erster Linie als antisemitische, sondern als antikommunistische Bewegung entwickelt. Der Antimarxismus und die Ablehnung der internationalen Einheit der Arbeiterklasse waren die Kräfte, die Hitler antrieben. Ihnen setzte er einen völkischen deutschen Nationalismus entgegen. Sein Hass auf die Juden beruhte auf deren Verbindung mit der sozialistischen Bewegung.

In „Mein Kampf“ erklärte Hitler, sein Ziel sei die Vernichtung des „jüdischen Bolschewismus“. Es sei seine „Überzeugung“, schrieb er, dass die Frage der „Zukunft der deutschen Nation“ von der „Vernichtung des Marxismus“ abhänge. Und weiter: „Im russischen Bolschewismus haben wir den im zwanzigsten Jahrhundert unternommenen Versuch des Judentums zu erblicken, sich die Weltherrschaft anzueignen.“

Der Dienst, den der „Nationalsozialismus“, d.h. der Faschismus, dem deutschen Imperialismus erwies, bestand darin, das ruinierte Kleinbürgertum und das deklassierte Lumpenproletariat als Stoßkraft gegen die organisierte Arbeiterbewegung zu mobilisieren. Sein wesentliches politisches Ziel war die Ausrottung des Marxschen Sozialismus und die Zerstörung der Arbeiterbewegung als Voraussetzung für eine Entfesselung von Militarismus und Krieg. Dies war notwendig, um die vom deutschen Imperialismus benötigten Märkte und Territorien zu sichern, wie es in Hitlers Ziel vom „Lebensraum im Osten“ zum Ausdruck kam.

Im Gegensatz dazu zog die sozialistische, d. h. die marxistische Bewegung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gerade deshalb so viele jüdische Arbeiter und Intellektuelle an, weil sie entschlossen für Internationalismus, für Gleichheit und Einheit und für ein Ende aller Formen ethnischer oder religiöser Diskriminierung eintrat. Dies richtete sich insbesondere gegen den Antisemitismus, den sämtliche bürgerlichen Regierungen in Europa vertraten.

Die jüngsten Angriffe auf den Sozialismus unter dem Deckmantel der Verteidigung gegen „linken Antisemitismus“ finden in einer Lage statt, in der die Rechtsextremen wieder europaweit und international zu einer bedeutenden politischen Kraft werden. Beispiele sind die faschistische Alternative für Deutschland (AfD) oder der Front National von Marine Le Pen in Frankreich. In Israel selbst realisieren heute immer breitere Schichten von ernsthaften Arbeitern und Intellektuellen, dass es unmöglich ist, einen derartigen Abstieg in die rechtsextreme Reaktion zu bekämpfen, ohne die politische Bilanz des zionistischen Projekts zu ziehen und seine zugrunde liegenden politischen Annahmen in Frage zu stellen.

Die Sackgasse des Zionismus

Was sich in Israel abspielt, ist das Ergebnis tief verwurzelter politischer und ideologischer Widersprüche innerhalb des zionistischen Staates. Vertieft werden sie durch die wachsende Spaltung zwischen der Arbeiterklasse und der herrschenden Elite in diesem Land, das zu den ungleichsten Ländern der Welt gehört. Dies macht es notwendig, die Klasseninteressen auf beiden Seiten des Konflikts um Netanjahus Putsch zu identifizieren und eine unabhängige Strategie für die Arbeiterklasse zu definieren.

Dies kann nur durch einen historischen Ansatz geschehen, der die politische Mythologie des Zionismus hinterfragt.

Die Gründung Israels hat ihre Wurzeln in der Katastrophe, die das europäische Judentum in den 1930er und 1940er Jahren heimsuchte, und in der Vernichtung von sechs Millionen europäischer Juden im Holocaust der Nazis, nachdem die europäische Arbeiterklasse gegen den Faschismus eine Niederlage erlitten hatte.

Tor zum Vernichtungslager Auschwitz [Photo by Bettmann Archive / CC BY-SA 1.0]

Die Voraussetzungen für diese Niederlage wurzelten in der stalinistischen Degeneration der Sowjetunion und der Kommunistischen Internationale. Der Verrat der Sowjetbürokratie am Kampf für den Weltsozialismus hinderte die Arbeiterklasse daran, dem krisengeschüttelten kapitalistischen System ein Ende zu setzen. Die verhängnisvolle Politik der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) unter Komintern-Führung ermöglichte es Hitler, an die Macht zu kommen, ohne dass die Arbeiterklasse dagegen mobilisiert werden konnte. Dies ebnete den Weg zum Zweiten Weltkrieg mit all seinen Schrecken und Verbrechen.

Diese Niederlage erzeugte eine breite Desillusionierung unter den Juden, die oft enge Verbindungen zur sozialistischen Bewegung hatten. Der Zionismus nutzte dies und die verzweifelte Lage, in der sie sich befanden, politisch aus, um das Projekt eines eigenen jüdischen Staats voranzubringen. So wurde in den 1930er Jahren die Auswanderung von Juden, die der Verfolgung durch die Nazis entgehen wollten, in das britisch kontrollierte Palästina gefördert.

Am 21. März 1933, dem Tag von Potsdam, nimmt der deutsche Reichspräsident Paul von Hindenburg (rechts) die Ernennung des Naziführers Adolf Hitler zum deutschen Reichskanzler an [Photo by Theo Eisenhart/Bundesarchiv, Bild 183-S38324 / CC BY-NC-SA 3.0]

Im Jahr 1948 wurde schließlich Israel gegründet, nachdem die Vereinten Nationen 1947 über die Teilung Palästinas abgestimmt hatten. Begründet wurde es damit, dass die Juden vor 2.000 Jahren aus ihrer Heimat vertrieben worden seien, und die Gründung wurde als „Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ beschönigt. Damit sollte ein gerechter und demokratischer Zufluchtsort für ein Volk geschaffen werden, das jahrhundertelang diskriminiert und unterdrückt worden war: ein Staat, der durch die Religion definiert wurde und allen offen stand, die sich auf jüdische Abstammung berufen konnten.

Die Realität hinter dieser Rhetorik ist die gewaltsame und brutale Vertreibung von fast einer Million Palästinensern, dem größten Teil der Bevölkerung, die Beschlagnahmung ihres Landes und die Durchsetzung der ethnischen und religiösen Interessen der Juden gegenüber denen der arabischen Muslime und Christen.

Vom Tag seiner Gründung an war Israel aufgrund der Verweigerung demokratischer Rechte und der Unterdrückung der Palästinenser organisch unfähig, eine wirklich demokratische Gesellschaft hervorzubringen. Es wurde sofort in einen Krieg mit seinen arabischen Nachbarn verwickelt und wuchs zu einem militarisierten Staat heran, in dem die Armee als zentrale Säule diente. Unterstützung kam vom US-Imperialismus, der eine stark finanzierte Garnison in der Region unterhält.

Der arabisch-israelische Krieg von 1967 endete mit der israelischen Besetzung von Gebieten, die zu Jordanien, Syrien und Ägypten gehörten, dem Westjordanland, den Golanhöhen und dem Gazastreifen. Er führte zur Gründung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) unter Führung von Jassir Arafat, die dazu aufrief, den Kampf gegen Israel unter dem Banner des palästinensischen Nationalismus zu führen. Es begannen die jüdische Kolonialisierung und die ständigen ethnischen Säuberungen. Die Hinwendung zu einer „Groß-Israel“-Politik wurde durch den entscheidenden Sieg gegen Ägypten, Syrien und andere arabische Mächte im Oktober 1973 gefestigt.

Israelische Panzer rücken auf den Golanhöhen vor, Juni 1967 [Photo by Government Press Office (Israel) / CC BY-SA 4.0]

Eine unverhohlene militärische Expansionspolitik zerstörte das Wohlwollen, das Israel seit seiner Gründung international genossen hatte. Es war ein Wendepunkt in der politischen Entwicklung der „Opposition gegen Zionismus von links“, gegen die Israels Machthaber ihre Denunziation des „linken Antisemitismus“ viele Jahre lang aufrechterhielten.

Die USA finanzierten systematisch die Eskalation von Militarismus und Krieg, einschließlich der militärischen Unterdrückung der palästinensischen Nationalbewegung und der Kultivierung einer Siedlerbevölkerung. Ultraorthodoxe Gruppen wurden mit pseudobiblischen Rechtfertigungen ermutigt und für die israelische Expansion mobilisiert. Dies ging mit einer Politik der freien Marktwirtschaft einher, die auf die begrenzten Sozialstaats-Maßnahmen mehr und mehr verzichtete.

In Israel stieg die soziale Ungleichheit auf höchstes Weltniveau. Eine herrschende Klasse, die den Arbeitern immer weniger zu bieten hatte, baute zunehmend auf die Unterstützung von Siedlern und ultrareligiösen Gruppen. Dies schuf die Grundlage für das Aufkommen faschistischer Tendenzen innerhalb des politischen und militärischen Establishments. Diese Kräfte diktieren heute die Regierungspolitik und bedrohen nicht nur die Palästinenser, sondern auch die meisten Israelis mit brutaler Unterdrückung.

Heute hat Israel eine Regierung, die das Diktat des jüdischen Religionsgesetzes durchsetzen will; die religiöse Diskriminierung ist in der Verfassung verankert, und explosive soziale und politische Konflikte zerreißen die Gesellschaft.

Keine der großen Parteien, ob in der Regierung oder in der Opposition, vertritt noch die Interessen des „jüdischen Volkes“, weder in Israel noch in der Diaspora. Sie sind konkurrierende Wortführer der israelischen Finanzelite, die in Washington – sei‘s in der Demokratischen oder der Republikanischen Partei – um Unterstützung für alternative Perspektiven buhlen, um Israel als Bastion der wirtschaftlichen und militärischen Vorherrschaft der USA in der Region zu erhalten.

Gerade die Tatsache, dass die Führung der heutigen Proteste unerschütterlich für den Zionismus und die sozialen Interessen der israelischen Bourgeoisie eintritt, hat sie in besonderem Maß gegen Netanjahus Angriff auf den Obersten Gerichtshof aufgebracht. Sie fürchten, dass „Bibi“ (Netanjahu) und seine faschistischen Unterstützer den pseudo-„demokratischen“ Anstrich untergraben könnte, mit dem der israelische Staat jede seiner militärischen Aggressionen – nicht nur gegen die Palästinenser, sondern auch gegen den Iran – legitimiert.

Sie wissen, dass die Übergabe der Initiative an jüdische Rassisten und religiöse Reaktionäre die israelische Gesellschaft destabilisiert. Damit wird die Fähigkeit des Staates untergraben, die Bevölkerung hinter seine kriegstreiberische Agenda zu bringen. Während Israels Oligarchen sich bereichern, gefährdet das Risiko einer sozialen Explosion die Sparpolitik, mit der sie den Krieg finanzieren.

Unter den Oppositionsführern befinden sich Kriegsverbrecher wie Benny Gantz und Netanjahus ex-Verteidigungsminister Yoav Gallant, was zeigt, dass die israelische Bourgeoisie sich der sozialen und politischen Bedrohung durch die Arbeiterklasse durchaus bewusst ist. Diese politischen Realitäten finden jedoch bei den kleinbürgerlichen Gegnern des Zionismus und Verteidigern der Palästinenser keinen Widerhall.

Das Verständnis dieser historischen und sozialen Prozesse wirft die zentrale Frage auf, wie die Arbeiterklasse auf die Krise der Herrschaft in Israel reagieren muss.

Klasseneinheit, nicht Ethno-Nationalismus

Die Beschuldigung wegen „linkem Antisemitismus“, die gegen Palästinensergruppen und ihre Unterstützer in Organisationen wie Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) oder der Palästina-Solidaritätskampagne erhoben wird, ist eine Verleumdung. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Gruppen irgendeine Perspektive für den echten Kampf gegen Zionismus bieten.

Diese Gruppen vertreten, wie auch verschiedene liberale Kommentatoren, fast ausnahmslos den Standpunkt, dass das, was sich in Israel abspielt, bloß ein Konflikt zwischen zerstrittenen zionistischen Lagern sei. Unter Hinweis auf den reaktionären Charakter der selbsternannten Oppositionsführer bestehen sie nicht nur darauf, dass die Hunderttausenden, die auf die Straße gehen, und die Millionen, die sie unterstützen, die gleichen Anliegen wie jene hätten, sondern behaupten auch, dass es unmöglich sei, die aktuelle Situation in Frage zu stellen oder zu ändern.

Diese Haltung nach dem (Shakespeare-) Motto „Zum Teufel mit euren beiden Häusern“ akzeptiert de facto den eigenen Anspruch der Zionisten, der legitime Vertreter des gesamten „jüdischen Volks“ zu sein. Objektiv kommt sie einem Rettungsanker für die israelische Bourgeoisie in der Stunde ihrer größten Not gleich, denn sie stärkt den Mythos der nationalen Einheit und hält an der Spaltung zwischen jüdischen und arabischen Arbeitern fest.

Der im Grunde nationalistische und prokapitalistische Kern dieser Position lautet, dass es auf Klassenunterschiede nicht ankomme, da die jüdische Arbeiterklasse ihre relativ privilegierte Position, die auf der sozialen Basis eines „Siedlerkolonialstaats“ beruhe, der Unterdrückung der Palästinenser und der arabischen Israelis verdanke.

Dies ist nur eine extreme Variante des Arguments, das pseudolinke Tendenzen auf der ganzen Welt ins Feld führen. Sie leugnen nicht nur jede Möglichkeit der Einheit der Arbeiterklasse und des sozialistischen Kampfs in jedem Land, das von ethnischen oder religiösen Konflikten heimgesucht wird (wie zum Beispiel Nordirland, Spanien oder Belgien), sondern sie behaupten auch, dass die Arbeiterklasse der imperialistischen Nationen, vor allem in den Vereinigten Staaten, hoffnungslos korrumpiert sei, weil sie angeblich an der „Beute der Unterdrückung“ teilhabe.

Die politische Schlussfolgerung besteht in einer Umarmung der nationalen und separatistischen Bewegungen, die als „legitime“ Vertreter der betreffenden national unterdrückten Völker aufgefasst werden. Die Arbeiterklasse, sofern überhaupt von ihr die Rede ist, hat lediglich die Aufgabe, die „nationale Befreiung“ im militärischen Kampf unter Führung der ein- oder anderen bürgerlichen Tendenz oder Regierung zu unterstützen.

Die Aufteilung der Welt in immer kleinere, „ethnisch reine“ Staaten und Kleinstaaten, die sich aus einer solchen Perspektive ergibt, hat sich in Jugoslawien, Osteuropa und im gesamten Nahen Osten und in Afrika immer wieder als Rezept für Bruderkriege erwiesen, die antidemokratische und diktatorische Regime hervorbringen, die auf ewig Spielball imperialistischer Großmächte bleiben.

Für eine revolutionäre Perspektive

Die Voraussetzungen für den Kampf für eine revolutionäre sozialistische Alternative in Israel und im gesamten Nahen Osten sind vorhanden. Die israelische Bourgeoisie und ihr Staat befinden sich in einer existenziellen Krise – eine Tatsache, die inzwischen allgemein anerkannt wird. Und wer es unter solchen Bedingungen von vornherein ablehnt, für die Loslösung der jüdischen Arbeiter vom Zionismus zu kämpfen, ist sowohl zutiefst skeptisch als auch politisch reaktionär.

Es ist nicht das erste Mal, dass Spaltungen innerhalb der herrschenden Elite, die stets einen reaktionären und taktischen Charakter haben, den Weg für eine keimende revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse bereiten. Es sei nur daran erinnert, wie der Militärputsch vom 25. April 1974 in Portugal eine sozialistische Massenbewegung auslöste, die die Salazar-Diktatur hinwegfegte und die Kolonialkriege in Mosambik, Guinea und Angola beendete. Wenn Israel sich davon überhaupt unterscheidet, dann darin, dass es heute zwischen der Arbeiterklasse und den herrschenden Familien stärker polarisiert ist als Portugal damals.

Wladimir Lenin in seinem Büro im Kreml (Moskau) um 1919 [AP Photo]

1915 beschrieb Lenin in „Der Zusammenbruch der Zweiten Internationale“ die (wie er sie nannte) „drei Hauptmerkmale“ einer revolutionären Situation:

1. Für die herrschenden Klassen ist es unmöglich, ihre Herrschaft unverändert aufrechtzuerhalten; die eine oder andere Krise der „oberen Schichten“, eine Krise der Politik der herrschenden Klasse, die einen Riss entstehen lässt, durch den sich die Unzufriedenheit und Empörung der unterdrückten Klassen Bahn bricht. Damit es zur Revolution kommt, genügt es in der Regel nicht, dass die „unteren Schichten“ in der alten Weise „nicht leben wollen“, es ist noch erforderlich, dass die „oberen Schichten“ in der alten Weise „nicht leben können“.

2. Die Not und das Elend der unterdrückten Klassen verschärfen sich über das gewöhnliche Maß hinaus.

3. Infolge der erwähnten Ursachen steigert sich erheblich die Aktivität der Massen, die sich in der „friedlichen“ Epoche ruhig ausplündern lassen, in stürmischen Zeiten dagegen sowohl durch die ganze Krisensituation als auch durch die „oberen Schichten“ selbst zu selbständigem historischem Handeln gedrängt werden.

Die grundlegende Frage, die bewusst politisch formuliert werden muss, ist die wachsende Kluft zwischen der bürgerlichen Führung der Oppositionsbewegung und den Teilen der Arbeiter, die jetzt in den Kampf ziehen. Anstatt die israelischen Arbeiter als homogene Verteidiger der kolonialen Besatzung abzutun, ist es die Aufgabe von Sozialisten, einen Klassenappell an die jüdischen und arabischen Arbeiter zu richten, sich gegen ihre gemeinsamen Unterdrücker zusammenzuschließen und die Spaltung zu überwinden, die die Bourgeoisie so sorgfältig am Leben erhält.

Dies ist die wesentliche Lehre, die wir aus der bewegten und tragischen Geschichte Israels ziehen müssen. Als Reaktion auf die Teilung Palästinas im Jahr 1947 durch die Vereinten Nationen, die der Gründung Israels den Weg bereitete, betonte die Vierte Internationale in einer Erklärung mit dem Titel „Gegen den Strom“:

Die Vierte Internationale weist die „zionistische Lösung“ der jüdischen Frage als utopisch und reaktionär zurück. Sie erklärt, dass eine vollkommene Ablehnung des Zionismus die notwendige Bedingung ist, um die Kämpfe der jüdischen Arbeiter mit den sozialen, nationalen und Befreiungskämpfen der arabischen Werktätigen zu vereinen.

Die Vierte Internationale warnte:

Durch die Teilung wird ein Keil zwischen die arabischen und jüdischen Arbeiter getrieben. Der zionistische Staat mit seinen provokativen Demarkationslinien wird Rachegelüste auf beiden Seiten anheizen. Innerhalb der historischen Grenzen von Eretz Israel wird es Kämpfe für ein „arabisches Palästina“ und einen „jüdischen Staat“ geben. Die so geschaffene chauvinistische Atmosphäre wird schließlich die arabische Welt im Nahen Osten vergiften und den antiimperialistischen Kampf der Massen behindern, während zionistische und arabische Feudalherren um die Gunst der Imperialisten buhlen.

Diese Prognose hat sich in der Geschichte bewahrheitet, und Juden und Araber haben dafür einen bitteren Preis bezahlt.

Trauerzug für Montaser Shawwa(16), Opfer der israelischen Armee, im Flüchtlingslager Balata (Westjordanland), 21. Februar 2023 [AP Photo/Nasser Nasser]

Die reaktionäre zionistische Utopie eines Nationalstaats, in dem die Juden der Welt Zuflucht, Einheit und Gleichheit finden könnten, hat stattdessen zur Schaffung eines kapitalistischen Staats geführt, der als Garnison für den US-Imperialismus fungiert. Auf der Enteignung der Palästinenser gegründet, wird er durch immer neue Kriege aufrechterhalten. Der von gewaltigen sozialen und politischen Widersprüchen zerrissene Staat verweigert seinen palästinensischen Bürgern grundlegende demokratische Rechte. Israel ist weit davon entfernt, die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ zu sein. Im Gegenteil bewegt es sich rasant in Richtung polizeistaatlicher Herrschaftsformen, Faschismus und Bürgerkrieg.

Diese Katastrophe ist an sich kein Produkt des Zionismus oder des Staats Israel. Die Sackgasse des Zionismus ist nur ein Ausdruck für das Scheitern aller nationalen Bewegungen und den von ihnen geschaffenen Staaten bei der Lösung der grundlegenden Fragen, mit denen die Masse der arbeitenden Menschen konfrontiert ist. Die gleichen Fragen stellen sich für alle Völker der Region. Inmitten grotesker sozialer Ungleichheit ist die Arbeiterklasse brutal repressiven Formen der bürgerlichen Herrschaft ausgesetzt.

Auch der Ausbruch des Widerstands ist nichts Besonderes. Darin kommt in Israel derselbe weltweite Aufstand der Arbeiterklasse zum Ausdruck wie derzeit in Sri Lanka und in Frankeich.

Leo Trotzki, Gründer der Vierten Internationale

Eine echte revolutionäre Alternative muss sich auf die Theorie der permanenten Revolution stützen. In der imperialistischen Epoche, erklärte Trotzki, könne in den unterdrückten Ländern, in denen die Bourgeoisie im 19. Jahrhundert aufstieg, nur die unabhängige politische Mobilisierung der Arbeiterklasse die wesentlich demokratischen und nationalen Aufgaben erfüllen. Die Grundlage müsse in einer sozialistischen und internationalistischen Perspektive bestehen.

Es gibt nur eine Möglichkeit, demokratische Rechte zu verteidigen, der staatlichen Repression zu entgehen und der finanziellen Not und Bedrohung durch rechtsextreme Reaktion und Krieg ein Ende zu setzen. Dazu müssen sich arabische und jüdische Arbeiter zusammenschließen und gemeinsam gegen den Kapitalismus und für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft kämpfen. Über alle nationalen Spaltungen hinweg müssen die Arbeiter für die Vereinigten Sozialistischen Staaten des Nahen Ostens kämpfen, die sich von den räuberischen Interessen der imperialistischen Mächte und transnationalen Konzerne befreien werden. Auf der Grundlage des grundlegenden Prinzips der Gleichheit aller Völker der Region würde dies eine demokratische und wohlhabende Zukunft für alle garantieren, die auf der Nutzung der enormen natürlichen Ressourcen der Region zur Befriedigung der wichtigsten sozialen Bedürfnisse beruht.

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