1. Mai in Deutschland: Gewerkschafts­funktionäre und Regierungspolitiker vereint gegen die Arbeiter

Die diesjährigen Maikundgebungen des DGB fanden unter außergewöhnlichen Umständen statt: Die Reallöhne befinden sich im freien Fall; im 3. und 4. Quartal 2022 lagen sie laut Statistischen Bundesamt im Schnitt 5,4 Prozent tiefer als im selben Zeitraum des Vorjahrs. In ganz Europa entwickeln sich deshalb heftige Klassenkämpfe, insbesondere in Frankreich, wo Macrons Polizei mit ungeheurer Brutalität gegen friedliche Kundgebungen vorgeht. Und in der Ukraine drängen die Nato und die Bundesregierung auf eine „Frühjahrsoffensive“, die in einen nuklearen Weltkrieg zu münden droht.

Verdi-Chef Frank Werneke, Hauptredner auf der Mai-Kundgebung des DGB auf dem Frankfurter Römerberg

Angesichts dieser explosiven Lage nutzten der DGB und seine Einzelgewerkschaften die traditionellen Maikundgebungen, um ihre uneingeschränkte Solidarität mit den Regierungen in Bund und Ländern, ihrer Kriegspolitik und den Angriffen auf Löhne und Arbeitsplätze zu demonstrieren. Darin bestand die wirkliche Bedeutung ihres offiziellen Mottos „Ungebrochen solidarisch“.

Gewerkschaftsfunktionäre und Regierungspolitiker blieben auf den Kundgebungen weitgehend unter sich. Laut Angaben des DGB, der offenbar sehr genau gezählt hat, nahmen an seinen 398 offiziellen Maiveranstaltungen 287.880 Menschen teil. Das sind 720 pro Kundgebung und nur jedes Zwanzigste der 5,6 Millionen DGB-Mitglieder, deren Zahl sich in den letzten 30 Jahren nahezu halbiert hat.

Umso mehr Regierungspolitiker beteiligten sich an den Kundgebungen – und zwar nicht nur von SPD und Grünen, die den Gewerkschaften traditionell nahestehen, sondern auch von der CDU.

NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU), der Ambitionen auf das Kanzleramt hegt, marschierte hinter einem DGB-Transparent im Demonstrationszug in Duisburg mit und sprach anschließend zur Kundgebung. Im sächsischen Freiberg beteiligte sich Ministerpräsident Michael Kretschmer, in Berlin der neugewählte Regierende Bürgermeister Kai Wegner, beide rechte CDU-Politiker.

Zahlreiche führende Vertreter der SPD traten auf den DGB-Kundgebungen gemeinsam mit Gewerkschaftsführern als Hauptredner auf. So sprachen Bundeskanzler Olaf Scholz und die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer in Koblenz, Bundesinnenministerin Nancy Faeser im hessischen Herborn, Bundesarbeitsminister Hubertus Heil in Wolfsburg und der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil in Lehrte bei Hannover.

Alle Redner logen das Blaue vom Himmel herunter und schworen sich gleichzeitig auf eine noch engere Zusammenarbeit ein.

Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi erklärte auf der zentralen Kundgebung in Köln: „Nur mit starken Gewerkschaften und unseren Tarifverträgen können wir der Profitgier etwas entgegensetzen. Und nur mit uns – nicht gegen uns – gelingt ein rechtzeitiger Stopp des Klimawandels und eine erfolgreiche Transformation unserer Wirtschaft – mit guten, neuen Arbeitsplätzen.“

Und dies, nachdem die DGB-Gewerkschaften und ihre betrieblichen Funktionäre zwei Jahrzehnte lang die Hartz-Gesetze und jede Sozialkürzung mitgetragen, unzählige Entlassungen unterzeichnet und massive Reallohnsenkungen vereinbart haben!

Bundeskanzler Scholz forderte „Respekt für Arbeit“, was „für unsere Demokratie und für unser Miteinander unverzichtbar“ sei. Dazu zählten, so Scholz, auch „faire Löhne“.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser, die als Verhandlungsführerin der Arbeitgeber den 2,5 Millionen Beschäftigten von Bund und Kommunen eine massive Reallohnsenkung aufzwingen will, ereiferte sich, „dass in Hessen immer noch der Geldbeutel der Eltern darüber entscheidet, ob die Tochter oder der Sohn in der Schule erfolgreich ist“.

Besonders wild trieb es Verdi-Chef Frank Wernecke, der in Frankfurt am Main sprach. Er begann mit einer Solidaritätserklärung für die Ukraine und einer wüsten Denunziation Russlands, dem er vorwarf, Massenvergewaltigungen ukrainischer Frauen als Waffe einzusetzen. Angesichts der weitverbreiteten Opposition gegen die Kriegspolitik der Bundesregierung – „auch in den Gewerkschaften gibt es unterschiedliche Meinungen dazu, was der beste Weg ist, um diesen Krieg zu beenden“ – musste sich Werneke allerdings vom Ziel der Nato, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Rüstung auszugeben, distanzieren.

Praktisch hat dies aber nichts zu bedeuten. Verdi sorgt seit Jahren dafür, dass die Löhne im öffentlichen Dienst gesenkt werden, um die Rüstungsausgaben zu finanzieren. Bereits 2020 hatte die Gewerkschaft für die Beschäftigung von Bund und Kommunen einen Tarifvertrag über 28 Monaten vereinbart, in dessen Verlauf die tabellenwirksamen Entgelte nur um 3,2 Prozent erhöht wurden. Der Verbraucherpreisindex ist in diesem Zeitraum aber um 16,1 Prozent gestiegen, was einer Reallohnsenkung von knapp 13 Prozent entspricht.

Nun hat Verdi – nachdem sich über eine halbe Million an Warnstreiks beteiligten – einen neuen Tarifvertrag vereinbart, über den die Mitglieder bis zum 12. Mai „befragt“ werden. Er sieht für die nächsten 24 Monate eine tabellenwirksame Erhöhung von 5,5 Prozent plus 200 Euro vor. Bei einer jährlichen Inflationsrate von acht Prozent bedeutet dies eine weitere Reallohnsenkung von rund zehn Prozent. Die Beschäftigten von Bund und Kommunen verlieren so innerhalb von fünf Jahren dank der Tarifpolitik von Verdi rund ein Viertel ihres Realeinkommens! Berücksichtigt man die besonders hohen Preissteigerungen bei Energie, Lebensmitteln und Mieten, für die Arbeiter den Großteil ihres Geldes ausgeben, fällt der Reallohnverlust noch viel größer aus.

Kein Wunder, dass sämtliche Kundgebungsredner – von Scholz über Fahimi bis zu den Funktionären aus der zweiten Reihe – die Bedeutung von „Tariflöhnen und Tarifbindung“ betonten. Die Gewerkschaften werden gebraucht, um eine Rebellion gegen diesen Lohnraub zu unterdrücken.

Werneke behauptete sogar dreist: „Der beste und am Ende einzige Weg, um die steigenden Lebenshaltungskosten auszugleichen, sind und bleiben kräftige Lohn- und Gehaltzuwächse. Dafür treten wir als DGB-Gewerkschaften an.“

Dann lobte er die miserablen Tarifabschlüsse bei der Deutschen Post und im Öffentlichen Dienst und rief: „Die Gewerkschaften sind zurück. Wir sind in Arbeitskämpfen erfolgreich.“ Er wusste, dass er von den gutbezahlten Funktionären und den pseudolinken Hofschranzen der Gewerkschaft auf dem Platz keinen Protest zu befürchten hatte.

Schließlich gelangte Werneke zu seinem Lieblingsthema, das kaum ein Redner ausließ: „Ausbau der Mitbestimmung.“ Sie bildet die Existenzgrundlage der Gewerkschaftsbürokratie, die in Aufsichtsräten und Betriebsräten viel Geld verdient, während sie ihre Mitglieder – und die Nichtmitglieder – bluten lässt.

Wie schon im Maiaufruf des DGB waren die Kämpfe in Frankreich, wo seit drei Monaten Millionen gegen die Kürzung der Renten durch Macron protestieren, den Kundgebungsrednern keine Silbe wert. Diese mächtige Klassenkampfbewegung hat, wie wir auf der WSWS bereits kommentiert haben, die deutsche Gewerkschaftsbürokratie in panische Angst versetzt. Sie fürchtet, dass die Kampfbereitschaft der französischen Arbeiter ihre eigenen Mitglieder ansteckt. Der DGB hatte ähnliche Rentenkürzungen bereits vor mehr als zehn Jahren widerstandlos akzeptiert.

Die Maikundgebungen unterstreichen erneut den reaktionären Charakter der Gewerkschaften. Hatten sie während des Wirtschaftsaufschwungs der Nachkriegszeit im Rahmen ihrer Politik der Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung noch einige soziale Verbesserungen erkämpft, sind sie in den vergangenen Jahrzehnten völlig ins Lager des Klassengegners übergegangen. Im Namen von „Konkurrenzfähigkeit“ und „Standortverteidigung“ ordnen sie die Interessen der Arbeiter den Interessen des Kapitals im globalen Wettbewerb unter. Die Arbeiter anderer Länder betrachten sie nicht als Kollegen, sondern als Gegner und Konkurrenten.

Nur pseudolinke Lakaien der Bürokratie, die selbst nach lukrativen Posten streben, können heute noch behaupten, man könne diese reaktionären, verknöcherten Apparate im Interesse der Arbeiter reformieren.

Die Alternative dazu hat die Maikundgebung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale aufgezeigt. Sie verbindet den Aufbau unabhängiger Aktionskomitees mit einem sozialistischen Programm, dass die Arbeiterklasse aller Länder im Kampf gegen soziale Ungleichheit, Krieg und Kapitalismus vereint.

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