Ukrainische Jugendliche sprechen über Krieg und soziale Katastrophe: „Das Militär greift überall Wehrflüchtige auf“

Während die westlichen bürgerlichen Medien die von der Nato unterstützte Gegenoffensive der Ukraine gegen Russland mit Kriegshysterie und Propaganda begleiten, werden die immense soziale Krise, die Sorgen der ukrainischen Arbeiter und Jugendlichen, der schreckliche Blutzoll des Krieges und die zunehmende Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung so gut wie nirgends richtig dargestellt.

In etwas mehr als einem Jahr Krieg hat die ukrainische Armee schätzungsweise über 200.000 Tote zu beklagen. Bei einer durchschnittlichen Rate von vier Verwundeten auf einen Toten bedeutet dies 800.000 Verwundete. Das würde bedeuten, dass von knapp 39 Millionen der Vorkriegsbevölkerung 0,5 Prozent im Krieg gestorben und 2,6 Prozent getötet oder verwundet wurden. Übertragen auf die 332 Millionen Einwohner der USA wären das 1,66 Millionen Tote und 8,632 Millionen Tote oder Verwundete. Weitere 8,5 Millionen Menschen sind aus dem Land geflohen, sodass noch 29 Millionen im Land verblieben sind, von denen nicht alle in Gebieten leben, die von der Selenskyj-Regierung kontrolliert werden.

Selbst in Kleinstädten sind Hunderte von Männern und Jugendlichen ums Leben gekommen. Obwohl die Regierung mittlerweile das Fotografieren auf Friedhöfen verboten hat, kursieren in den sozialen Netzwerken weiterhin Bilder von Massengräbern im ganzen Land.

Die große Mehrheit der Toten sind junge Menschen und Arbeiter. Immer mehr Menschen versuchen zwar, sich der Einberufung zu entziehen, doch dies erfordert vor allem finanzielle Mittel, über welche die große Mehrheit der Bevölkerung nicht verfügt. Schon vor dem Krieg war die Ukraine neben der Republik Moldau das ärmste Land Europas.

Die World Socialist Web Site sprach vor kurzem mit mehreren ukrainischen Jugendlichen über die Situation im Land und die Stimmung in der Bevölkerung.

Einer von ihnen erklärte gegenüber der WSWS: „Diejenigen, die vorher arbeitslos waren, sind es noch immer. Die Leute haben auch Angst davor, eine Stelle zu bekommen, weil dann die Gefahr extrem hoch ist, dass man eingezogen wird.“ Der Grund ist, dass die Manager eng mit dem Militär zusammenarbeiten.

Das Militär greift überall Wehrflüchtige auf. Sie warten auf den Straßen, auf Parkplätzen in der Nähe von Einkaufszentren, sie gehen in Fitnessstudios, Wohnungen etc. Sie stellen Einberufungsbescheide zu und schleppen die Leute in den Krieg, einige sind erst 16 Jahre alt.“

Gemäß dem Kriegsrecht, das zu Beginn des Krieges in der Ukraine ausgerufen wurde, dürfen Männer über 18 Jahren das Land nicht verlassen.

Er erklärte:

Es gibt mehr Leute, die nicht dienen wollen, als solche, die dienen wollen. Dutzende versuchen, über den Dnestr zu schwimmen und [nach Moldau] zu fliehen. Manche von ihnen ertrinken dabei. Außerdem herrscht in der Armee weit verbreitete Korruption. Wer nicht dienen will, kann sich mit viel Geld freikaufen.

Er fuhr fort:

Aber es gibt auch diejenigen, die freiwillig in die ukrainische Armee eintreten. Die Gesellschaft ist weiterhin tief gespalten. In den Städten gibt es noch immer Informanten der russischen Armee. Viele hoffen insgeheim darauf, dass die russische Armee kommt. Vor kurzem wurde die Gründung eines ukrainischen Freiwilligenkorps in der russischen Armee bekanntgegeben. Es wurde „Kleinrussische Befreiungsarmee“ genannt, nach dem Namen der Ukraine im zaristischen Russland [Kleinrussland]. Das klingt so sklavenhaft!“

Ich denke manchmal daran, was jetzt weit entfernt von mir an der Front passiert. Diese Gedanken habe ich besonders oft, seit ich auf Netflix ,Im Westen nichts Neues‘ gesehen habe, basierend auf dem Buch von Erich Maria Remarque. Ich persönlich empfinde Empathie für beide Seiten.

Es wird viel über diesen Krieg diskutiert, über seine Ursachen, und welche Rolle Russland in diesem Konflikt spielt. Wenn ich diesen Krieg mit dem Krieg vergleiche, der während des Zweiten Weltkriegs auf dem Gebiet der Sowjetukraine geführt wurde, komme ich zu dem Schluss, dass der damalige Krieg wirklich ein ,Krieg zur Verteidigung des Vaterlandes‘ war, weil meine Vorfahren hier das Vaterland der Arbeiter [die Sowjetunion] verteidigt haben, aber das existiert heute nicht mehr.

Zwei weitere Jugendliche äußerten sich ebenfalls über die zunehmende Kriegsmüdigkeit. Einer erklärte: „Die Haltung zum Krieg ändert sich. Die Patrioten und Nationalisten sind bereits an der Front gestorben. Diejenigen, die noch übrig bleiben, sind gemäßigt eingestellt und sind kriegsmüde.“

Ein 22-Jähriger erklärte: „In der Gesellschaft kann man eine gewisse Kriegsmüdigkeit beobachten, aber es ist verboten, auch nur in diese Richtung zu denken.“

Abgesehen von den schrecklichen menschlichen Opfern des Krieges leiden die ukrainischen Arbeiter und Jugendlichen auch unter den extrem hohen Preisen, während die Selenskyj-Regierung ihre Politik der Lohnsenkungen und der sozialen Sparmaßnahmen fortsetzt. Laut der Weltkarte des Welternährungsprogramms vom 12. Juni sind mehr als 8,7 Millionen Menschen, d.h. ein Drittel der noch im Land lebenden ukrainischen Bevölkerung, „unzureichend mit Nahrungsmitteln versorgt“, und sieben Millionen „befinden sich in einer Ernährungskrise oder sind nicht weit entfernt davon.“

Der 22-jährige erklärte:

Die soziale Lage ist katastrophal, die Preise und Steuern steigen, aber die Gehälter bleiben gleich. Viele Menschen müssen sich beim Essen einschränken. Die Alten und Rentner müssen ihre Wertsachen verpfänden, die ganze Stadt ist voll mit Leihhäusern.

Für junge Menschen ist es nahezu unmöglich, eine Stelle zu finden, bei der sie nicht mit schrecklichen Arbeitsbedingungen und menschenverachtendem Verhalten ihrer Arbeitgeber ausgesetzt sind.

Ein anderer Jugendlicher erklärte:

Was die sozialen Stimmungen in der Gesellschaft angeht, die schwanken zwischen Kritik und Unterstützung für das Selenskyj-Regime. Viele sind unzufrieden mit den steigenden Wohn- und Nebenkosten. Die Leute reagieren negativ und aktiv auf die Preissteigerungen, aber dieser Protest geht nicht über Diskussionen mit Freunden und Nachbarn hinaus. Man kann momentan nicht sagen, dass in der Masse die Unzufriedenheit mit dem Selenskyj-Regime zunimmt. Der Chauvinismus gegenüber den Russen ist nach wie vor vorhanden. Viele erwarten, dass der Krieg bald mit einem Sieg der Ukraine enden könnte.

Der Jugendliche erklärte, es herrsche eine weit verbreitete kritische Haltung gegenüber der Förderung faschistischer Kräfte, die in der Tradition des Nazi-Kollaborateurs Stepan Bandera und seiner Organisation Ukrainischer Nationalisten stehen, durch die Selenskyj-Regierung. Doch diese Diskussionen sind geprägt von fehlender historischer Klarheit über die Geschichte der Oktoberrevolution, die Rolle des Stalinismus und der Faschisten selbst, sowie der Angst vor Konsequenzen im Falle von öffentlichen Protesten.

Der 22-jährige erklärte gegenüber der WSWS: „In der Gesellschaft gibt es eine Verurteilung der Förderung von Faschisten, aber bemerkenswerterweise nur hinter den Kulissen, um Probleme zu vermeiden.“

Er fügte hinzu:

Einige erinnern sich mit Nostalgie an die Errungenschaften der UdSSR, was Sozialleistungen angeht, die heute das Privileg der Reichen sind. Dieses Phänomen ist nicht weit verbreitet, weil die jahrelange bösartige antikommunistische Hysterie in der Gesellschaft ein Verständnis dafür geschaffen hat, worüber man reden kann und worüber nicht. Es sollte auch erwähnt werden, dass die junge Generation, was Informationen angeht, einer völligen Gehirnwäsche unterzogen wurde. Die Regierung zwingt ihr ein falsches Verständnis vom Wesen des Sozialismus und Kommunismus und der Oktoberrevolution auf. Durch die Verbreitung eines falschen Verständnisses von Sozialismus und Kommunismus haben die amerikanischen Marionetten an der Macht das elitäre System der kapitalistischen Ausbeutung weiter gestärkt.

Er wies darauf hin, dass die vorherrschende Stimmung von Anspannung und Angst vor der Zukunft geprägt ist: „Jeder erwartet entweder, dass sein Haus in naher Zukunft von einer Bombe getroffen wird oder dass sich die sozialen Bedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung weiter verschlechtern. Persönlich habe ich nur eine vage Vorstellung davon, wie es weitergehen könnte. Es scheint mehrere mögliche zukünftige Entwicklungen zu geben, aber keine davon verheißt Gutes für die arbeitenden Massen.“

Ein junger Unterstützer des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in der Ukraine erklärte: „Ich denke, die Frage der Ukraine kann nicht in den Grenzen der Ukraine selbst gelöst werden, sondern nur auf der Weltbühne. Ich sehe in einem Sieg Russlands oder der USA keine Lösung für die Frage der Ukraine, sondern nur in der Einheit der Arbeiterklasse Russlands, der Ukraine und der ganzen Welt.“

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