Nach dem Polizeimord an dem 17-jährigen Nahel M. im Pariser Vorort Nanterre am letzten Dienstag kam es auch am Wochenende in ganz Frankreich zu weiteren Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und der Polizei. Als Reaktion auf die anhaltende Krise berief Präsident Emmanuel Macron am Sonntagabend eine Krisensitzung seines Kabinetts ein.
Grund für die massive Welle von Wut in Frankreich und der Welt ist nicht nur der Mord, sondern auch der Versuch der beteiligten Beamten, ihn als Notwehr darzustellen. Ein Video des Vorfalls zeigte jedoch, dass sie den Jugendlichen aus nächster Nähe erschossen haben, obwohl keine Gefahr für ihr Leben bestand.
An Nahels Beerdigung am Samstag in Nanterre nahmen Tausende von friedlichen Demonstrierenden teil.
In der Nacht von Freitag auf Samstag wurden bei gewaltsamen Zusammenstößen im ganzen Land 1.300 Personen verhaftet, Samstagnacht weitere 719. Vor diesem brutalen Vorgehen waren bereits im Frühjahr während der Proteste gegen Macrons Rentenkürzungen und deren undemokratische Umsetzung Tausende von der französischen Polizei verhaftet worden.
Große Städte in Frankreich wurden von schwer bewaffneten Polizeikräften mit Hubschraubern, Panzerfahrzeugen und Feuerwaffen zur Aufstandsbekämpfung belagert. Freitag-, Samstag- und Sonntagnacht wurden landesweit 45.000 Polizisten mobilisiert. Weitere 7.000 wurden jede Nacht zusätzlich als Verstärkung nach Paris geschickt.
In Marseille und Lyon wurden am Wochenende Spezialeinheiten der RAID eingesetzt, welche Stadtviertel mit Panzerfahrzeugen besetzen. Die berüchtigten Einheiten der BRAV-M, die im April während der Proteste gegen Macrons Rentenreform in Paris Demonstranten provoziert und terrorisiert hatten, wurden ebenfalls eingesetzt.
Obwohl die Macron-Regierung bestrebt ist, Beweise für Polizeigewalt in den sozialen Medien zu zensieren, sind Videos aufgetaucht, die zeigen, wie die Polizei mit Gewalt gegen überwiegend unbewaffnete Demonstrierende vorgeht. Andere Videos zeigen, wie die Polizei versucht, Journalisten davon abzuhalten, Aufnahmen von den Zusammenstößen zu machen.
In vielen Städten Frankreichs lieferten sich die überwiegend jugendlichen Demonstrierenden heftige Kämpfe mit der Polizei. In Nemours, Pau und Combs-la-Ville wurden Polizeiwachen angezündet. In Paris, Marseille und Lille wurden öffentliche Gebäude in Brand gesetzt. In Aubervilliers, einem nördlichen Vorort von Paris, wurde ein Busbahnhof niedergebrannt, wobei zwölf Busse zerstört wurden. In Lyon überfiel eine Gruppe Demonstranten ein Polizeifahrzeug voller Waffen und scharfer Munition, die bisher noch nicht wieder aufgefunden wurden.
Freitag- und Samstagnacht wurde auf Anordnung von Innenminister Gerald Darmanin in ganz Frankreich ab 21 Uhr der Straßenbahn- und Busverkehr eingestellt. Diese Maßnahme wurde am Sonntag auch auf den Metroverkehr in Paris ausgedehnt. Am Wochenende wurde in Lille, Marseille und Lyon der öffentliche Verkehr stillgelegt und ab dem späten Nachmittag war es verboten, sich in Gruppen zu treffen. Ähnliche Maßnahmen wurden in kleineren Städten im Land ergriffen, in denen es Anfang der Woche zu Zusammenstößen gekommen war.
Die Wut über die Unterdrückung durch die Polizei und die sozialen Bedingungen breitete sich auch nach Belgien und in die Schweiz aus. In Lausanne wurden am Samstagabend sieben Menschen verhaftet. Auch in den französischen Überseegebieten La Réunion und Französisch-Guyana kam es zu Zusammenstößen. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz drückte die internationale Nervosität aufgrund der Situation in Frankreich aus, als er erklärte, er beobachte sie mit Sorge.
Beispielhaft für den Hass der französischen Bevölkerung auf die kapitalistischen Politiker war ein Vorfall in der Kleinstadt L’Haÿ-Les-Roses. Dort wurde ein brennendes Auto in die Einfahrt des örtlichen Bürgermeisters geschoben, welcher der rechten Partei Les Républicains angehört. Die Premierministerin Elisabeth Borne eilte an den Ort des Geschehens und versicherte den Politikern, dass die Regierung und die Polizei sie vor der Bevölkerung schützen werde.
Die Macron-Regierung gibt sich große Mühe, den offenkundig politischen Charakter dieser Proteste zu leugnen, die direkt auf den Kampf gegen die Rentenkürzungen zurückzuführen sind. So erklärte Macron am Samstag: „Wir haben gewalttätige Versammlungen erlebt, die auf mehreren [Social Media-Plattformen] organisiert wurden – aber auch eine Art Nachahmung von Gewalt ... Sie leben die Videospiele, mit denen sie sich berauschen.“
Das erinnert an Macrons Äußerungen während der Gelbwesten-Proteste, als er Facebook die Schuld an dem massiven Widerstand gegen seine Präsidentschaft gab.
Regierungssprecher Olivier Véran versuchte später, die Proteste als das Werk unpolitischer und hartgesottener Krimineller darzustellen: „Es gibt hier keine politische Botschaft. Wenn man einen Foot Locker-, Lacoste- oder Sephora-Laden plündert, ist das keine politische Botschaft. Das ist Plünderung.“
Wenn die Jugendlichen in Frankreich das Gefühl haben, sie könnten ihre Unzufriedenheit nur durch Gewalt äußern, so liegt das nicht an den sozialen Netzwerken oder an Videospielen, sondern an den schrecklichen sozialen Bedingungen, in denen sie leben, und am Fehlen politischer Alternativen von Seiten der etablierten Parteien. In den Vororten von Paris, Lyon und Marseille, wo die brutalsten Zusammenstöße stattgefunden haben, sind Armut und Arbeitslosigkeit allgegenwärtig.
Die Realität der Jugendlichen in Arbeitervierteln ist von Arbeitslosigkeit, fehlendem Zugang zu hochwertiger Bildung und ständiger Schikane durch die Polizei geprägt. Bisweilen endet die Polizeischikane, wie im Falle Nahels, tödlich. Was die pseudolinken Parteien und die Gewerkschaften betrifft, die angeblich Front gegen Macron machen, so hat der Kampf gegen die Rentenreform ihre verräterische Rolle offengelegt. Gegen das kapitalistische System, das diese jungen Männer und Frauen zu einem Leben in Armut verurteilt, leisten sie keinen echten Widerstand.
Im Vorfeld der Massenverhaftungen am Wochenende hatten die Polizeigewerkschaften am Freitag in einer faschistoiden gemeinsamen Stellungnahme erklärt, sie befänden sich „im Krieg“ und angedroht, „diejenigen, die wir verhaften, außer Gefecht zu setzen ... Angesichts dieser wilden Horden reicht es nicht mehr, Ruhe zu fordern, wir müssen sie durchsetzen ... [Es ist Zeit], dieses Ungeziefer zu bekämpfen.“
Beträchtliche Teile der politischen Klasse Frankreichs haben sich uneingeschränkt mit dem „Krieg“ der Polizei gegen das „Ungeziefer“ solidarisiert, und sie fordern eine noch härtere Gangart. Die rechtsextreme Parteichefin Marine Le Pen geißelte am Sonntagabend in einer Videobotschaft die „Anarchie“ in Frankreich und forderte die Behörden auf, den Ausnahmezustand oder eine Ausgangssperre zu verhängen. Der Parteichef der konservativen Républicains, Eric Ciotti, erklärte: „Ich stehe mit aller Kraft hinter der Polizei, den Gendarmen und denjenigen, die sie befehligen.“
Beide verurteilten den Vorsitzenden des pseudolinken Parteienbündnisses NUPES, Jean-Luc Mélenchon, als „Gefahr für die Republik“, weil er die Polizei als „unkontrolliert“ beschrieben hatte. Nach der monatelangen gewaltsamen Unterdrückung friedlicher Proteste und dem Versuch, die brutale Ermordung eines 17-Jährigen zu vertuschen, ist das eine gewaltige Untertreibung.
Mélenchon ist alles andere als eine Gefahr für die kapitalistische Fünfte Republik, die er in der Wahlkrise 2022 und während des Kampfs gegen Macrons Rentenkürzungen gestärkt hat. Er repräsentiert einen Flügel der Bourgeoisie, der die soziale Reaktion fürchtet, welche die unverhohlene Kriminalität der Polizei und ihrer politischen Sponsoren auslösen könnte. Gleichzeitig steht er den sozialen Forderungen der Arbeiterklasse organisch feindlich gegenüber.
Seine Reaktion auf die Krise besteht nicht aus einem Aufruf zum Sturz der Macron-Regierung und ihres Polizeistaats, sondern aus einer zahnlosen „Notstandserklärung“, deren Hauptforderungen eine bessere Ausbildung der Polizei und die Bildung einer Reihe von unabhängigen Aufsichtskommissionen sind. Die absurde Vorstellung, eine extrem gewalttätige Polizeitruppe, die sich als „im Krieg“ gegen „Ungeziefer“ bezeichnet, könne „reformiert“ werden, ist ein weiteres Beispiel für den politischen Bankrott der französischen Pseudolinken.
In den USA hatten die Demokraten anfangs den Polizeimord an George Floyd verurteilt und sich mit den Demonstrierenden solidarisiert, nur um nach Bidens Amtsübernahme die Finanzierung und Militarisierung der Polizei massiv auszuweiten. Die muss der französischen Bevölkerung eine Warnung sein: Weder Mélenchon noch irgendein anderer bürgerlicher Politiker wird den Kampf gegen die Polizei oder gegen das von ihr verteidigte kapitalistische System aufnehmen.
Die Parti de l’égalité socialiste ruft zum Aufbau von Aktionskomitees auf, die unabhängig von den pseudolinken Parteien und den Gewerkschaften sind, deren Führer mit Macron zusammenarbeiten. Nur durch eine Massenmobilisierung der französischen und europäischen Arbeiterklasse können sich Arbeiter und Jugendliche gegen Polizeigewalt verteidigen und die verhasste Macron-Regierung zu Fall bringen.