Perspektive

Wer ist für die Gewalt in Israel und Gaza verantwortlich?

Im Flüchtlingslager Rafah (Gazastreifen): Nach einem israelischen Bombenangriff tragen Palästinenser die Leichen von Getöteten aus den Trümmern, Montag, 9. Oktober 2023 [AP Photo/Rahmez Mahmoud]

Die Regierungen und Medien aller imperialistischen Länder führen einen massiven Propaganda-Feldzug. Sie vergiften die öffentliche Meinung über den anhaltenden Aufstand gegen die israelische Besatzung in Gaza und rechtfertigen den Vergeltungskrieg, den Israels rechtsextreme Regierung gegen die Palästinenser entfesselt hat.

Am Samstag hat US-Präsident Joe Biden den Ton vorgegeben. Nach einem Telefonat mit dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu sagte er dem israelischen Militär seine „felsenfeste und unerschütterliche“ Unterstützung zu. „Die Vereinigten Staaten verurteilen diesen entsetzlichen Angriff der Hamas-Terroristen aus dem Gazastreifen auf Israel auf das Schärfste“, sagte Biden. Seither reißt der Chor im Establishment nicht ab, der die „Terroristen“ anprangert, ihren „Angriff auf Israel“ anklagt und „Entsetzen“ und „Empörung“ über die Berichte von getöteten israelischen Zivilisten äußert.

Ähnliches ist aus allen imperialistischen Hauptstädten zu vernehmen, und die israelische Nationalflagge wird auf öffentliche Gebäude projiziert. Wer von dieser Linie abweicht, wird schnell als „Antisemit“ oder als „Unterstützer des Terrorismus“ beschimpft.

Es ist wahr, dass es in den ersten Stunden des Ausbruchs aus dem Gazastreifen zu erheblichen Opfern unter der israelischen Zivilbevölkerung gekommen ist, und viele dieser Opfer tragen zweifellos keine individuelle Verantwortung für die Unterdrückung der Palästinenser. Das Schicksal solcher Menschen, die einfach zur falschen Zeit am falschen Ort waren, ist tragisch. Sie sind der Rache von Kämpfern aus dem Gazastreifen anheimgefallen, die infolge der lebenslang erfahrenen Grausamkeit der israelischen Besatzung verhärtet waren und davon ausgingen, selbst nicht lebendig davonzukommen. Sie übten Rache an den ersten Israelis, die ihnen in die Hände fielen. Darunter waren diejenigen, die an der Grenze zum Gazastreifen, der einem rießigen Konzentrationslager gleicht, eine Tanzparty gefeiert hatten.

Man muss jedoch die Frage stellen: Wer trägt letztlich die Verantwortung für ihren Tod? Die Schuld an dieser Tragödie tragen in erster Linie das verbrecherische israelische Apartheidregime und seine US-amerikanischen Hintermänner. Ihr zionistisches Projekt eines exklusiv jüdischen Staats schließt die Palästinenser aus und sperrt sie in eine Art Freiluftgefängnis oder Ghetto, das immer weiter eingeschränkt wird.

Die einhellige Verurteilung des „Terrorismus“ und der aufständischen „Gewalt“ durch die Imperialisten ist in höchstem Maße heuchlerisch. Für die weitaus zahlreicheren Opfer von Gewalt und Terror unter den Palästinensern haben sie niemals vergleichbare Worte des „Entsetzens“ und der „Empörung“ gefunden.

Präsident Biden, dem die Redenschreiber „Gebete“ für „alle durch diese Gewalt verletzten Familien“ ins Manuskript geschrieben hatten, ist selbst ein Kriegsverbrecher und in Sachen Gewalt alles andere als ein Heiliger. Im Jahr 2003 stimmte er im US-Senat für die illegale Invasion und Besetzung des Irak, die über eine Million Tote zur Folge hatte.

Nach der verlogenen öffentlichen Darstellung sind die Palästinenser die Aggressoren, und der Staat Israel ist das Opfer. Das stellt die Dinge auf den Kopf. Tatsächlich ist die Unterdrückung der palästinensischen Massen durch den Imperialismus völlig einseitig. Seit 75 Jahren schlägt die israelische Regierung – von den imperialistischen Mächten bis an die Zähne bewaffnet – jeglichen Widerstand brutal nieder. Zum Jahreswechsel 2008–2009 bombardierte Israel den Gazastreifen drei Wochen lang, und Hunderte von Menschen wurden getötet. Das Verhältnis der palästinensischen zu den israelischen Opfern betrug damals 100 zu 1.

Die Palästinenser im Westjordanland müssen in Hunderten von separaten Ghettos leben, die von Hunderten israelischer Militärkontrollpunkte in Schach gehalten werden. Den Gazastreifen selbst hat man in ein einziges riesiges Freiluftgefängnis verwandelt. Dort leben mehr als 2 Millionen Palästinenser auf einem 40km langen schmalen Landstrich. Sie sind der israelischen Regierung in jeder Hinsicht ausgeliefert. Dieses Freiluftgefängnis ist eins der am dichtesten besiedelten Elendsgebiete der Welt. In Anbetracht dessen gleicht der Aufstand vom Wochenende im Gazastreifen, der nur das jüngste Kapitel einer langen Ereigniskette ist, eher einem Gefängnisausbruch als einem „Angriff“.

Während in den imperialistischen Hauptstädten die „Gewalt“ und der „Terrorismus“ heuchlerisch verurteilt werden, hat der Vergeltungsangriff Israels und die Terrorisierung der Bevölkerung des Gazastreifens schon begonnen.

Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant hat die „vollständige Belagerung des Gazastreifens“ angekündigt und sich dabei einer Sprache bedient, die den Charakter seines Regimes und dessen ideologischer Grundlage voll und ganz entlarvt. „Es wird keinen Strom mehr geben, keine Lebensmittel, kein Wasser, kein Benzin. Alles wird abgeriegelt“, sagte Gallant. „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln entsprechend.“

Die ehemalige US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Nikki Haley, eine republikanische Kandidatin für die Präsidentschaftswahl, erklärte, der Aufstand sei „nicht nur ein Angriff auf Israel“, sondern „ein Angriff auf Amerika“. Sie forderte Netanjahu direkt auf, die Palästinenser „fertigzumachen“. Netanjahu seinerseits drohte am Montag: „Was wir unseren Feinden in den nächsten Tagen antun werden, wird in ihnen für Generationen nachhallen.“

Hinter all dieser grausamen imperialistischen Heuchelei steht die grundsätzliche Klassenhaltung der Unterdrücker gegenüber jeglichem Widerstand der Unterdrückten, sei es im Gazastreifen oder anderswo. Es funktioniert nach dem Motto: „Wir, die Unterdrücker, sind frei, Gewalt anzuwenden, wann immer dies unseren Interessen dient. Wir können euch wahllos bombardieren, wir können euch abriegeln und aushungern, wir können euch ausrauben und einsperren und euch die Luft abdrehen. Gewalt ist unser Monopol und das Vorrecht, das nur uns zusteht. Ihr, die Unterdrückten, dürft unter keinen Umständen mit Gewalt reagieren.“ So denkt die herrschende Klasse, und deshalb bezeichnet sie jeden, der gegen ihre Besatzung zu den Waffen greift, als „Terroristen“.

Um das Ausmaß der Heuchelei zu unterstreichen, sei an die Art und Weise erinnert, wie der Korrespondent Andrew Kramer in einem Artikel der New York Times vom August letzten Jahres über die Arbeit ukrainischer Terrorkommandos schrieb, die hinter den russischen Linien Attentate mit Autobomben verübten. Der Artikel trug den Titel: „Hinter den feindlichen Linien sagen Ukrainer zu den Russen: ‚Ihr seid niemals sicher‘“, und darin heißt es: „Sie schleichen sich durch dunkle Gassen, um Sprengsätze zu legen. Sie identifizieren russische Ziele für ukrainische Artillerie und Langstreckenraketen, die von den Vereinigten Staaten bereitgestellt worden sind. Sie sprengen Eisenbahnlinien in die Luft und ermorden jeden, den sie für einen russischen Kollaborateur halten.“ Diese Methoden sind in den Augen des amerikanischen Imperialismus legitim – nicht jedoch, wenn es sich um Angriffe auf einen amerikanischen Verbündeten handelt.

Im Jahr 1831 fand in Southampton County (Virginia) unter Führung von Nat Turner ein Sklavenaufstand statt. Die entflohenen Sklaven nutzten Messer, Beile und Knüppel, um Dutzende weißer Männer, Frauen und Kinder zu massakrieren. Der Aufstand wurde mit noch größerer Brutalität niedergeschlagen. Die Miliz und marodierende Mobs ermordeten Schwarze auf der Stelle, unabhängig davon, ob sie an der Rebellion beteiligt gewesen waren oder nicht. Turners Körper wurde gehäutet, und seine Haut wurde zu Souvenir-Taschen verarbeitet.

Von der heutigen Geschichtswarte aus wird jeder objektive Historiker die Schuld für die schreckliche Gewalt solcher Aufstände nicht den Sklaven, sondern dem Sklavensystem mit all seiner kolossalen Unmenschlichkeit zuschreiben. Den Turner-Aufstand mit der Begründung anzuprangern, er sei „gewalttätig“ gewesen, wäre der Gipfel der Heuchelei. Es wäre ahistorisch und käme einer indirekten Parteinahme für die Sklaverei gleich.

Leo Trotzki schrieb im Jahr 1938: „Mögen verächtliche Eunuchen nicht erzählen, der Sklavenbesitzer, der durch List und Gewalt den Sklaven in Ketten hält, und der Sklave, der durch List oder Gewalt die Ketten zerbricht, seien vor dem Gericht der Moral gleich!“

Lincoln brachte in seiner zweiten Antrittsrede inmitten des Bürgerkriegs den Gedanken zum Ausdruck, dass die ungeheure Gewalt, von der das Land heimgesucht worden sei, die unvermeidliche historische Abrechnung mit der Sklaverei darstelle, und dass „jeder Tropfen Blut, den die Peitsche gefordert hat, durch ein anderes Blut bezahlt wird, welches das Schwert fordert“.

Andererseits unterscheidet sich die Repression, welche die israelische Regierung gegen die Bevölkerung im Gazastreifen ausübt, nicht wesentlich von der, die Großbritannien gegen die Mau-Mau-Rebellion in Kenia einsetzte, die Frankreich im algerischen Unabhängigkeitskrieg verübte, die das Apartheid-Regime in Südafrika oder das US-Militär im Irak verübte. Immer und überall denunzieren die unterdrückerischen Machthaber den bewaffneten Widerstand als Terrorismus und vergelten ihn mit gnadenlosen, tausendmal brutaleren Methoden.

In einer seltenen Abweichung von der Propagandaflut interviewte Fareed Zakaria von CNN am Montag den Anführer der Palästinensischen Nationalen Initiative, Mustafa Barghouti. Dieser konnte darauf hinweisen, dass der bewaffnete Widerstand das unvermeidliche Ergebnis der Tatsache sei, dass die israelische Regierung sich weigere, jede andere Form von Opposition seitens der Palästinenser als legitim anzuerkennen: „Wenn wir in militärischer Form kämpfen, sind wir Terroristen. Wenn wir gewaltlos kämpfen, werden wir als gewalttätig bezeichnet. Wenn wir uns sogar mit Worten wehren, werden wir als Provokateure bezeichnet.“

Schon 2018–2019 kam es im Gazastreifen zu Massenprotesten im Rahmen des „Großen Marschs der Rückkehr“, als die Palästinenser das Recht auf Rückkehr in ihre Häuser forderten, aus denen sie während der Kriege von 1948–1949 und 1967 vertrieben worden waren. Das israelische Militär reagierte auf diese Proteste mit Schüssen auf palästinensische Demonstranten, die sich den Mauern und Zäunen näherten, welche sie im Gazastreifen einschließen. Mindestens 223 Palästinenser wurden getötet, über 9.200 wurden verletzt. Aber von den Politikern, die den Palästinensern heute Moral predigen, hat damals kaum einer mit der Wimper gezuckt.

In der Tat gibt es in der Arbeiterklasse in Israel selbst eine tiefe Opposition gegen das kriminelle Netanjahu-Regime, das als Hauptverantwortlicher für den neuen blutigen Gewaltausbruch angesehen wird. Dieser Widerstand hat sich bereits in Massenprotesten und einem Generalstreik Anfang des Jahres geäußert. Er richtet sich gegen die Bemühungen des Regimes, sich unanfechtbare und gerichtlich nicht überprüfbare Verfassungsrechte zu verschaffen.

Die gewaltsame Form des Aufstands im Gazastreifen hat jedoch auch damit zu tun, dass es in Israel selbst noch keine echte Opposition gibt, die sozialistische Prinzipien vertreten würde. Bei den Massenprotesten zu Beginn dieses Jahres waren die selbsternannten Anführer Verteidiger des zionistischen Staates. Sie vermieden tunlichst jede Annäherung an die palästinensische Bevölkerung, welche ein natürlicher Bündnispartner gewesen wäre.

Die derzeitige massive Propagandakampagne soll die Bevölkerung dazu bringen, die offizielle Linie nicht zu hinterfragen. Sie drückt die Befürchtung aus, dass zig Millionen Menschen auf der ganzen Welt nicht geneigt sind, diese Linie zu akzeptieren, auch nicht in den USA und in Israel selbst. Schon kommt es auf der ganzen Welt zu spontanen Demonstrationen zur Unterstützung des palästinensischen Aufstands.

Wie groß die Herausforderungen und Hindernisse bei der Umsetzung dieser Strategie auch sein mögen: Der einzige Weg in eine friedliche Zukunft und die einzige Möglichkeit, mit dem zionistischen Regime abzurechnen, besteht darin, die Einheit der israelischen und palästinensischen Arbeiter herzustellen. Sie müssen sich gemeinsam dem blutigen Angriff auf den Gazastreifen widersetzen, das Netanjahu-Regime stürzen und sich im Kampf für eine einige sozialistische Gesellschaft zusammenschließen.

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