Der Genozid in Gaza und der Angriff auf das Demonstrationsrecht in Deutschland

Das Grundgesetz gibt jedem in Deutschland das Recht, „sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“ (Art. 8) und „seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Eine Zensur findet nicht statt.“ (Art. 5)

Das Ausmaß, in dem sich Regierungs- und Sicherheitsbehörden über diese demokratischen Grundrechte hinwegsetzen, ist atemberaubend. Demonstrationen gegen den Genozid in Gaza werden reihenweise verboten oder mit strengen Auflagen versehen. Große Polizeiaufgebote schüchtern die Demonstrationsteilnehmer ein, zensieren jedes gesprochene und geschriebene Wort, nehmen Teilnehmer reihenweise fest und beschlagnahmen Flugblätter und Transparente.

Polizisten am Rande der Berliner Palästina-Demonstration am 4. November 2023

Laut einer Umfrage des Spiegels wurde in den 20 größten deutschen Städten ein Viertel aller angemeldeten propalästinensischen Demonstrationen verboten. Die Restlichen fanden unter schikanösen Auflagen statt, die im Detail festlegten, was gesagt und gezeigt werden durfte und was nicht. Die Auflagen erinnern an das „Neusprech“ in George Orwells Roman „1984“, das „durch die Eliminierung unerwünschter Wörter“ für die richtige Weltanschauung und Geisteshaltung sorgen soll. Sie unterscheiden sich von Stadt zu Stadt und sind von vollkommener staatlicher Willkür geprägt.

Schon Ausrufe wie „From the river to the sea“ wurden als „antisemitisch, volksverhetzend, gewalt- oder terrorverherrlichend“ eingestuft und verboten. In Berlin, wo am Samstag rund 20.000 Teilnehmer zur bisher größten Demonstration zusammenkamen, hatte die Polizei einen umfangreichen Auflagenkatalog erlassen. Wer das Existenzrecht Israels verneine, begehe eine Straftat, die sofort geahndet werde, warnte Einsatzleiter Stephan Klatte, und drohte im Wiederholungsfall mit der Auflösung der Demonstration.

Untersagt waren auch Symbole, Fahnen und Ausrufe sowie das Werben für Hamas, die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) und die kürzlich verbotene Gefangenenhilfsorganisation Samidoun. Palästinensertücher und Palästina-Flaggen waren zwar erlaubt, konnten aber beschlagnahmt werden, wenn sie „unterstützend“ mit verbotenen Parolen eingesetzt wurden.

Die Polizei setzte 1000 Beamte ein, um die Auflagen zu überwachen und sofort einzuschreiten, falls dagegen verstoßen wurde. Dabei gingen die Sicherheitskräfte rigoros vor. Laut Angaben der Polizei gab es im Zusammenhang mit der Demonstration 68 Festnahmen und 36 Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet.

Auch die Sozialistischen Gleichheitspartei war von der Repression betroffen. Flugblätter mit dem Aufruf „Stoppt den imperialistisch-zionistischen Völkermord in Gaza!“, die sie auf der Demonstration verteilte, wurden eine halbe Stunde lang beschlagnahmt, bis die Polizeizensur sie schließlich wieder freigab.

In anderen Städten waren die Auflagen noch wesentlich restriktiver. Wer in Frankfurt am Main gegen das Massaker im Gaza demonstrieren wollte, brauchte Mut. Die Demo auf dem Rathenau-Platz, an der sich etwa 800 beteiligten, wurde von zwei Seiten von Polizei-Vans abgeschottet. An den Schmalseiten gab es Polizeigruppen in Helm und Panzerhemd neben Polizeifilmteams, die jede Bewegung aufnahmen. Die Kundgebungsrede, die eine Muslima aus Bayern hielt, wurde mehrmals über Lautsprecher „aus dem Off“ unterbrochen, mit ständiger Drohung, dass die Versammlung aufgelöst werde, wenn nicht sofort dies oder jenes Plakat entfernt werde.

Verboten waren Plakate, die tote Menschen und Kinderleichen zeigten, Plakate mit der Aufschrift „Genozid“ oder „Völkermord“ sowie die negative Erwähnung Israels. Auch Palästina-Fahnen waren verboten, angesichts der großen Menge solcher Fahnen verzichtete aber die Polizei darauf, das Verbot durchzusetzen.

Auch in Duisburg verbot die Polizei auf einer kleineren Demonstration das Verteilen von Bildern, die nichts als die Wahrheit zeigten. Es handelte sich um Aufnahmen verletzter Kinder, Frauen und Männer in Krankenhäusern im Gazastreifen, wie man sie jeden Tag auf Al Jazeera und selbst auf BBC und CNN sehen kann, die sich anders als ARD und ZDF nicht vollständig der Zensur der Regierung beugen.

Bilder, die auf der Duisburger Demonstration verboten wurden

Vertretern der Polizei ging die drastische Einschränkung der Demonstrations- und Meinungsfreiheit nicht weit genug. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Jochen Kopelke, fordert am Montag, nur noch kleine, stationäre Demos mit einer beschränkten Zahl von Teilnehmern zu erlauben.

Die Mengen, die derzeit bei Gaza-Demos auf die Straßen kommen, seien nicht kontrollierbar, sagte Kopelke dem Deutschlandfunk. „Alle Versammlungsbehörden müssen restriktiver sein und mehr Auflagen erlassen. Diese Aufzüge durch deutsche Städte darf es so nicht mehr geben.“ Große Demonstrationen seien für die Polizei nicht „händelbar“. „Der Zulauf ist so groß, dass wir Polizistinnen und Polizisten natürlich nicht an allen Stellen sofort sein können. Aber wenn wir etwas Verbotenes feststellen, greifen wir hart durch.“

Rainer Wendt von der kleineren Deutschen Polizei-Gewerkschaft hetzte in der Bild-Zeitung: „Die radikalen Islamisten stellen die Machtfrage auf unseren Straßen, die müssen wir zu unseren Gunsten beantworten, sonst herrscht nicht mehr das Grundgesetz, sondern die Scharia.“

Die Medien reagierten durchgehend mit unverhohlener Feindschaft auf die Demonstrationen. Das begann damit, dass sie die Teilnehmerzahlen absurd untertrieben. So meldeten sie für die Berliner Demonstration Zahlen zwischen 6000 und 8000, obwohl die Teilnehmerzahl offensichtlich mindesten drei Mal so hoch war.

Von den Demonstrationsteilnehmern, darunter auch Jüdinnen und Juden, die friedlich gegen das Massaker der israelischen Armee protestierten, kam in den kurzen Berichten niemand zu Wort. Stattdessen konzentrierte sich die Berichterstattung darauf, wie viele „Straftaten“ – d.h. Verstöße gegen die undemokratischen Auflagen – stattgefunden hatten.

Am weitesten ging dabei wie üblich Bild, das Hetzblatt aus dem Hause Springer, das eine richtiggehende Pogromhetze entfachte. Bild berichtete über die Berliner „Judenhass-Demo“ unter der Schlagzeile: „Tausende brüllen: ‚Israel bombardieren!‘“ In Wirklichkeit hatte kein einziger Demonstrationsteilnehmer etwas derartiges „gebrüllt“. Die Demonstrationsteilnehmer hatten skandiert: „Israel bombardiert, Deutschland finanziert“.

Doch Bild ist keine Lüge zu schäbig, um gegen politische Gegner zu hetzen. Schon 1968 hatte das Boulevardblatt die Pogromstimmung gegen die Studentenbewegung erzeugt, die zum Mordanschlag auf deren Führer Rudi Dutschke führte. Die Lügen der Bild-Zeitung über die Berliner Demonstration erfüllen eindeutig den Straftatbestand der Volksverhetzung. Doch das Springerblatt, auf dessen Presseball sich jedes Jahr die Crème de la Crème der Berliner Politik und Medienszene drängelt, muss nicht fürchten, dass deshalb der Staatsanwalt ins Haus kommt.

Die Hetze bleibt zudem nicht auf die Boulevard-Presse beschränkt. Auch deutsche Professoren sind sich nicht zu schade, tief in die braune Dreckkiste zu greifen, wenn es um das Schüren von Hass gegen Muslime geht.

So twitterte Professor Ruud Koopmans von der Berliner Humboldt-Universität auf X: „Es wird vielleicht Zeit ‚Allahu Akbar!‘ als Schlachtruf auf Demos unter Strafe zu stellen. Es wird 100% äquivalent benutzt wie das ‚Sieg heil!‘ der Nazis.“

Das arabische „Allahu Akbar“ bedeutet „Gott ist groß“ und wird von hunderten Millionen Muslime auf der ganzen Welt benutzt. Es leitet jede Woche das Freitagsgebet ein. Auch arabischsprachige Christen benutzen diesen Satz. Der Sozialwissenschaftler Koopmans hatte schon früher durch fragwürdige Studien, die fast die Hälfte der europäischen Muslime zu Fundamentalisten erklärten, von sich reden gemacht.

Die Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam, Susanne Schröter, die wegen ihrer antimuslimischen Haltung ebenfalls einschlägig bekannt ist, rührt in einem Interview mit der Frankfurter Neuen Presse ein Amalgam aus pro-palästinensischen Demonstranten, „extrem gewaltbereiten“ Islamisten, „marxistischen, leninistischen, trotzkistischen Gruppen aus dem pro-Palästina-Block“ und Vertretern der „Postkolonialen Theorie“ zusammen, das „unversöhnlich gegen Israel, gegen den Westen“ sei. Sie fordert Verbote und Einflussnahme auf die öffentliche Meinung.

Der massive Angriff auf das Demonstrationsrecht und die Meinungsfreiheit, der von den großen Parteien, Medien und ehemals liberalen Vertretern der wohlhabenden Mittelschicht unterstützt wird, kann nicht mit dem Krieg in Gaza allein erklärt werden. Er ist die Reaktion einer herrschenden Klasse, die sich zunehmend von den Massen isoliert und bedroht fühlt.

Trotz der intensiven Kampagne der Medien ist es ihr nicht gelungen, den Widerstand gegen den Genozid an den Palästinensern zu unterdrücken. Die Proteste dagegen werden von Woche zu Woche größer und haben längst einen internationalen Charakter angenommen. Am vergangenen Wochenende gingen weltweit Millionen auf die Straße.

Der Widerstand gegen Krieg und Unterdrückung kommt zusammen mit der Verschärfung des internationalen Klassenkampfs. Es entwickelt sich eine mächtige internationale Bewegung, die den Kapitalismus – die Ursache von Krieg und Unterdrückung – stürzen kann, wenn sie mit einem sozialistischen Programm bewaffnet wird. Dagegen richtet sich der Angriff auf Meinungsfreiheit und Demonstrationsrecht.

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