David North auf der Istanbuler Buchmesse zur türkischsprachigen Ausgabe von „Leo Trotzki und der Kampf für Sozialismus im 21.Jahrhundert“

„Ein Mann seiner Zeit, der Zeit voraus, und heute ein Mann unserer Zeit“

Türkische Ausgabe von „Leo Trotzki und der Kampf für Sozialismus im 21.Jahrhundert“

Diesen Beitrag hielt David North, Vorsitzender der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site, am Sonntag, dem 5. November, auf der Istanbul Book Fair, der internationalen Buchmesse der Türkei. Eine deutsche Ausgabe seines aktuellen Buchs „Leo Trotzki und der Kampf für Sozialismus im 21. Jahrhundert“ ist in Vorbereitung kann bereits beim Mehring Verlag vorbestellt werden.

Ich bin dankbar, dass ich heute die Gelegenheit habe, mein Buch „Leo Trotzki und der Kampf für Sozialismus im 21. Jahrhundert“ vorzustellen. Erlauben Sie mir, meinen Dank den Organisatoren der Istanbuler Buchmesse für die ausgezeichnete Einrichtung auszusprechen, die für diese Präsentation zur Verfügung steht, sowie meinen Genossen von der Sosyalist Eşitlik Grubu für die Übersetzung meines Buchs ins Türkische, ohne die diese Präsentation natürlich nicht möglich wäre.

Mein Buch besteht aus mehreren Essays und Vorträgen, die über einen Zeitraum von 40 Jahren entstanden sind. Der erste Teil des Buches besteht aus vier Texten, die im Herbst 1982 geschrieben wurden. Den Schluss des Buchs bildet ein Beitrag, den ich erst vor sieben Monaten, im April 2023, verfasst habe. Als die ersten Aufsätze geschrieben wurden, war ich ein vergleichsweise junger Mann, der erst ein Jahrzehnt Erfahrung in der revolutionären sozialistischen Bewegung hatte. Das letzte Dokument ist das Werk einer Person, die – zu meiner eigenen Verwunderung – das biblische Alter von 70 Jahren überschritten hat und seit über einem halben Jahrhundert in der Vierten Internationale aktiv ist.

Trotz der vielen Jahre, die zwischen der Abfassung des ersten und des letzten Teils des Buches liegen, sind sie durch einen zentralen Gedanken miteinander verbunden, nämlich, wie ich im Vorwort geschrieben habe, „dass Leo Trotzki in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die bedeutendste Figur in der Geschichte des Sozialismus war und sein Vermächtnis bis heute die unverzichtbare theoretische und politische Grundlage des fortdauernden Kampfs für den Sieg des Weltsozialismus bildet. Diese Einschätzung von Trotzkis Platz in der Geschichte und seiner bleibenden politischen Bedeutung wurde durch die Ereignisse der letzten vierzig Jahre eindrucksvoll bestätigt.“

David North‘ Präsentation der türkischsprachigen Ausgabe von „Leo Trotzki und der Kampf für Sozialismus im 21. Jahrhundert“ auf der Istanbuler Buchmesse (WSWS Media)

Beim erneuten Lesen dieser Anfang des Jahres geschriebenen Zeilen fällt mir auf, dass die schrecklichen Ereignisse, die sich gegenwärtig vor den Augen der Welt in Gaza abspielen, diese Einschätzung voll und ganz bestätigen.

Eine eingesperrte Bevölkerung, die in einem Gebiet lebt, das nur knapp 40 Kilometer lang und zwischen 8,5 und 13 Kilometern breit ist, wird von einer Armee unter Leitung des kriminellen Regimes des israelischen Staates in Schutt und Asche gebombt. Auf eine wehrlose Bevölkerung von 2,3 Millionen Menschen werden Zweitausend-Pfund-Bomben und mit weißem Phosphor versetzte Munition abgeschossen. Weder alte Menschen noch Kinder oder gar Säuglinge werden verschont. Gezielt werden Krankenhäuser und Schulen angegriffen. Und dies alles geschieht mit der uneingeschränkten Unterstützung aller imperialistischen Regime der Welt. Die heuchlerischen selbsternannten Verfechter der Menschenrechte in Washington, London, Paris und Berlin haben das Wort „Waffenstillstand“ aus ihrem politischen Wortschatz gestrichen. Nichts darf unternommen werden, um das Töten von Palästinensern zu stoppen.

Auf der ganzen Welt demonstrieren Millionen arbeitender Menschen und Jugendlicher gegen den völkermörderischen Krieg, den der israelische Staat und seine imperialistischen Zahlmeister gegen die Bevölkerung von Gaza führen. Die Menschen sind fassungslos über die Komplizenschaft ihrer Regierungen an diesem historischen Verbrechen. Wie ist das zu erklären, geschweige denn zu rechtfertigen?

Aber was sie erleben, sind die politischen Ausdrucksformen einer Epoche, die Leo Trotzki vor 85 Jahren als „Todeskampf des Kapitalismus“ bezeichnet hat. Es ist eine Epoche der „Erschütterungen, Krisen, Katastrophen, Epidemien und Bestialitäten“, wie er schrieb. In dem Maße, wie sich die Klassengegensätze zwischen den herrschenden Eliten und der Arbeiterklasse verschärfen, verschwinden alle „elementaren Moralvorschriften“ aus dem Sprachschatz der Staatspolitik: „Lügenhaftigkeit, Verleumdung, Bestechung, Käuflichkeit, Zwang und Mord [nehmen] ungeahnte Ausmaße an.“

Trotzki schrieb diese Worte nicht als Moralist, sondern als Revolutionär. Im Gründungsdokument der Vierten Internationale, das 1938 am Vorabend des Zweiten Weltkriegs entstand, warnte er: „Ohne eine sozialistische Revolution, und zwar in der nächsten geschichtlichen Periode, droht der gesamten menschlichen Kultur eine Katastrophe.“

Die Ereignisse der darauffolgenden sechs Jahre bestätigten seine Warnungen. Die Tatsache, dass der Krieg nicht zur völligen Auslöschung der Zivilisation führte, widerlegte Trotzkis Perspektive in keiner Weise. Die ersten Atombomben waren erst 1945 einsatzbereit. Angesichts der technologischen Entwicklung des letzten Dreivierteljahrhunderts ist die von Trotzki vorhergesehene Katastrophe heute zur unmittelbar drohenden Gefahr geworden.

Und damit sind wir bei der zentralen Aussage meines Buches angelangt. Die heutige Welt ist von denselben wirtschaftlichen, sozialen und politischen Widersprüchen zerrissen, die Trotzki zu seinen Lebzeiten analysiert hat. Wir leben in einer Welt, die Trotzki sehr gut wiedererkennen würde. Er wäre, wie man sich denken kann, über die bemerkenswerten Fortschritte in der Technologie erstaunt, aber die Triebkräfte, die in den globalen Wirtschaftskrisen, dem neuen Ausbruch des imperialistischen Militarismus und der Verschärfung des globalen Klassenkampfs wirksam werden, würde er sehr gut verstehen.

Von allen großen politischen Persönlichkeiten des vergangenen Jahrhunderts ist Trotzki insofern einzigartig, als sein Werk eine außerordentliche Aktualität besitzt. In dem Maße, in dem Trotzki alle anderen politischen Zeitgenossen (mit der einzigen Ausnahme von Lenin) überragte, kann man sagen, dass er seiner Zeit voraus war. Die objektiven Bedingungen – insbesondere nach der Niederlage der deutschen Revolution 1923 und dem Tod Lenins 1924 – benachteiligten ihn und die von ihm vertretene politische Strömung und Programmatik.

Trotzkis Lebensweg, sein bemerkenswerter Aufstieg zur Macht als Mitanführer der Oktoberrevolution von 1917, sein anschließender Sturz von der politischen Macht in der Sowjetunion zwischen 1923 und 1928 und schließlich sein Exil und seine Ermordung im Jahr 1940 – dies alles war von verschiedenen Etappen der sozialistischen Weltrevolution bestimmt und spiegelte sie wider. Keine andere Persönlichkeit der modernen Geschichte hat die revolutionäre Dynamik der Epoche so gut verstanden, keine hat sie vom Standpunkt der Interessen der internationalen Arbeiterklasse aus so bewusst zum Ausdruck gebracht.

Die tieferen sozioökonomischen Prozesse und die Fragen der politischen Perspektive, mit denen sich Trotzki beschäftigte, sind auch diejenigen unserer heutigen Zeit. Isaac Deutscher hat im Titel seiner dreibändigen Trotzki-Biographie („Der bewaffnete Prophet“, „Der unbewaffnete Prophet“, „Der verstoßene Prophet“) einprägsam das Bild eines Propheten beschworen. Gegen die Verwendung der biblischen Metapher mag es berechtigte Einwände geben. Und doch war es literarisch berechtigt, diese Bezeichnung für Trotzki zu verwenden. Denn er war ein Mann seiner Zeit, der seiner Zeit voraus war, und heute ist er ein Mann unserer Zeit.

An dieser Stelle dürfte die Feststellung kaum nötig sein, dass die Geschichte Trotzkis Kampf gegen die sowjetische Bürokratie und das totalitäre Regime, das mit dem Namen Stalin verbunden war, vollkommen gerechtfertigt hat. Die Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 bestätigte seine Anklage gegen Stalin als Totengräber der Oktoberrevolution, sowie auch Trotzkis Warnung, dass das bürokratische Regime, sofern es nicht durch eine politische Revolution gestürzt würde, die UdSSR zerstören und den Kapitalismus wieder einführen werde.

Trotzkis Kampf gegen das stalinistische Regime würde an sich schon ausreichen, um ihm einen Platz in der Geschichte zu sichern. Im Angesicht einer gnadenlosen Verfolgung hat Trotzki die revolutionären Prinzipien gegen ein mörderisches Regime verteidigt. Es ist jedoch wichtig, die weltgeschichtliche Bedeutung der Frage zu verstehen, die Trotzkis Kampf gegen den Stalinismus zugrunde lag: Im Zentrum stand der Widerstand gegen die antimarxistische und reaktionäre Theorie des „Sozialismus in einem Land“.

Trotzki nimmt in der Geschichte den Platz des größten Theoretikers und Strategen der sozialistischen Weltrevolution ein. Die Theorie der permanenten Revolution, die er 1906 erstmals formulierte, sah nicht nur voraus, dass die demokratische Revolution in Russland notwendigerweise die Form einer sozialistischen Revolution annehmen und sich als Diktatur des Proletariats verwirklichen würde. Trotzki erkannte – und hier fand sein politisches Genie seinen brillantesten Ausdruck – dass sich der proletarische Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus als globaler Prozess entwickelte. Der Kampf der Arbeiterklasse sowohl in den fortgeschrittenen als auch in den weniger entwickelten Ländern (d. h. in den Ländern mit einer verspäteten kapitalistisch–bürgerlichen Entwicklung) musste sich auf eine internationale, und nicht auf eine nationale Strategie stützen.

1928 schrieb Trotzki aus dem Exil in Alma Ata (vor seiner Ausweisung aus der Sowjetunion) in seiner Kritik am Programm der stalinistisch kontrollierten Dritten Internationale:

Am 4. August 1914 hatte den nationalen Programmen unwiderruflich die letzte Stunde geschlagen. Die revolutionäre Partei des Proletariats kann sich nur auf ein internationales Programm stützen, welches dem Charakter der gegenwärtigen Epoche, der Epoche des Höhepunkts und Zusammenbruchs des Kapitalismus, entspricht.

Ein internationales kommunistisches Programm ist auf keinen Fall eine Summe nationaler Programme oder eine Zusammenstellung deren gemeinsamer Züge. Ein internationales Programm muss unmittelbar aus der Analyse der Bedingungen und Tendenzen der Weltwirtschaft und des politischen Weltsystems als Ganzem hervorgehen, mit all ihren Verbindungen und Widersprüchen, d.h. mit der gegenseitigen antagonistischen Abhängigkeit ihrer einzelnen Teile. In der gegenwärtigen Epoche muss und kann die nationale Orientierung des Proletariats in noch viel größerem Maße als in der vergangenen nur aus der internationalen Orientierung hervorgehen und nicht umgekehrt. Darin besteht der grundlegende und ursächliche Unterschied der Kommunistischen Internationale und aller Abarten des nationalen Sozialismus.

Zwei Jahre später erklärte Trotzki in seiner vollständigsten Formulierung der Theorie der permanenten Revolution den Verlauf des revolutionären Prozesses in der modernen Epoche:

Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinne des Wortes zu einer permanenten Revolution: Sie findet ihren Abschluss nicht vor dem endgültigen Sieg der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planeten.

Diese Perspektive hat sich im weiteren Verlauf der Geschichte des 20. Jahrhunderts bestätigt. In der Tat zeugen die gegenwärtigen Ereignisse davon, dass die Auswirkungen von Trotzkis globaler Perspektive Fragen auf Leben und Tod sind. Die Verbrechen der israelischen Regierung wurzeln ideologisch und programmatisch in der Behauptung, die Lösung für die historische Verfolgung des jüdischen Volkes sei in der nationalistischen Vision des Zionismus zu suchen. Die sozialistische Bewegung führte über Jahrzehnte einen unerbittlichen Kampf gegen die zionistische Ideologie. Trotzki warnte wiederholt vor den tragischen Folgen, die das zionistische Projekt haben würde. Und nun, 75 Jahre nach der Gründung des israelischen Staates, ist die zionistische Utopie zu einem höllischen Regime verkommen, das auf eine völkermörderische Politik zurückgreift, wie sie vor 80 Jahren von den Nazis gegen das europäische Judentum angewandt wurde. Doch der reaktionäre Charakter des Zionismus findet sich auch in allen anderen Formen des Nationalismus wieder. Diese Perspektive ist durch die globale Entwicklung der Produktivkräfte und die Internationalisierung des Klassenkampfs überholt. Der Nationalstaat ist längst kein Vehikel für eine fortschrittliche Entwicklung der Menschheit mehr. Das Überleben der Zivilisation ist heute vollständig vom Sturz des Kapitalismus und des nationalstaatlichen Systems und vom Übergang zu einer sozialistischen Weltföderation abhängig.

Trotzki ist die überragende Figur des 20. und 21. Jahrhunderts. Ich hoffe, dass „Leo Trotzki und der Kampf für Sozialismus im 21. Jahrhundert“ dazu beitragen wird, dass sein Leben und Werk studiert wird, und vor allem, dass die Vierte Internationale als Weltpartei der sozialistischen Revolution aufgebaut wird.

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