Die Reichspogromnacht 1938 und die rassistische Hetze heute

85 Jahre nach der Reichspogromnacht werden in Deutschland wieder pogromartige Stimmungen geschürt. Nur dass sie sich vordergründig nicht gegen Juden richten, sondern gegen Muslime und alle, die sich dem Genozid an den Palästinensern im Gazastreifen widersetzen. Doch niemand sollte sich täuschen: Wo Fremdenhass gedeiht, ist auch der Antisemitismus nicht weit.

Frankfurt: Brennende Synagoge am Börneplatz

Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 kennzeichnete einen Wendepunkt der Judenverfolgung durch das Nazi-Regime. „Zwar waren schon vorher viele Juden misshandelt und ausgeraubt worden, aber größtenteils von sadistischen oder habgierigen Braunhemden, bei deren Verbrechen die Behörden die Augen zugedrückt hatten. Nun jedoch war es die deutsche Regierung selbst, die einen großen Pogrom organisiert und durchgeführt hatte,“ schreibt William L.Shirer in „Aufstieg und Fall des 3. Reiches“.

Das Nazi-Regime nutzte ein Attentat, das der 17-jährige Herschel Grynszpan zwei Tage vorher in Paris auf den deutschen Diplomaten Ernst von Rath verübt hatte, als Vorwand für ein von höchster Stelle gelenktes Pogrom. Über 1400 Synagogen brannten nieder, tausende jüdische Geschäfte wurden zerstört, Wohnungen geplündert, Menschen angegriffen und Friedhöfe geschändet. Rund 30.000 Juden wurden in Konzentrationslager gesperrt, etwa 1500 ermordet.

Die Täter blieben straflos, den Juden wurde eine Kollektivstrafe von einer Milliarde Mark auferlegt. Versicherungszahlungen für zerstörte Geschäfte und Wohnungen wurden vom Staat einkassiert. Wer es schaffte, legal auszureisen, musste sein Eigentum unter Wert verkaufen und nahezu sein gesamtes Vermögen an den Staat ausliefern. Das Pogrom vom 9. November stellte die Weichen für die staatlich organisierte Ermordung von sechs Millionen Juden, die ein Jahr später begann.

Heute wird dieses Menschheitsverbrechen von deutschen Politikern und Medien angeführt, um ein anderes Kriegsverbrechen zu rechtfertigen: die Vernichtung und Vertreibung der Palästinenser in Gaza. Jeder, der diesen Genozid kritisiert, wird als Antisemit denunziert. Das geht mit einer extremen Hetze gegen Migranten und Geflüchtete einher. Sämtliche Parteien haben die Linie der rechtsextremen AfD übernommen.

Der grüne Vizekanzler Robert Habeck hat in einem Video, das wir auf der WSWS bereits besprochen haben, „hier lebenden Muslimen“ gedroht, sie verlören ihren „Anspruch auf Schutz vor rechtsextremer Gewalt“, wenn sie sich nicht „klipp und klar von Antisemitismus distanzieren“ – eine Einladung an Neonazis, Migranten zu terrorisieren.

„Der Ansatz des Ministers zur rhetorischen … Verwirkung von Ansprüchen auf Schutz und Toleranz erweist sich als stinknormale Variante des moralverbrämten Rassismus,“ kommentiert Thomas Fischer, ehemaliger Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, im Spiegel Habecks Äußerung.

Bundeskanzler Olaf Scholz heizt die Pogromstimmung mit der Parole an: „Wir müssen endlich in großem Stil abschieben.“

Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder fordert „eine grundlegende Debatte über Integration und Parallelgesellschaften“. „Antisemitische“ – gemeint sind pro-palästinensische – Kundgebungen sollen „verboten und die Teilnahme unter Strafe gestellt werden“. Menschen mit einer doppelten Staatsbürgerschaft soll der deutsche Pass entzogen, Migranten sollen einer Gesinnungsprüfung unterworfen werden.

Die Bild-Zeitung diffamiert seit Wochen jeden Kritiker der brutalen Politik der rechten Netanjahu-Regierung als „Juden-Hasser“ und wirbt für Repression und Abschiebung. Doch diese Hetze findet sich nicht nur in der Boulevard-Zeitung, sondern in fast allen Medien.

In der Asylpolitik liefern sich alle Parteien – vom Bündnis Sahra Wagenknecht bis zur AfD – einen Wettbewerb der Niederträchtigkeiten. Keine Maßnahme ist zu gemein, zu unmenschlich und zu brutal, um Schutzsuchende aus Deutschland fernzuhalten.

Die Parteivorsitzende der Grünen, Ricarda Lang, und der grüne Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann, forderten in einem gemeinsamen Beitrag für den Tagesspiegel eine härtere Flüchtlingspolitik. Die Zahlen müssten gesenkt und Asylverfahren beschleunigt werden. Für alle, „die nicht vor Krieg und Verfolgung fliehen“, müsse es „klarere Konsequenzen“ geben.

In der Nacht zum Dienstag einigten sich Bund und Länder dann auf eine Verschärfung der Asylpolitik. Durch die Kürzung von Leistungen, die schon jetzt kaum das Existenzminimum decken, wollen Länder und Kommunen rund eine Milliarde Euro einsparen. Statt Bargeld sollen Asylbewerber zukünftig Bezahlkarten oder Wertgutscheine bekommen. Die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten – d.h. ihre Abschiebung nach Nigeria und in andere Länder – wird geprüft. Doch vielen, wie dem CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, geht auch das nicht weit genug.

Antisemitismus und Islamophobie

Dass der Genozid in Gaza und die Flüchtlingshetze in Deutschland ausgerechnet mit der Erfahrung der schlimmsten Menschheitsverbrechen durch den deutschen Imperialismus begründet werden, ist der Gipfel des Zynismus – und beruht auf einer Fälschung der Geschichte.

Die Entwicklung des modernen Antisemitismus zu einer Massenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich, Russland, Österreich und später auch in Deutschland war untrennbar mit dem Aufstieg der industriellen Arbeiterklasse verbunden. Der Antisemitismus diente dazu, verzweifelte Mittelschichten im Namen der „Nation“ zu vereinen und als Rammbock gegen die sozialistische Arbeiterbewegung einzusetzen. Denselben Zweck erfüllen auch Flüchtlingshetze und Islamophobie.

„Seine Befürworter betrachteten den Antisemitismus als wirkungsvollstes Mittel, Massen von Menschen gegen das aufsteigende sozialistische Proletariat und gegen sämtliche Elemente der liberalen Demokratie zu mobilisieren,“ schreibt David North in seiner Kritik von Daniel Goldhagens „Hitlers willige Vollstrecker“.

In Frankreich diente die Dreyfus-Affäre zwanzig Jahre lang dazu, die reaktionärsten politischen Elemente gegen die sozialistische Bewegung aufzuwiegeln. In Wien nutzte Bürgermeister Karl Lueger, der Lehrmeister Hitlers, den Antisemitismus zum selben Zweck. Und in Russland reagierte das Regime des Zaren auf die revolutionäre Bewegung der Arbeiter mit grauenhaften antisemitischen Pogromen.

Hitler trieb dies in der tiefsten Krise des deutschen und des Weltimperialismus auf die Spitze. „Das nationale ‚Erwachen‘ stützte sich ganz und gar auf die Mittelklassen, den rückständigsten Teil der Nation, den schweren Ballast der Geschichte,“ schreibt Leo Trotzki in seinem meisterhaften „Porträt des Nationalsozialismus“. „Die politische Kunst bestand darin, das Kleinbürgertum durch Feindseligkeit gegen das Proletariat zusammenzuschweißen. Was wäre zu tun, damit alles besser werde? Vor allem die niederdrücken, die unten sind. Kraftlos vor den großen Wirtschaftsmächten hofft das Kleinbürgertum, durch die Zertrümmerung der Arbeiterorganisationen seine gesellschaftliche Würde wiederherzustellen.“

Das Schicksal der Juden hing untrennbar mit dem Sturz des Kapitalismus, der Überwindung des Nationalstaats und dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft durch die Arbeiterklasse zusammen. Die Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung 1933, ein Ergebnis der verheerenden Politik der sozialdemokratischen und stalinistischen Führer, besiegelte auch ihr Schicksal.

Wenn Parteien und Medien heute wieder eine Pogromstimmung schüren, tun sie das aus den gleichen Erwägungen. Ihre rücksichtslose Kriegspolitik, die Lohnsenkungen und Sozialkürzungen lassen sich nicht mit demokratischen Methoden vereinbaren, sondern erfordern die Mobilisierung des Bodensatzes der Gesellschaft. Wenn sie nicht gestoppt wird, wird sich diese Pogromisierung der Politik auch wieder gegen Juden richten. Das zeigt schon die Verharmlosung der Naziverbrechen durch höchste Stellen und die Zusammenarbeit mit den Erben der Nazi-Kollaborateure und Antisemiten in der Ukraine.

Deutschland und den USA geht es bei ihrer Unterstützung der israelischen Kriegsverbrechen am allerwenigsten um den Schutz jüdischen Lebens. Sie eröffnen vielmehr eine neue Front im sich anbahnenden dritten Weltkrieg, mit dem sie ihre Weltmachtstellung gegen China, Russland und andere Länder behaupten wollen. Nachdem sie mit Irak, Afghanistan, Libyen und Syrien große Teile der Region zerstört haben, ohne sich durchzusetzen, und der Krieg gegen Russland in der Ukraine zum Stillstand gekommen ist, bereiten sie einen weiteren Krieg gegen Iran vor.

Der Kampf gegen rassistische Hetze und Antisemitismus ist aufs engste mit dem Kampf gegen diese wahnsinnige Kriegspolitik verbunden. So wie sich israelische und palästinensische Arbeiter gegen den Genozid zusammenschließen müssen, können Arbeiter in Deutschland ihre Lebensinteressen nur verteidigen, wenn sie die Rechte der Migranten verteidigen.

Die einzige Lehre, die man aus der Reichspogromnacht ziehen kann, ist die Ablehnung jeder Form von Nationalismus und rassistischer Hetze und der Aufbau einer internationalen sozialistischen Bewegung.

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