Marwan Barghouti, Israels bekanntester palästinensischer Gefangener

„Tomorrow’s Freedom“ von Sophie und Georgia Scott

Das Palestine Film Festival in London, das in diesem Jahr vom 17. bis 30. November stattfand, wurde mit zwei Vorführungen des Films „Tomorrow’s Freedom“ (Die Freiheit von morgen) über den Palästinenser Marwan Barghouti eröffnet. Barghouti ist Israels bekanntester politischer Gefangener. Regelmäßig weisen ihn Umfragen als Favoriten für die Nachfolge des 87-jährigen Mahmud Abbas aus, des Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde.

„Tomorrow’s Freedom“ (Die Freiheit von morgen)

Barghouti verbüßt fünf lebenslange Haftstrafen plus 40 Jahre in einem israelischen Gefängnis, nachdem die israelischen Behörden ihn während der zweimonatigen Militäroperation im Jahr 2002, während der zweiten palästinensischen Intifada im besetzten Westjordanland, rechtswidrig festgenommen und inhaftiert haben.

In dem Film kommen seine Frau Fadwa und ihre Familie, sowie Aktivisten, Menschenrechtsanwälte, Journalisten und führende Persönlichkeiten zu Wort. Er wurde über mehrere Jahre hinweg gedreht und im Jahr 2022 veröffentlicht. Er zeigt den Kampf der palästinensischen Gefangenen gegen die israelische Unterdrückung, und wer ihn sieht, wird den Angriff vom 7. Oktober und die Entführung von 240 israelischen Geiseln durch die Hamas besser verstehen.

Als Gegenleistung für die Freilassung der Geiseln hat die Hamas die Entlassung palästinensischer Gefangener aus israelischer Haft gefordert. Zu diesem Zeitpunkt hielt Israel rund 5.100 Personen fest, darunter 33 Frauen, 165 Kinder und 1.200 Personen, die ohne Anklage praktisch unbefristet festgehalten werden – eine Zahl, die sich mittlerweile verdoppelt hat. Die Praxis ist so weit verbreitet, dass fast jede Familie mindestens eine Person aufweist, die schon einmal von den israelischen Sicherheitskräften festgenommen wurde.

Der Film berichtet über Barghoutis Leben und seine Zeit im Gefängnis, über die Besuche seiner Familie und die Kampagnen für seine Freilassung. Er befasst sich mit seinem Hungerstreik im Jahr 2017 und weist auf die entsetzlichen Bedingungen hin, die in den israelischen Gefängnissen vorherrschen. Aber während der Film ein anschauliches Bild dieses Leids zeichnet, das Barghouti und seiner Familie infolge der langen Inhaftierung angetan wird, weicht er den damit verbundenen politischen Fragen aus.

Barghouti wurde 1959 in Kobar, in der Nähe von Ramallah, im besetzten Westjordanland geboren. Er schloss sich Jassir Arafats Fatah an, die innerhalb der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) die dominierende Fraktion bildete. Die PLO setzte sich für die Erreichung eines palästinensischen Staats durch den bewaffneten Kampf ein. Später war Barghouti Mitbegründer der Fatah-Jugend. Im Alter von 18 Jahren wurde er von Israel wegen seiner militanten Aktivitäten verhaftet und zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt.

Als einer der Anführer im Westjordanland während der ersten Intifada, die im Dezember 1987 begann, wurde Barghouti von Israel verhaftet und nach Jordanien deportiert, bis er 1994 im Rahmen des Osloer Abkommens von 1993 zurückkehren durfte. Die Osloer Abkommen (1993 und 1995) sahen einen palästinensischen Staat an der Seite Israels vor, den die von der PLO kontrollierte Palästinensische Autonomiebehörde regieren sollte.

Allerdings haben sich die faschistischen und rassistischen Kräfte Israels, die heute in der rechtsextremen Regierung von Premierminister Bejamin Netanjahu sitzen, immer geweigert, diese Formel, die es der palästinensischen Bourgeoisie erlaubte, ihr Gesicht zu wahren, anzuerkennen. Dies geht so weit, dass sie den Mord an dem israelischen Premierministers Yitzhak Rabin, dem Unterzeichner des Osloer Abkommens, im November 1995 unterstützten, was de facto das Ende der sogenannten „Zweistaatenlösung“ einleitete.

Barghouti, ein Befürworter des Abkommens, wurde 1996 in den Palästinensischen Legislativrat gewählt. Er bekleidete das Amt des Generalsekretärs der Fatah im Westjordanland. Als die Aussicht auf eine Zweistaatenlösung schwand, rief er zu öffentlichen Protesten auf und erklärte, dass die nächste Intifada „neue Formen des militärischen Kampfs“ aufweisen werde, um einen palästinensischen Staat an der Seite Israels zu erreichen.

Während der Zweiten Intifada, die im September 2000 ausbrach, war Barghouti der Führer des bewaffneten Fatah-Zweigs Tanzim, der gegründet wurde, um islamistischen Gruppen wie der Hamas und dem Palästinensischen Islamischen Dschihad entgegenzutreten. Diese hatten die Oslo-Abkommen abgelehnt und befürworteten die Fortsetzung des bewaffneten Kampfs. Israel reagierte, indem es Barghoutis Verhaftung forderte und 2001 ein Attentat auf ihn verüben ließ, das ihn nur knapp verfehlte und seinen Leibwächter tötete.

Im April 2002, als die amerikanische Regierung Israel daran hinderte, Arafat zu verhaften, nahmen israelische Soldaten dafür Barghouti fest. Sie verhafteten ihn in seinem Haus in Ramallah im Westjordanland und brachten ihn nach Israel. An ihm als dem ranghöchsten palästinensischen Funktionär in israelischer Haft wollten sie ein Exempel statuieren, um zu beweisen, dass die palästinensische Nationalbewegung (in den Worten von Premierminister Ariel Sharon) „eine Bande von Mördern und Terroristen“ sei.

Während der Operation „Defensive Shield“ verhaften israelische Soldaten Barghouti in Ramallah [Photo by IDF Spokesperson's Unit / CC BY-SA 3.0]

Vor einem israelischen Zivilgericht musste sich Barghouti wegen 26 Anklagen wegen Mordes und versuchten Mordes verantworten. Die Anklagen bezogen sich auf Angriffe der Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden der Fatah auf israelische Zivilisten und Soldaten. Laut Gericht sollte Bargouti sie unterstützt und autorisiert haben. Wie der Prozess ausgehen würde, stand von vorneherein fest. Mindestens 95 Prozent der Palästinenser aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen, die bis dahin vor israelischen Gerichten angeklagt worden waren – eine halbe Million Menschen – wurden verurteilt, zumeist auf der Grundlage von Vergleichsvereinbarungen. Die Anschuldigungen vor Gericht erfolgreich anzufechten, war nahezu unmöglich.

Barghouti versuchte, den Spieß umzudrehen, Israel zu beschuldigen und den betrügerischen Charakter seines Prozesses zu entlarven. Er lehnte es ab, sich gegen die Anschuldigungen und Beweise zu verteidigen, die auf Geständnissen beruhten, die unter Folter und Misshandlung erpresst worden waren. Er argumentierte, dass Israel nicht befugt sei, ihn als Beamten der Palästinensischen Autonomiebehörde, die auf das Osloer Abkommen zurückging, zu verurteilen.

Barghouti präsentierte sich als Symbol des palästinensischen Widerstands und erklärte: „Mein Verbrechen ist nicht ‚Terrorismus‘ – ein Begriff, der offenbar nur für den Tod israelischer Zivilisten verwendet wird, aber niemals für den Tod von Palästinensern. Mein Verbrechen ist, dass ich auf meiner Freiheit bestehe, der Freiheit meiner Kinder, der Freiheit des gesamten palästinensischen Volkes. Und wenn das tatsächlich ein Verbrechen ist, bekenne ich mich dessen mit Stolz schuldig.“

Die Filmemacher interviewten den französischen Völkerstrafrechtler Simon Foreman, den die Interparlamentarische Union beauftragt hatte, Barghoutis Verhaftung und Prozess zu überprüfen. Die Interparlamentarische Union ist ein internationaler Verband nationaler Parlamente, deren Zweck darin besteht, die demokratische Regierungsführung, Rechenschaftspflicht und Zusammenarbeit ihrer Mitglieder zu fördern. Foreman kritisierte Barghoutis Verhaftung, seine Misshandlung in der Haft und den Prozess selbst. Er kam zu dem Schluss: „Die zahlreichen Verstöße gegen das Völkerrecht (…) machen es unmöglich, zu schließen, dass Marwan Barghouti ein faires Verfahren erhalten hat“. Seine Verhaftung auf palästinensischem Gebiet und seine Überstellung nach Israel seien unrechtmäßig erfolgt.

Barghoutis Verurteilung und die rachsüchtige Verhängung der höchstmöglichen Haftstrafe dienten dazu, einen populären politischen Nachfolger Arafats zu beseitigen.

Seit seiner Verurteilung muss Barghouti – wie andere palästinensische Gefangene auch – Einzelhaft und strenge Beschränkungen für Familienbesuche ertragen, zu denen das Verbot gehört, Bücher, Kleidung, Lebensmittel und andere Gegenstände zu erhalten und Fotos mit Verwandten zu machen. Als „Hochsicherheits“-Gefangener darf er nicht einmal mit seiner Familie telefonieren. Diese benötigt für Besuche bei ihm eine israelische Genehmigung, die regelmäßig unter fadenscheinigen „Sicherheits“-Vorwänden verweigert wird. Seine Frau Fadwa hat mehrmals versucht, ihn gemäß den Vereinbarungen zu besuchen, und wurde dann, nachdem sie den ganzen Tag gewartet hatte, doch abgewiesen.

Viele Gefangene leiden unter der Verweigerung medizinischer Hilfe. Sie müssen für ihre Behandlung selbst bezahlen, und selbst dann erhalten sie keine angemessene medizinische Versorgung. Kranken Patienten ist sogar schon Wasser verweigert worden.

Barghouti ist mehrfach in den Hungerstreik getreten, zuletzt 2017 zusammen mit 1.500 anderen Gefangenen verschiedener palästinensischer Parteien und Fraktionen in mindestens sechs Gefängnissen.

Im Juli erklärte Francesca Albanese, Sonderberichterstatterin für Menschenrechte in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten:

Israels rechtswidrige Kerkerpraktiken kommen international geächteten Verbrechen gleich, die eine dringende Untersuchung durch den Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs rechtfertigten. Dies umso mehr, als diese Straftaten offenbar Teil eines Plans zur ‚Entpalästinisierung‘ des Territoriums sind. Dies bedroht die Existenz eines Volkes als national zusammenhängender Gruppe.

Barghoutis Frau, eine Anwältin, führt einen unerschütterlichen Kampf für seine Freilassung, eine Forderung, die die World Socialist Web Site bedingungslos unterstützt, ebenso wie die sofortige und bedingungslose Freilassung aller palästinensischen politischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen.

Im vergangenen Sommer traf Barghoutis Frau sich mit hochrangigen arabischen Führern in Jordanien, Ägypten und der Arabischen Liga sowie mit Diplomaten in den Vereinigten Staaten und Europa, um sie zu drängen, Barghoutis Freilassung zu erwirken und internationale Unterstützung dafür zu gewinnen, dass ihr Mann zum Leiter der Palästinensischen Autonomiebehörde ernannt werden soll, sobald Abbas in den Ruhestand geht. Das jordanische und das ägyptische Außenministerium haben sich bisher nicht offen bereit erklärt, sich für Barghoutis Freilassung einzusetzen. Allerdings zeigen die Treffen, dass sie daran interessiert sind, eine Nelson-Mandela-ähnliche Figur zu finden, die die korrupte Palästinensische Autonomiebehörde leiten und retten könnte, die seit 30 Jahren als Beauftragte Israels arbeitet und jede politische Glaubwürdigkeit verloren hat.

Als Nelson Mandela 1990 nach 26 Jahren Haft freigelassen wurde, gelangte er an die Spitze der vom Afrikanischen Nationalkongress (ANC) geführten Regierung und sorgte dafür, dass der Kapitalismus das Ende der Apartheid in Südafrika überlebte, indem die Arbeiterklasse politisch demobilisiert wurde. Seither profitiert dort eine winzige Handvoll schwarzer Südafrikaner auf Kosten der großen Mehrheit. Der ANC ist genauso wenig wie seine bürgerlich-nationale Pendants im Nahen Osten und in Afrika in der Lage, Lösungen für die sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Arbeiterklasse und der Landbevölkerung zu finden. Seine einzige Antwort auf die stark eskalierenden sozialen Spannungen sind bis heute Repressionen, Verhaftungen und die Erstickung von Protesten und Streiks.

Die PLO hat eine ähnliche Politik verfolgt, indem sie ihren Frieden mit dem US-Imperialismus schloss und nach der Ersten Intifada Reichtum und Privilegien für eine schmale Oberschicht anstrebte. Sie hat sich aus der früheren Opposition in den Beauftragten der palästinensischen Bourgeoisie verwandelt, ist vom Imperialismus abhängig und fürchtet die arbeitenden Massen. Sie kann die grundlegenden demokratischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme, mit denen die Massen konfrontiert sind, niemals lösen.

Für die palästinensische Arbeiterklasse gibt es keinen anderen Weg vorwärts als den Klassenkampf und die sozialistische Revolution. Das bedeutet, dass sie mit der kapitalistischen Politik der palästinensischen nationalistischen Fraktionen – sowohl der säkularen als auch der islamistischen – brechen und eine Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale aufbauen muss. Diese wird die arabischen und jüdischen Arbeiter im Kampf gegen den Kapitalismus und für den Sozialismus vereinen.

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