Ukraine plant Mobilmachung von weiteren 500.000 Soldaten

Eine Ehrengarde trägt den Sarg eines ukrainischen Soldaten während seiner Beerdigungsfeier am 15. Dezember 2023 auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew [AP Photo/Evgeniy Maloletka]

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gab am Dienstag vor einer Woche auf seiner Pressekonferenz zum Jahresende bekannt, die Regierung erwäge als Reaktion auf ein Ersuchen der ukrainischen Streitkräfte die Einberufung von weiteren 500.000 Mann.

Laut Selenskyj wird der vorgeschlagene Mobilmachungsplan 13,3 Milliarden Dollar kosten. Er räumte ein, dass unklar ist, wie genau die Ukraine – die bereits das ärmste Land Europas ist – die Mobilmachung bezahlen soll. Während seiner Reise nach Washington vorletzte Woche gelang es ihm nicht, die sofortige Bewilligung von 60 Milliarden Dollar an US-Mitteln durch den Kongress zu bekommen.

Vor Kriegsbeginn lebten in der Ukraine etwa 36 Millionen Menschen, von denen bereits mehrere Millionen geflohen sind. Daher würde die geplante Zahl einen großen Teil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ausmachen. Sie würden in einem von der Nato angebahnten Krieg verheizt, von dem der ukrainische General Walerij Saluschnyj bereits im November dieses Jahres im Economist erklärt hatte, er befinde sich in einer „Pattsituation“.

Die Gesamtzahl der im Krieg getöteten oder verletzten ukrainischen Soldaten ist ein von Kiew streng gehütetes Geheimnis. Allerdings bestätigte Selenskyjs ehemaliger Präsidentenberater, Alexei Arestowitsch, Anfang Dezember in einem Interview die russische Behauptung, die Ukraine hätte 400.000 Mann verloren.

Laut den Vereinten Nationen wurden mehr als 10.000 ukrainische Zivilisten getötet, darunter 560 Kinder. Zudem ist die Ukraine heute das am stärksten verminte Land der Welt.

Selenskyj und seine Berater hatten Saluschnyj im November zwar heftig dafür kritisiert, dass er den Krieg als „Pattsituation“ beschrieb, doch scheint dies in Wirklichkeit noch eine wohlwollende Charakterisierung gewesen zu sein. Seit Beginn des Krieges im Februar 2022 hat die Ukraine ein Fünftel ihres Staatsgebiets verloren, darunter die wichtigen Seehäfen am Schwarzen Meer. Viele Militäranalysten halten es für höchst unwahrscheinlich, dass Kiew die Krim oder den Donbas zurückerobern kann.

Die umfassend beworbene „Gegenoffensive“ im Frühjahr war ein kläglicher Fehlschlag und endete ohne Geländegewinne und einem Verlust von rund 125.000 ukrainischen Soldaten in nur wenigen Monaten. Ein Großteil der teuren westlichen Militärausrüstung, welche die Nato an Kiew geliefert hatte, erwies sich als nutzlos oder wurde zerstört. Überall im Land sind die ukrainischen Streitkräfte nun weitgehend in der Defensive und laufen Gefahr, die strategisch wichtige Stadt Awdijiwka im Nordosten von Donezk zu verlieren. Sie hat sich, wie zuvor Bachmut, zu einem weiteren „Fleischwolf“ entwickelt, in dem beide Seiten zahllose Soldaten in selbstmörderischen Angriffen für ein paar Quadratmeter Gelände opfern.

Je länger sich der Krieg hinzieht, desto deutlicher wird der zahlenmäßige und materielle Vorteil Russlands, wie der ehemalige stellvertretende Generalstabschef der ukrainischen Streitkräfte, Generalleutnant Igor Romanenko, vor kurzem gegenüber Al Jazeera erklärte.

Romanenko sagte: „In diesen Tagen konzentrieren wir uns darauf, zur Defensive überzugehen, und zur Erhöhung ihrer Effektivität, die gefährlichsten [Front]-Abschnitte auszurüsten und zu verminen. Diese Zeit nutzen wir, um Ressourcen anzusammeln.“

Was die Rüstungsproduktion angeht, so hat Russlands schnelle Steigerung der Produktion von Artillerie und anderen Waffen im Verlauf des letzten Jahres eindeutig Auswirkungen auf dem Schlachtfeld. Romanenko erklärte: „Dieses Jahr konnten [die Russen] uns einholen und überholen und große Mengen von unbemannten Luftfahrzeugen produzieren.“

Unter diesen Bedingungen ist die Forderung nach der Mobilisierung von 500.000 ukrainischen Bürgern ein stillschweigendes Eingeständnis, dass die Selenskyj-Regierung bereit ist, weitere Hunderttausende zu opfern, um Gebiete im Osten und Süden der Ukraine zurückzuerobern. Neben ihrer industriellen und landwirtschaftlichen Bedeutung verfügen sie auch über wertvolle Mineralienvorkommen.

Die Selenskyj-Regierung befürchtet zu Recht eine Gegenreaktion der ukrainischen Arbeiterklasse, die ihre Gesundheit und ihr Leben für den Krieg opfern soll. Sie bezeichnete die Mobilisierung als „sehr heikles Thema“, über das noch entschieden werden müsse, bevor es dem Parlament zur Ratifizierung vorgelegt wird.

Laut Umfragen des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie unterstützen 65 Prozent der ukrainischen Bevölkerung eine weitere Mobilmachung. Doch diesen Zahlen ist nicht zu trauen, da jede Opposition gegen die nationalistische Kriegspropaganda in der Ukraine stark zensiert wird und die Teilnehmer vermutlich aus Angst vor einem Besuch des Geheimdienstes SBU kaum ehrliche Antworten geben würden. Anton Hruschetzki, der Geschäftsführer des Kiewer Umfrageinstituts, erklärte gegenüber Reuters, Ukrainer würden oft „gesellschaftlich erwünschte“ Antworten geben oder falsche Namen benutzen, um ihre Identität zu schützen.

Eine rasche Erhöhung der einberufenen Soldaten birgt auch die Gefahr, die ukrainische Ober- und Mittelschicht zu entfremden. Sie sind bisher vor den Folgen des Krieges weitgehend verschont geblieben, da sie ins Ausland geflohen, Zurückstellungen wegen Studium oder Krankheit in Anspruch genommen oder bis zu 10.000 Dollar Bestechungsgelder gezahlt haben, um nicht eingezogen zu werden. Eine derart riesige Summe wäre für Angehörige der ukrainischen Arbeiterklasse schlicht unbezahlbar.

Im August hatte Selenskyj die Leiter der regionalen Rekrutierungszentren der Ukraine entlassen, nachdem ein umfangreiches Bestechungssystem aufgedeckt worden war. Die unbeabsichtigte Folge war ein rapider Rückgang der Einberufungen, was das Militär verärgerte und die Kluft zwischen der Regierung und dem Militär unter Führung von Saluschnyj weiter vergrößerte.

Am Montag äußerte Saluschnyj im Vorfeld von Selenskyjs Pressekonferenz offen Kritik an der Entlassung der Führung der Rekrutierungsbehörden und machte Selenskyjs Regierung direkt für das Versagen bei den Einberufungen verantwortlich. Interfax Ukraine zitierte Saluschnyj mit den Worten „Das waren Fachleute, sie wussten, wie man das macht, und jetzt sind sie weg.“

Angesichts der drohenden militärischen Krise setzen die Rekrutierungsbehörden zunehmend auf diktatorische Methoden: Junge Menschen werden aus Fitnessstudios, Restaurants, Einkaufszentren und von der Straße geholt und in die Armee gezwungen. Die WSWS hatte bereits im letzten Frühjahr darüber berichtet, und letzte Woche gab es auch die New York Times verspätet zu.

Angesichts rückläufiger Zahlen geeigneter Rekruten im Inland kündigte der neu ernannte ukrainische Verteidigungsminister Russian Umerow letzte Woche Pläne an, im Ausland lebende ukrainische Männer zur Rückkehr in die Ukraine zu zwingen, um in den Streitkräften zu dienen. Wie BBC Ukraine im November berichtete, haben seit Beginn des Kriegs 650.000 ukrainische Männer zwischen 18 und 60 Jahren die Ukraine Richtung Europa verlassen. Selenskyjs Berater Alexej Arestowitsch hatte vor kurzem sogar behauptet, 4,5 Millionen Männer – fast die Hälfte der ukrainischen männlichen Bevölkerung – seien ins Ausland geflohen, um sich dem Militärdienst zu entziehen. Zudem bestünden 30 bis 70 Prozent der Militäreinheiten aus „Verweigerern“, die sich unerlaubt von der Truppe entfernt haben.

Um unwillige Soldaten zur Rückkehr zu zwingen, sollen die potenziellen Rekruten „Einladungen“ erhalten, auf welche dann „Sanktionen“ folgen können, wenn sie nicht zurückkehren. Umerow erklärte: „Wir diskutieren noch darüber, was passieren sollte, wenn sie nicht freiwillig zurückkommen.“

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