Ein Interview mit der Gesundheitsexpertin Dr. Yara Asi über den Völkermord in Gaza

„Wir erleben einen umfassenden Angriff auf jeden Bereich des Lebens“

Nach Angaben des Gesundheitsministerium in Gaza wurden seit Beginn der Kampfhandlungen am 7. Oktober 2023 bis Anfang Januar 2024 in Gaza mindestens 23.500 Palästinenser getötet und fast 60.000 verletzt. Etwa 70 Prozent davon waren Frauen und Kinder.

Viele der Vermissten sind vermutlich tot, begraben unter den Trümmern des Gazastreifens. Dieses Gebiet, das flächenmäßig kleiner ist als die Stadt Detroit, gleicht allmählich eher einem Friedhof unter freiem Himmel als einem Gefängnis unter freiem Himmel, wie es die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese im letzten Sommer beschrieben hat.

Mehr als 1,9 Millionen Menschen, d. h. 85 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens, sind Binnenflüchtlinge. Etwa eine Million sind in der südlichen Grenzsiedlung Rafah zusammengepfercht, wo es keinen Ort gibt, an den sie vor den täglichen Angriffen der Bombenjets und Scharfschützen fliehen können. Das UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten schätzt, dass 65.000 Häuser vollständig zerstört und weitere 290.000 beschädigt worden sind. Mehr als die Hälfte der Bewohner des Gazastreifens wurden obdachlos.

Die Associated Press stellte anhand von Satellitendaten fest, dass im nördlichen Gazastreifen mehr als zwei Drittel aller Gebäude und im südlichen Gebiet um Chan Younis 25 Prozent der Gebäude zerstört worden sind. Die Financial Times stellte fest, dass die Zerstörungen im nördlichen Gazastreifen schlimmer waren als die der Brandbomben auf Dresden im Zweiten Weltkrieg. Fast das gesamte Gesundheitssystem wurde zerstört, und es gibt nur noch 1.400 Krankenhausbetten, die sich im Wesentlichen im Süden des Gazastreifens befinden. Über hundert Schulen wurden zerstört, das sind 70 Prozent aller Schulen. Nach Angaben des Guardian werden die Schulen, die noch stehen, als Unterkünfte für Binnenflüchtlinge genutzt. Die Wasserproduktion liegt bei sieben Prozent des Vorkriegsniveaus, und es herrscht Massenhunger.

Letzte Woche hat der Anwalt am Obersten Gerichtshof Südafrikas, Adila Hassim, vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag ausgesagt, dass Israel sich des Völkermordes schuldig gemacht und damit gegen die Konvention von 1948 verstoßen hat. In seinen Ausführungen sagte er: „In den vergangenen 96 Tagen hat Israel den Gazastreifen einer der schwersten konventionellen Bombenkampagnen in der Geschichte der modernen Kriegsführung unterzogen.“

Vor diesem Hintergrund bat die World Socialist Web Site Dr. Yara Asi um ein Interview. Sie ist Assistenzprofessorin für globales Gesundheitsmanagement und Informatik an der University of Central Florida, Gastwissenschaftlerin am FXB Center for Health and Human Rights der Harvard University und Fullbright-Stipendiatin der USA im Westjordanland. Ihre Beiträge wurden in der New York Times, dem Guardian (wo sie die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Palästina erörterte) und der Washington Post veröffentlicht. Ihr demnächst erscheinendes Buch, „How War Kills: The Overlooked Threats to Our Health“ (Wie Kriege töten. Die kaum beachteten Gefahren für unsere Gesundheit) soll noch in diesem Monat bei Johns Hopkins University Press erscheinen.

Dr. Yari Asi [Photo: Dr. Yara Asi]

Dr. Asi hat viel über Krieg, Gesundheit und die israelische Besatzung in Palästina geschrieben. Sie war so freundlich, unsere Einladung zu einem Interview anzunehmen. Das folgende Transkript wurde leicht gekürzt.

Benjamin Mateus (BM): Können Sie uns zu Beginn kurz sagen, wer Sie sind, und dann über die aktuelle Situation im Gazastreifen und im Westjordanland sprechen, und zwar aus Ihrer Sicht als Expertin für öffentliche Gesundheit im Gazastreifen und für dessen Geschichte. Wie ist die Situation vor Ort?

Yara Asi (YA): Ich heiße Yara Asi, bin Palästinenserin und wurde in Nablus im Westjordanland geboren. Derzeit bin ich Assistenzprofessorin für globales Gesundheitsmanagement und -informatik an der University of Central Florida und Co-Direktorin des Palästina-Programms für Gesundheit und Menschenrechte, einem Partnerschaftsprogramm zwischen der Harvard University und der Birzeit University im Westjordanland.

Ich habe mich während meiner gesamten beruflichen Laufbahn mit palästinensischer Gesundheit befasst. In der Weise, in der wir Dinge studieren, bevor wir Profis werden, indem wir einfach beobachten, was passiert, denke ich ohne Übertreibung, dass dies möglicherweise die schlimmste Zeit in den besetzten Gebieten während meines Lebens ist, schlimmer sogar noch als während der Zweiten Intifada, dem Bau der Mauer und allem, was Anfang der 2000er Jahre geschah. Es ist schwer, sich eine schlimmere Zeit als diese vorzustellen.

Ich werde versuchen, die politische Seite aus dem Thema herauszuhalten. Es gibt andere Leute, die besser geeignet sind, darüber zu sprechen.

Aber was die Gesundheit anbelangt, so erleben wir einen vollständigen Angriff auf die palästinensische Gesundheitsversorgung im Sinne eines Gesundheitssystems, d. h. auf die Gebäude, die Ressourcen, einschließlich der medizinischen Mitarbeiter, die getötet werden, aber auch auf alle anderen Aspekte, die für die Aufrechterhaltung des Lebens notwendig sind, wie Lebensmittel, Wasser, Medikamente usw. Die LKWs mit Hilfsgütern, die an der Grenze warten, werden weiter festgehalten. Die Menschen hungern. Die Menschen in Gaza berichten von einer Zunahme von Infektionskrankheiten. Menschen, die für diese Zeit Transplantationen oder andere wichtige Eingriffe geplant hatten, müssen darauf verzichten.

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Ich hatte einen ehemaligen Studenten, dessen Vater Anfang Oktober seine letzte Chemotherapie bekam. Offensichtlich hat man das alles inzwischen eingestellt.

Es ist, offen gesagt, unglaublich deprimierend, zu sehen, wie wenig die internationale medizinische Gemeinschaft auf diese offensichtliche Gesundheitskatastrophe reagiert. Sie hat offenbar das Gefühl, sie müsse diese Katastrophe bloß in gewisse wohltönende Begriffe fassen, statt einfach zu tun, was wir eigentlich tun sollten: den Horror, den wir erleben, offen zu schildern. Den allgegenwärtigen Horror.

Diesen Horror erleben die Menschen nicht nur in Gaza sondern auch im Westjordanland, wo Siedler fast täglich rausgehen, um palästinensische Familien zu schikanieren und anzugreifen. Israelische Soldaten führen nun fast täglich Razzien in Flüchtlingslagern durch.

Fast jeden Tag sehe ich in den sozialen Medien einen weiteren Toten, oft ein Kind oder einen jungen Erwachsenen aus dem Westjordanland. In den westlichen Medien sehe ich diese Bilder nicht. Dabei sind die gesundheitlichen Folgen sehr schlimm.

Die Menschen haben Angst, ihre Orte und Häuser wegen der Anschläge zu verlassen. Sie gehen nicht ins Krankenhaus. Oder ihr Arzt schafft es nicht zu ihnen nachhause. Die Ressourcen werden immer knapper, weil die von der Bevölkerung benötigten Güter nicht mehr transportiert werden können. Und darüber hinaus gibt es noch einen weiteren Aspekt des Angriffs, der selbst für Menschen, die bisher körperlich unversehrt geblieben sind, unmöglich zu beschreiben ist, nämlich die psychologische Folter, die das Leben in dieser Situation bedeutet.

Ganz offensichtlich hat in Gaza jeder, der jetzt noch lebt, seit drei Monaten fast täglich Bombenangriffe erlebt und mitbekommen, dass diese oder jene Person gestorben ist. Einige liegen im Krankenhaus, getrennt von ihren Familien. Aber auch im Westjordanland hat man das Gefühl, dass man nirgendwo sicher ist. „Ich bin nicht einmal in meinem Haus oder meinem Laden sicher“, denn die Menschen haben Videos von Hausdurchsuchungen gesehen, und ein Ladenbesitzer wurde in den Kopf geschossen, als er mit seiner kleinen Tochter direkt vor seinem Laden stand.

In den großen Städten fliegen ständig Drohnen herum. Überall gibt es Soldaten und Siedler, und man weiß, dass sie Straffreiheit genießen. Ehrlich gesagt, ich könnte noch viel mehr über den Schrecken dieser Momente erzählen. Das ist so ziemlich das Schlimmste, was wir je gesehen haben. Und das will viel heißen, wenn man bedenkt, dass wir seit bald einem Jahrhundert darüber reden, wie schlimm es ist.

BM: Ich möchte Sie zu Ihrem neuen Buch befragen, das diesen Monat erscheint und den Titel „Wie Kriege töten: Die kaum beachteten Bedrohungen für unsere Gesundheit“ trägt. Vielleicht können Sie auf die zentralen Themen eingehen und erläutern, inwieweit die aktuellen Ereignisse in Gaza die von Ihnen festgestellten Probleme bestätigen?

YA: Das Buch ist nicht auf Palästina ausgerichtet. Aber aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen und einfach aufgrund der Tatsache, dass Palästina in den gegenwärtigen bewaffneten Konflikten eine wichtige Rolle spielt, kommt es in dem Buch vor. Das Buch enthält drei Argumente. Das erste ist das, was man von dieser Art von Buch erwarten würde. Ich weiß nicht, ob Sie die Arbeiten von Barry Levy oder Leonard Rubinstein gelesen haben, diese Art von Büchern, die sich mit der Gesundheit in einem Kriegsgebiet befassen. Ich spreche über die unmittelbare Gewalt des Krieges, über Bombenangriffe, Scharfschützen, physische Gewalt, das, was wir mit dem Krieg assoziieren, das Geschehen im Krieg.

Dann spreche ich über den zweiten Killer der vom Krieg gebeutelten Bevölkerung. Und genau diese indirekte Gewalt sehen wir in der Belagerung des Gazastreifens: das Gefühl der Unsicherheit, das Sterben durch Verhungern, das Sterben durch Infektionskrankheiten, das Sterben durch Operationen unter unangemessenen Bedingungen. Diese Arten des Sterbens wird, wenn es an einem Ort wie dem Gazastreifen so weitergeht, bald die Zahl der Todesopfer durch Luftangriffe übertreffen, so abscheulich diese auch sein mögen.

Dritter Tag der Waffenruhe: Ein Palästinenser im zerstörten Shifa Hospital, Gaza City, 26. November 2023 [AP Photo/Mohammed Hajjar]

Und darüber hören wir kaum etwas, denn das wird nicht als Kriegstod angesehen [Hervorhebung durch Y.A.]. Wir betrachten dies als ein bedauerliches, unvermeidliches Ergebnis dieser armen Seelen, die in einer solchen Kriegsumgebung leben. Wir sind noch nicht einmal in der Lage, dies als eine Form der Kriegsführung, der indirekten Gewalt als Kriegsführung, anzuerkennen.

Und wenn wir uns den Jemen, Syrien und andere vom Krieg betroffene Länder anschauen, sehen wir, dass dieselbe Art von indirekter Gewalt eine große Rolle bei der Sterblichkeit und den Verletzungen spielt. Hätte ich das Buch jetzt erst geschrieben, würde der Gazastreifen ganz oben auf der Liste stehen.

Aber der dritte Aspekt unterscheidet sich meiner Meinung nach ein wenig von dem, was in bereits existierenden Büchern berichtet wird. Es geht darum, dass wir anderen, die wir nicht in Gaza oder Syrien leben, uns als immun gegen all dies betrachten. Ich werde nicht bombardiert, wenn ich hier in Florida sitze, und Sie werden nicht bombardiert, wenn Sie dort in Chicago sitzen. Wie wirkt sich das also auf uns aus?

Was ich in meinem Buch anspreche, ist diese Kultur des Militarismus und diese starke Betonung, dass individuelle Sicherheit mit nationaler Sicherheit in Verbindung gebracht wird. Diese Sicherheit besteht darin, dass wir größere Bomben haben, dass wir modernere Drohnen haben, dass wir ungehinderten Zugang zu allen Mitteln haben, wenn ein Krieg ausbricht. Dabei sind wir alle von den Auswirkungen betroffen. Wir alle leiden darunter. Und das ist eine weitere Art, wie der Krieg tötet.

Sehen Sie sich die sich daraus ergebenden Umstände in diesem Land an - die Obdachlosenquote, die Preise für verschreibungspflichtige Medikamente. Noch einmal: Sie sind Arzt in den USA. Ihnen muss ich die Übel nicht aufzählen - weder die unseres Gesundheitssystems, noch die der völligen Ignoranz gegenüber den sozialen Folgen für die Gesundheit. Wie können wir die Menschen gesünder machen? Es gibt einfach keine Lobby, die sich um diese Art gesundheitsbezogener Kriterien kümmert. Und gleichzeitig werden Milliarden Dollars für Kriege ausgegeben. Das Pentagon erhält oft mehr Mittel, als es beantragt hat, obwohl es im Grunde bei jeder Prüfung versagt oder sie einfach ignoriert. Wir alle müssen erkennen, dass wir, nur weil wir nicht unter der Gewalt von Bombenangriffen leiden, nicht sicher leben können. Wir alle sind Opfer der Kriegsführung. Und ich dachte, dies wäre eine Möglichkeit, diese Fragen in den Vordergrund der Diskussion zu rücken.

Die Menschen sind an das Argument der „humanitären Katastrophe in Kriegsgebieten“ gewöhnt, als ob diese Katastrophe nicht menschengemacht wäre, als ob ein Erdbeben den Ort heimgesucht hätte. Und wenn es eine solche humanitäre Katastrophe gibt, dann sollen wir die Guten sein und einen Haufen Geld schicken und diesen Menschen helfen.

Und das gehört auch zum Krieg, auch wenn es nur ein sehr kleiner Teil ist. Wir haben noch nicht einmal damit begonnen, über das gesamte Ökosystem der Kriegsführung, des Militarismus, zu sprechen und darüber, wie er sich nachteilig auf die Bevölkerungen auf der ganzen Welt auswirkt, und dass es eine einzige zerstörende, teure, gegen die Menschheit gerichtete Kraft ist. Ich werde wohl in nächster Zeit keinen Politiker interviewen, aber sie werden nie gefragt, ob dies die richtigen Entscheidungen sind, die Amerika sicherer machen.

Die gleichen Stimmen, die den Irak-Krieg unterstützt, finanziert und ermöglicht haben, sagen uns heute im Fernsehen, welche Kriegen wir als unsere Kriege betrachten sollen. Wir sollen den Iran bombardieren. Wir sollen China bombardieren. Wir sollen dies oder jenes mit den Palästinensern anstellen. Ehrlich gesagt, dies ist eine ungesunde Kultur. Das wollte ich in meinem Buch aussagen.

BM: Wie war das Leben der Palästinenser in Gaza vor dem 7. Oktober? Das Gesundheitssystem ist durch die jahrzehntelange Unterfinanzierung und die von Israel verhängten Blockaden doch stark beeinträchtigt worden.

YA: Das, was am 7. Oktober geschah, nämlich die Angriffe der Hamas-Kämpfer auf israelische Zivilisten, war der Auslöser für die derzeitige Militärkampagne. Aber so zu tun, als ob die Situation in Gaza davor akzeptabel gewesen wäre, ist einfach lächerlich. Zumindest für diejenigen, die erst nach dem 7. Oktober angefangen haben, aufmerksam zu werden, sei angemerkt, dass es seit Jahrzehnten unzählige Berichte über die katastrophale Lage in Gaza gibt.

Ja, Israel verhängte diese sehr strenge Belagerung am 8. Oktober (oder vielleicht sogar schon am Abend des 7. Oktobers), und das sorgte ein paar Tage lang für viel Presse. Aber der Gazastreifen ist seit 2007 belagert. Im Gazastreifen herrscht Mangel an Medikamenten, an Mullbinden, an Infusionsbeuteln. Patienten in Gaza, die eine fortschrittliche medizinische Versorgung wünschen, müssen in einem unglaublich komplexen und willkürlichen medizinischen Genehmigungssystem von Israel die Erlaubnis beantragen, um ihr Wohngebiet für eine Chemotherapie oder eine Gehirnoperation verlassen zu können. Selbst eine schwangere Mutter mit Komplikationen, die eine Behandlung benötigt, die in Gaza nicht verfügbar ist, weil Israel bestimmte medizinische Geräte und Ressourcen nicht nach Gaza einführen lässt, muss eine medizinische Genehmigung beantragen, um einen Spezialisten aufsuchen zu können.

Israel kontrolliert jede Grenze in Gaza. Es lässt keinen Flughafen zu. Es lässt nicht einmal einen Seehafen zu. Zusätzlich zu den fünf großen Bombenangriffen seit 2007 gibt es eine endlose Anzahl von ein- bis zweitägigen Bombardierungen durch Israel, die kaum in den Nachrichten erwähnt werden. Beim „Großen Marsch der Rückkehr“ 2018 töteten und verstümmelten israelische Scharfschützen auch ohne Bombardierung Tausende von Palästinensern, die friedlich an der Grenze protestierten.

Im Gazastreifen herrscht eine extrem hohe Ernährungsunsicherheit. Noch einmal: Tun wir so, als wäre dies der 6. Oktober und wir würden nur über Gaza sprechen. Hohe Ernährungsunsicherheit, hohe Arbeitslosigkeit, hohe Armut, Bedingungen, die allesamt durch Israels andauernde Belagerung geschaffen wurden. Und das war allgemein bekannt. Das sagen nicht nur die UNO und die Weltgesundheitsorganisation und all diese humanitären Organisationen. Regierungsberichte aus den USA, aus Deutschland, aus dem Vereinigten Königreich, sie alle haben auf die Blockade und die Belagerung des Gazastreifens als die Hauptursache für das humanitäre Elend hingewiesen.

Wenn wir bedenken, was heute geschieht, wäre kein Ort auf der Welt in der Lage, sich selbst zu erhalten, nachdem was Gaza durchgemacht hat, bei dem Ausmaß und der Intensität der Bombardierungen. Aber wenn man das zu einer ohnehin schon unterversorgten, überfüllten und extrem jungen Bevölkerung hinzufügt [etwa 40 Prozent der Bevölkerung in Gaza sind 14 Jahre alt oder jünger] und dann noch berücksichtigt, dass die Menschen nicht einmal das Land verlassen können ... Ich höre die Leute immer sagen, warum gehen sie nicht einfach? Aber das können sie nicht! Sie müssen eine Ausreisegenehmigung beantragen, und Israel muss sie genehmigen. Diese Menschen sitzen in der Falle ihres Verursachers, der nicht erst vor kurzem mit der Bombardierung begonnen hat, sondern sie schon seit Jahren bombardiert.

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Um zu verstehen, wie schlimm die Situation vor dem 7. Oktober war: Wir hier müssen uns für gewöhnlich keine Gedanken darüber machen, ob wir das Wasser aus unseren Häusern trinken können oder nicht: Aber in Gaza bildeten die durch Wasser übertragenen Krankheiten lange vor dem 7. Oktober für Kinder die häufigste Todesursache.

Ich denke also, wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es sich nicht um eine zufällige Zerstörung des Gesundheitssystems durch den Krieg handelt, sondern um die Fortsetzung einer Politik, die darauf abzielt, das palästinensische Leben in allen Bereichen zu zerstören und die Palästinenser zu drängen - mit oder ohne Gewalt - dass sie gehen, weil die Situation so schlecht ist und sie keine Heimat mehr haben. Wir müssen die umfassenderen territorialen Ziele Israels bedenken, und viele israelische Politiker und Militärs scheuen sich nicht, diese offen auszusprechen.

BM: Seit der israelischen Besatzung im Jahr 1967 wurden mehr als 800.000 Palästinenser von Israel inhaftiert, darunter auch Kinder im Alter von 12 Jahren. Ich glaube, ich habe irgendwo gelesen, vielleicht in Ihrem Bericht, dass derzeit mindestens 7.000 Palästinenser inhaftiert sind.

YA: Die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese sagte in einer Erklärung vom 10. Juli 2023: „Israels militärische Besatzung hat das gesamte besetzte palästinensische Gebiet in ein Freiluftgefängnis verwandelt, in dem Palästinenser ständig eingesperrt, überwacht und diszipliniert werden. Seit 56 Jahren regiert Israel das besetzte palästinensische Gebiet durch eine erdrückende Kriminalisierung der Grundrechte und durch Masseneinkerkerung.“

Sie fügte hinzu: „Unter der israelischen Besatzung haben Generationen von Menschen weit verbreitete und systematische willkürliche Freiheitsberaubung ertragen müssen, oft für die einfachsten Handlungen des Lebens und die Ausübung grundlegender Menschenrechte.“ Sie bezeichnete die israelische Besatzung nicht nur als illegal und verglich die besetzten Gebiete mit einem Freiluftgefängnis, sondern sagte auch, dass die strafrechtlichen Verurteilungen von Palästinensern „aus einer ganzen Reihe von Verstößen gegen das Völkerrecht resultieren, darunter auch Verstöße gegen ein ordnungsgemäßes Verfahren, die die Legitimität der Rechtsprechung durch die Besatzungsmacht beeinträchtigen“.

Weiter heißt es: „Palästinenser werden oft ohne Beweise für schuldig befunden, ohne Haftbefehl verhaftet, ohne Anklage oder Gerichtsverfahren festgehalten und in israelischem Gewahrsam brutal behandelt. Die Masseninhaftierung dient dem Zweck, den friedlichen Widerstand gegen die Besatzung zu unterdrücken, das israelische Militär und die Siedler zu schützen und letztlich die koloniale Ausbreitung der Siedler zu erleichtern.“

BM: Dies wurde erst vor ein paar Monaten geschrieben. Können Sie dies vor dem Hintergrund des gegenwärtig stattfindenden Völkermords kommentieren, der von der US-Regierung und der Europäischen Union unterstützt wird? Man kommt nicht umhin, die Ereignisse des 7. Oktober unter solch unmenschlichen Bedingungen als Aufstand gegen die jahrzehntelange soziale und demokratische Unterdrückung zu sehen.

YA: Gewiss. Israel hat eine lange Geschichte der Unterdrückung palästinensischen Widerstands gegen ungerechte Verhältnisse. Dazu gehört auch, sie zu inhaftieren, zu töten und ihnen das Leben so schwer zu machen, dass sie sich nicht einmal zwischen dem Westjordanland und dem Gazastreifen bewegen dürfen. Ein Palästinenser aus Gaza kann nicht nach Jerusalem reisen. Und im Grunde genommen kann, offen gesagt, niemand den Gazastreifen betreten.

Nur um Ihre Frage klarzustellen: Meinen Sie damit, wie sich dies in Israels allgemeines Unterdrückungssystem einfügt? Oder wollten Sie, dass ich mich speziell zu Gefängnissen oder allgemeineren Trends äußere?

BM: Die Frage sollte ein offenes Ende haben, so dass Sie die gewünschte Richtung einschlagen können, ohne dass sie spezifisch ist.

YA: Ich glaube, es war vor zwei oder drei Jahren, als Israel sechs sehr prominente palästinensische NGOs als terroristische Organisationen einstufte und sie schloss. In einigen Fällen wurden ihre Einrichtungen gestürmt, darunter auch die der Gesundheitskomitees. In diesem Fall wurde die Leiterin, Shatha Odeh, eine Krankenschwester, ohne Haftbefehl verhaftet und Monate lang inhaftiert, ohne dass es zu einer Anklage oder einem Prozess kam. [Frau Odehs Anwälte konnten schließlich eine gerichtlich genehmigte vorzeitige Entlassung erwirken, nachdem sie nach ihrer Verhaftung durch die israelischen Besatzungstruppen im Juli 2021 elf Monate in willkürlicher Haft im Damon-Gefängnis verbracht hatte.]

Ihr Verbrechen bestand darin, dass sie die Direktorin eines Gesundheitskomitees war. Sie war eine der wichtigsten politischen Leiterinnen im Gesundheitswesen im Westjordanland, das die medizinische Versorgung sicherstellte, und zudem soll sie angeblich zu einer politischen Partei gehört haben, die von Israel als terroristische Organisation eingestuft wurde.

Dies wurde [von der Außenwelt] nicht als Fortsetzung der israelischen Unterdrückung oder als böswillige Auslegung Israels angesehen. Stattdessen stellten viele europäische Länder die Hilfe für diese Organisationen ein und akzeptierten Israels Standpunkt vollständig. Die Untersuchungen ergaben, dass an diesen Anschuldigungen nichts dran war, aber da war es schon zu spät, und es spielte keine Rolle mehr, nicht wahr?

Und genau so funktioniert Israel. Offensichtlich sind viele der israelischen Erklärungen und Handlungen nicht zu rechtfertigen. Die einzige Möglichkeit, sie zu verteidigen, besteht darin, jeden Palästinenser, vom Kind bis zum Greisen, vom Teenager, der im Laden an der Ecke Süßigkeiten kauft, bis zum Leiter eines Gesundheitskomitees, als potenzielle Bedrohung, als potenziellen Terroristen darzustellen, der Einschränkungen, Gewalt und sogar den Tod verdient hat. Das sagen die Palästinenser schon seit Jahrzehnten. Meine Großmutter, die 1948 noch lebte, hat dies gesagt. Sie ist nicht mehr unter uns. Palästinenser erleben diese Unterdrückung durch Israel. Sie verstehen, warum Israel das macht. Aber was sie nicht verstehen, ist, warum der Rest der Welt dieses System erhält.

Jeder weiß genau, dass das israelische Strafvollzugssystem ungerecht gegenüber den Palästinensern ist. Jeder sieht klar, dass die Besatzung und die Einschränkungen die Menschenrechte verletzen, auch wenn sie nur wenig mit Sicherheit, den Siedlungen und der Mauer zu tun haben. Jeder erkennt dies an. Ich denke, die Frage ist nicht, warum Israel so handelt. Die Frage ist, warum es keinerlei Rechenschaftspflicht gibt, nach Jahrzehnten von Beweisen, Zeugenaussagen, Berichten, Daten, Statistiken, von denen viele von Einrichtungen veröffentlicht wurden, die von denselben Regierungen bezahlt werden, die Israel auch diplomatisch und finanziell stützen.

Was Israel tut, ist also durchaus verständlich. Das ist es, was diese Art von Regimen tun und in der Vergangenheit getan haben. Israel wird aber durchweg als gutgläubiger Akteur angesehen. Warum? Es wird immer so gesehen, als seien die Palästinenser die Unnachgiebigen, die keine zwei Staaten zulassen wollen. Ich kenne die Antwort darauf nicht. Das, denke ich, ist die schwierige Frage, die Ihre Leser vielleicht bedenken sollten.

BM: Ich denke, die Antworten auf diese Fragen sind in der Geschichte verwurzelt. Wir müssen bis zur Gründung des Staates Israel zurückgehen und dann, noch früher, den Zionismus als politisches Gebilde und den Imperialismus im Allgemeinen erklären, um den Verlauf dieser völkermörderischen Kampagne zu verstehen, die von Israel mit der vollen Unterstützung der USA und der führenden Politiker der Welt gestartet wurde. Ich behaupte, dass die World Socialist Web Site mehr als jedes andere Medium große Anstrengungen unternimmt, um dieses Thema anzusprechen. Ohne einen fundierten historischen Kontext, der auf einer sozioökonomischen Analyse beruht, verstricken wir uns in den Sumpf der sich schnell ändernden Ereignisse.

YA: Richtig.

BM: Was halten Sie von den Massendemonstrationen, die weltweit zur Unterstützung Palästinas stattfinden? Es scheint einen klaren Klassenunterschied zu geben zwischen Studenten und Arbeitern, die sich gegen den Angriff auf die Bevölkerung von Gaza wehren, und den herrschenden Eliten, die die Medien, das Gesundheitswesen, die Hochschulen und den gesamten Staatsapparat, der die völkermörderischen Operationen unterstützt, kontrollieren.

Dies ist nicht nur Zensur, sondern auch antidemokratisch. Möchten Sie sich dazu äußern?

YA: Ich möchte sagen, dass die Menschen in Gaza und in Palästina die Proteste gesehen haben und sich dadurch ermutigt fühlen. Aber schafft das eine spürbare Verbesserung für sie jetzt sofort, vor Ort? Nein.

Die Tendenz, die Dinge zu sehen, geht doch in die Richtung: „Wenn die Leute uns sehen könnten, würden sie uns helfen. Aber sie sehen uns nicht, oder sie sehen uns nicht als Menschen. Sie sehen uns nicht als würdig an, um einzugreifen.“

Ich denke, dass jede Anstrengung auf den Straßen weltweit, insbesondere in einer Großstadt wie Chicago, New York oder London... wir haben auch große Demonstrationen im gesamten globalen Süden erlebt. Ich finde das sehr ermutigend und ich unterstütze diese Demonstrationen. Sie zeigen den Politikern, dass es keine einheitliche Antwort auf diese Frage gibt, auch wenn die Politiker sie immer wieder nachplappern: nämlich die uneingeschränkte Unterstützung Israels.

Andererseits geschieht dies schon seit so langer Zeit. Ich erinnere mich, dass es im Mai 2021, als Israel den Gazastreifen bombardierte, schon diese Gespräche darüber gab, ob sich das Blatt wendet. Ähnliche Diskussionen hatten wir 2018, 2014 und 2009. Ich denke, wir müssen jetzt diese Grasswurzel-Aktion in eine politische Aktion umwandeln.

Aber jeder Tag, an dem das so weitergeht, bringt den Palästinensern erneuten Schrecken, den wir uns nicht vorstellen können. Mein Gott, ich habe ein Video gesehen, in dem ein höchstens sechs Monate altes Kind zu sehen war, dem aufgrund von Bombenangriffen beide Beine amputiert wurden. Wie sollen wir das verarbeiten? Das ist kein Anblick, den unser Gehirn wahrnehmen sollte. Das ist nichts, was in der Welt existieren darf.

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Wir verweisen gerne auf den Nahen Osten und sagen, dass diese Menschen, diese Region zu komplex sei, dass sie sich nicht zusammenraufen könnten. Es wird behauptet, dass es all diese alten Hassgefühle gebe, diese Art von Kulturkampf, die ziemlich rassistisch ist. Und das kommt von der Auffassung, dass diese Menschen im Nahen Osten irgendwie „andere“ Menschen seien.

Ich glaube, was alle Menschen wollen, ist Gerechtigkeit. Wenn diese Proteste und Demonstrationen uns dem näher bringen können, ist das großartig. Aber das kann nicht das Ende unserer Aktion sein. Wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns. Diejenigen von uns, die über physische Sicherheit verfügen und sich davon berührt fühlen, haben keine andere Wahl, als weitere Maßnahmen zu ergreifen, um eine spürbare Veränderung für diese Menschen zu erreichen. Sie müssen für einen Waffenstillstand und echte Gerechtigkeit kämpfen.

BM: Sind sie als öffentliche Person, vor allem in Florida, vor der dortigen rechten Gefahr sicher? Sind sie irgendwelchen Gefahren ausgesetzt?

YA: Es wäre schwer für mich, meine eigene Sicherheit in den Mittelpunkt zu stellen, wenn man bedenkt, was in Gaza passiert. Aber ich würde sagen, dass ich mich sehr glücklich schätze, ein unterstützendes Netzwerk zu haben, und ich hoffe, dass das so bleibt.

BM: Irgendwelche abschließenden Kommentare?

YA: Ich hoffe, dass es danach kein „business as usual“ gibt.

Ich bin jemand, dessen Koffer von israelischen Soldaten schon durchwühlt wurde, als ich sechs Jahre alt war. Doch selbst heute fühle mich noch durch diese Erfahrung stark verändert, weil ich es selbst erlebt habe. Ich habe dieses Gefühl des Verändertseins von vielen anderen gehört. Und ich fordere die Menschen, die sich dadurch verändert fühlen, auf, dies auch in ihr Verständnis für andere Situationen, bei denen Menschen unterdrückt werden, einfließen zu lassen. Ich denke, wir müssen diese gewalttätigen Kräfte entgrenzen und sie nicht nur als Dinge betrachten, die den Menschen dort drüben passieren, sondern als Kräfte, die in unserem eigenen Leben wirken, unabhängig davon, wie gut es uns finanziell geht, und ob wir das Gefühl haben, in einer sehr sicheren Gemeinschaft zu leben.

Ich spreche von diesen Strukturen, die einigen Leben Vorrang vor anderen einräumen. Und ich denke, Palästina war in dieser Hinsicht ein Geschenk für mich, weil es mir erlaubt hat, Unterdrückung nicht nur als Unfall oder als etwas, das passieren muss, zu betrachten, als etwas, das in der menschlichen Natur liegt, sondern als ein sehr zielgerichtetes Hilfsmittel, das nicht nur dazu da ist, um zu unterdrücken, sondern auch dazu, auf sich aufmerksam zu machen und Zeit und Energie für sich einzufordern, solange diese Kräfte weiter bestehen.

Ich möchte wirklich, dass die Menschen in der „hochentwickelten Welt“ aufhören, dies als etwas anzusehen, das weit weg passiert, und dass sie anfangen, auf unser eigenes Leben zu schauen und zu sehen, dass der Mangel an Fürsorge, Mangel an Würde, Mangel an der Wahrnehmung anderer Menschen als Menschen mit grundlegenden Rechten, uns alle betrifft.

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