Taurus-Debatte: Was verschweigt Scholz?

Die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine beherrscht seit Tagen die innenpolitische Auseinandersetzung in Deutschland. Die Übergabe dieser hochpräzisen Waffe, die von der Ukraine aus Moskau erreichen und gut gesicherte Bunker zerstören kann, würde eine massive Eskalation des Krieges bedeuten.

Bundeskanzler Olaf Scholz im Plenarsaal des Bundestags [Photo by Deutscher Bundestag / Thomas Trutschel / photothek ]

Bundeskanzler Olaf Scholz lehnt die Lieferung von Taurus bisher ab. Seine Begründung lautet, wegen ihrer großen Reichweite sei es nicht verantwortbar, die Kontrolle über die Waffe aus der Hand zu geben. Ihr Einsatz in der Ukraine würde deshalb den Einsatz deutscher Soldaten erfordern. Dies lehne er jedoch ab, da es einer direkten Kriegsbeteiligung Deutschlands gleichkäme.

Die CDU/CSU-Opposition, führende Mitglieder von Scholz‘ Regierungskoalition, insbesondere der Grünen und der FDP, ein Großteil der Medien sowie zahlreiche selbsternannte Kriegsexperten laufen gegen Scholz‘ Weigerung Sturm. Was er als Besonnenheit und Abwägung darstellt, denunzieren sie als Schwäche und Feigheit.

Typisch ist ein gemeinsamer Gastbeitrag, den die außenpolitischen Experten der Grünen und der CDU, Anton Hofreiter und Norbert Röttgen, am 11. März unter dem Titel „Der katastrophale Defätismus des Kanzlers“ in der F.A.Z. veröffentlichten. Sie überbieten sich in Kriegsrhetorik und scheuen vor keinem Risiko zurück. „Scholz’ Rhetorik macht uns schwächer, als wir sind,“ schreiben sie. „Atomkrieg, Eskalation, Kriegspartei“ seien nur einige der Schlagworte, die der Kanzler geprägt habe und die Putin signalisierten, er müsse keine ernsthaften Konsequenzen fürchten.

Die Unionsfraktion hat bereits zweimal einen Antrag in den Bundestag eingebracht, Taurus-Raketen an die Ukraine zu liefern. Beide scheiterten, weil sich die Abgeordneten von Grünen und FDP mit wenigen Ausnahmen an die Fraktionsdisziplin hielten und auch die AfD, Die Linke und die Wagenknecht-Partei dagegen stimmten.

Die Union begründet ihren Antrag ganz offen damit, dass die Ukraine in die Lage versetzt werden müsse, den Krieg tief nach Russland hineinzutragen. „Den ukrainischen Kräften mangelt es an der Fähigkeit, Versorgungslinien, Führungseinrichtungen und die logistischen Strukturen gezielt anzugreifen, um die Grundlage für das Vortragen weiterer erfolgreicher Offensiven zu schaffen,“ heißt es darin. Daher habe sie bereits mehrfach den Wunsch nach abstandsfähiger Präzisionsbewaffnung geäußert und eine Lieferung des Taurus-Marschflugkörpers erbeten.

In Wirklichkeit täuschen sowohl Scholz wie seine Widersacher die Öffentlichkeit. Sie wissen viel mehr, als sie öffentlich zugeben, und arbeiten hinter den Kulissen bei der Eskalation des Kriegs eng zusammen. Das wurde am Mittwoch deutlich, als die Auseinandersetzung über Taurus im Mittelpunkt einer Fragestunde des Bundestags stand.

Nachdem Norbert Röttgen (CDU) den Kanzler heftig attackiert hatte, ließ Scholz die Maske fallen. Er wechselte vom förmlichen Sie ins vertraute Du und warf dem „lieben Norbert“ vor, dass er als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses die Gründe kenne, weshalb Taurus momentan nicht geliefert werden könne. Er verstecke sich dahinter, dass diese Informationen geheim seien.

Wörtlich sagte Scholz: „Was mich aber ärgert, sehr geehrter Abgeordneter, lieber Norbert, dass du alles weißt, und eine öffentliche Kommunikation betreibst, die darauf baut, dass dein Wissen kein öffentliches Wissen ist. Ich glaube, das sollte in der Demokratie nicht der Fall sein.“

Was wissen Scholz und Röttgen, was die Öffentlichkeit nicht wissen darf? Die Bevölkerung hat ein Recht darauf, es zu erfahren, denn es geht um nichts Geringeres als die Gefahr eines vernichtenden Nuklearkriegs.

Die Leichtfertigkeit, Risikobereitschaft und Rücksichtslosigkeit, mit denen Regierung, Opposition und Medien den Krieg gegen Russland anheizen und Russisch Roulette mit Atomwaffen spielen, sind atemberaubend. Ein Spiegel-Kommentar nannte es „fatal“, dass sich Scholz in der Öffentlichkeit als Friedenskanzler darstellen lasse „und damit sozialdemokratische Pazifismus-Träume vergangener Jahrzehnte triggert“. Und das in Deutschland, das für die größten Kriegsverbrechen der Menschheitsgeschichte verantwortlich ist!

Dass Scholz ein Friedenskanzler sei, ist allerdings ein Märchen. Er selbst wird nicht müde zu betonen, dass „Deutschland unter den europäischen Staaten mit Abstand der größte Lieferant von Waffen“ für die Ukraine sei und nicht nachlassen werde, bis Russland militärisch besiegt sei.

Scholz‘ Meinungsverschiedenheiten mit Röttgen und anderen Taurus-Befürwortern sind rein taktischer Natur. Scholz will Deutschland nicht vorzeitig exponieren, weil er den Zusagen der USA, Frankreichs und Großbritanniens nicht traut. Mit der Eskalation des Kriegs gegen Russland nehmen die Rivalitäten zwischen den Nato-Mächten nicht ab, sondern zu.

Im Herbst 2022 hatte es ähnliche Auseinandersetzungen gegeben, weil Scholz sich gegen die Lieferung von Leopard-Panzern sträubte. Schon damals hatte er vor dem Einsatz russischer Atomwaffen gewarnt. Inzwischen ist bekannt, dass er selbst mehr wusste, als er sagte.

Am 9. März 2024 berichtete die New York Times unter dem Titel „Bidens Armageddon-Moment: Als eine nukleare Detonation in der Ukraine möglich schien“, dass die CIA damals die Möglichkeit eines russischen Nuklearschlags auf 50 Prozent und mehr schätzte, falls die russischen Streitkräfte weiter zurückgedrängt würden. Die US-Regierung traf Vorbereitungen für einen Gegenschlag. Noch nie seit der Kuba-Krise war die Gefahr eines nuklearen Kriegs so groß. Scholz, der sich auf dem Weg nach China befand, wurde von der US-Regierung informiert. Er sollte Präsident Xi Jinping überzeugen, Russland öffentlich vor einem Atomwaffeneinsatz zu warnen – was dieser auch tat.

Als die Krise sich etwas entspannte und auch die USA der Ukraine schwere Panzer zur Verfügung stellten, stimmte Scholz der Leopard-Lieferung zu. Inzwischen sind in der Ukraine nicht nur Leopards, sondern auch deutsche Panzer der Typen Marder und Gepard sowie Raketenwerfer, Panzerhaubitzen, Luftverteidigungssysteme Sturmgewehre und Granatwerfer aus deutscher Produktion im Einsatz. Die Lieferung von Taunus wird trotz des offiziellen Vetos von Scholz vorbereitet. Laut einem Bericht der Welt lässt Verteidigungsminister Boris Pistorius alle Taurus-Raketen für einen etwaigen Export ertüchtigen. Außenministerin Annalena Baerbock sucht ebenfalls nach Wegen, die Lieferung von Taurus zu ermöglichen.

Scholz‘ Pose der „Besonnenheit“, wie er es selbst nennt, dient nicht zuletzt dazu, die Bevölkerung zu täuschen und zu beruhigen. Anders als in Politik und Medien existiert hier eine enorme Opposition gegen die Waffenlieferungen.

Laut einer aktuellen Umfrage, die YouGov im Auftrag der DPA durchführte, befürworten nur 28 Prozent die Lieferung von Taurus. 58 Prozent sind dagegen. 31 Prozent lehnen die Unterstützung der Ukraine mit deutschen Waffen grundsätzlich ab. Die Ablehnung der Lieferung von Taurus wuchs in den vergangenen Wochen sogar, obwohl die Propaganda dafür auf Hochtouren lief.

Die einzige Partei, deren Anhänger Taurus-Lieferungen mehrheitlich – mit 48 zu 36 Prozent – begrüßen, sind die Grünen. 72 Prozent aller Befragten sind dafür, die Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine ein für alle Mal auszuschließen. Nur 16 Prozent wollen diese Option offenhalten. 43 Prozent sind der Ansicht, dass bereits zu viele Waffen an die Ukraine geliefert wurden. Genau so viele halten die Menge für richtig oder zu niedrig.

Die Bundesregierung wird sich allerdings durch die öffentliche Meinung nicht von ihrem Kriegskurs abbringen lassen. Was sie und alle anderen imperialistischen Mächte in den Krieg treibt, ist die tiefe Krise des Kapitalismus im Weltmaßstab. Spätestens seit 2014, als sie den Putsch in Kiew unterstützte, der einem rechten, pro-westlichen Regime an die Macht verhalf, setzt sie – wie im Ersten und Zweiten Weltkrieg – auf die gewaltsame Unterwerfung Russlands.

Nur die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse, die die Kosten von Krise und Krieg zu tragen hat, auf der Grundlage eines antikapitalistischen, sozialistischen Programms kann die Gefahr von Krieg und nuklearer Vernichtung stoppen. Teil dieser Mobilisierung muss die Forderung nach der Offenlegung aller geheimen Abmachungen, Pläne und Informationen sein.

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