Zur Rückkehr der Einwohner des Gazastreifens in den verwüsteten Norden

Zehntausende vertriebene Palästinenser kehren in den zerstörten Norden des Gazastreifens zurück, 27. Januar 2025 [AP Photo/Mohammad Abu Samra]

Hunderttausende vertriebene Einwohner kehren in die Städte im Norden des Gazastreifens zurück, die nach der mehr als einjährigen Belagerung und den mörderischen Angriffen Israels nahezu vollständig in Trümmern liegen. Die Bilder lassen sich am ehesten mit den Verwüstungen vergleichen, die der Zweite Weltkrieg anrichtete.

Laut den Vereinten Nationen sind 92 Prozent der Wohnungen im Gazastreifen entweder ganz zerstört (160.000) oder teilweise bis stark beschädigt (276.000). Andere Zählungen ergeben, dass sechzig Prozent aller Gebäude beschädigt oder zerstört sind (im Norden des Gazastreifens sogar 70 Prozent, in Gaza-Stadt 74 Prozent) sowie 70 Prozent des Straßennetzes.

Die Familien, die aus dem hoffnungslos überfüllten Süden zurückkehren, führen meist nur mit sich, was sie zu Fuß tragen können. Wo einst ihre Häuser standen, finden sie nur noch Trümmer oder Krater im Boden vor.

Lubnar Nassar, die zu ihrem Ehemann zurückgekehrt ist, erklärte gegenüber der BBC: „Das Wiedersehen wurde überschattet von der bitteren Realität, dass wir kein Zuhause mehr haben. Also sind wir von einem Zelt im Süden in ein Zelt im Norden umgezogen.“

Mohammed Badr, Vater von zehn Kindern, erklärte gegenüber Reuters: „Wir sind vor drei Tagen zurückgekehrt und können kein Trinkwasser finden. Wir können keine Decken finden, um unsere Kinder warm zu halten. Wir sind die ganze Nacht auf ein Lagerfeuer angewiesen. Aber um etwas Brennbares für unser Lagerfeuer zu haben, müssen wir Plastik verbrennen, was Krankheiten verursacht.“

Seine Frau erklärte: „Es ist nichts mehr übrig, man kann nicht auf die Straßen gehen, die Häuser sind übereinander gestürzt. Man verirrt sich, weiß nicht, ob man zu Hause ist oder nicht. In den Straßen hängt Leichengeruch, denn da liegen die Märtyrer begraben.“

Der Leiter des UN-Entwicklungsprogramms, Achim Steiner, versuchte gegenüber AFP das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Zerstörung zusammenzufassen:

Wir schätzen, dass in diesem Konflikt innerhalb von 15 Monaten 60 Jahre Entwicklung verlorengegangen sind. Zwei Millionen Menschen im Gazastreifen haben nicht nur ihre Unterkunft verloren, sondern auch die öffentliche Infrastruktur, Abwasser- und Trinkwassersysteme und die öffentliche Müllbeseitigung. Diese grundlegenden Elemente der Infrastruktur und der Dienstleistungen existieren einfach nicht mehr (...)

Nahezu alle Schulen und alle Krankenhäuser wurden entweder schwer beschädigt oder zerstört. Es handelt sich um eine ganz außergewöhnliche physische Zerstörung.

Wie Steiner feststellte: „Die menschliche Verzweiflung kann man in Statistiken nicht erfassen.“ Aber die Zahlen sind deutlich.

Weniger als die Hälfte aller Krankenhäuser in Gaza sind sogar nur teilweise funktionsfähig. Von den medizinischen Grundversorgungszentren sind weniger als 40 Prozent teilweise funktionsfähig (sechs von 138 sind voll funktionsfähig, 46 teilweise) außerdem weniger als ein Viertel der Gesundheitszentren des UNRWA.

Die Wasserversorgung ist im Vergleich zum Oktober 2023 um über drei Viertel verschlechtert, und aufgrund beschädigter Versorgungsnetze kommt es zu einem Wasserverlust von 70 Prozent. Etwa die Hälfte der landwirtschaftlichen Brunnen und Gewächshäuser in Gaza sind zerstört, außerdem mehr als zwei Drittel der Anbauflächen, die Hälfte der Schafe und 95 Prozent der Rinder.

Es wird einige Zeit dauern, bis sich ein Großteil der Bevölkerung auch nur ansatzweise darüber Gedanken machen kann, dass 88 Prozent der Schulgebäude vollständig oder umfangreich renoviert werden müssen, oder dass 51 Universitätsgebäude zerstört und 57 beschädigt sind.

Der Anstieg der Krankheitsraten und frühen Todesfälle wird bald beweisen, dass die derart zerstörte Region es nicht schafft, eine Gesellschaft zu erhalten. Bereits jetzt bräuchten schätzungsweise 12.000 Patienten aus medizinischen Gründen eine Verlagerung aus dem Gazastreifen. In den letzten Monaten durften weniger als 500 die israelische Belagerungszone verlassen. Zehntausende von Kindern brauchen Behandlung wegen akuter Unterernährung.

Laut den UN sind eine Million Menschen (76 Prozent der Bevölkerung von Gaza) durch hygienische Probleme gefährdet, die von Ratten und Ungeziefer ausgehen oder durch Abfälle (54 Prozent) und menschliche Fäkalien (34 Prozent) verursacht werden.

Arwa Damon, die Gründerin des International Network for Aid, Relief and Assistance, beschrieb gegenüber Al Jazeera die Situation vor Ort:

Nur ein paar hundert Zelte wurden in den Norden gebracht, wo alle diese Familien eintreffen (...) Sie kommen also in den Norden, ohne dass es Unterkunft oder ausreichend Zugang zu sauberem Trinkwasser gibt.

Der Treibstoffmangel ist massiv, und weil es keine Transportmittel gibt, ist es auch problematisch, an die Lebensmittelverteilungsstellen zu gelangen.

Wir hören von vielen Familien, dass es sehr schwierig ist, weil man stundelang laufen muss, um Zugang zu Nahrung und sauberem Wasser zu bekommen – ganz zu schweigen von medizinischer und sonstiger Versorgung.

Der Gazastreifen ist nicht nur ein Katastrophengebiet, sondern auch ein riesiger Tatort. Die israelische Regierung war sich von Anfang an über ihre Absicht im Klaren: Sie strebte die ethnische Säuberung des Gebiets von den Palästinensern an. Laut der letzten verfügbaren Schätzung hat sie bis April letzten Jahres ein Gebiet von nur 360 Quadratkilometern mit etwa 75.000 Tonnen TNT bombardiert, um dieses Ziel zu erreichen.

Das entspricht dem Abwurf von fünf Hiroshima-Bomben auf ein Gebiet, das weniger als halb so groß ist wie die japanische Stadt.

Jetzt wird die zweite Phase des Plans deutlich sichtbar. Der faschistische US-Präsident Donald Trump hat es offen ausgesprochen, und die extreme Rechte in Israel bejubelt ihn dafür.

Trump erklärte am Samstag vor der Presse zum Thema Gaza, dass die USA und ihre Verbündeten „die ganze Sache einfach räumen“ sollten, und er schlug vor, die Palästinenser nach Jordanien und Ägypten umzusiedeln. Die Regierungen beider Länder legten umgehend Protest gegen den Vorschlag ein, weil ihnen bewusst ist, dass eine derartige Maßnahme eine soziale Explosion auslösen und ihr eigenes Überleben gefährden würde.

Doch diese Woche erklärte der US-Präsident erneut: „Ich wünschte, er [der ägyptische Präsident Abdel-Fattah al-Sisi] würde einige aufnehmen. Wir haben ihnen sehr geholfen, und ich bin mir sicher, dass er uns helfen wird. Er ist einer meiner Freunde. Er ... lebt in einer schwierigen Gegend. Aber ich glaube, er würde es tun, und ich glaube, der König von Jordanien auch.“

Der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich erklärte begeistert:

Der US-Präsident nimmt endlich die Realität zur Kenntnis (...) Zweifellos ist die Förderung der Auswanderung langfristig die einzige Lösung (...) Ich arbeite mit dem Ministerpräsidenten und dem Kabinett daran, einen Operationsplan auszuarbeiten und die Umsetzung von Präsident Trumps Vision zu gewährleisten.

Es gibt keinen Grund, sich über den schwachen Widerstand Ägyptens und Jordaniens gegen den Plan aufzuregen. Wir haben gestern gesehen, wie Trump Kolumbien [seinen Willen aufgezwungen] und trotz ihres Widerstands dorthin Immigranten abgeschoben hat. Wenn er es will, passiert es.

Schätzungen zufolge sind bereits etwa 100.000 Einwohner aus dem Gazastreifen geflohen – in der Anfangsphase des Kriegs war das noch möglich. Sie haben häufig ihren gesamten Besitz verkauft, um für die Überquerung der Grenze nach Ägypten zu bezahlen. Das Unternehmen Hala Consulting and Tourism Services, das dem al-Sisi-Verbündetem Ibrahim Alarjani gehört, hält das Monopol auf Grenzüberquerungen und hat etwa zwei Millionen Dollar pro Tag eingenommen, bevor Israel im Mai in Rafah einmarschiert ist.

Die 100.000 Palästinenser in Ägypten leben ein grauenhaft beschränktes Leben: Sie dürfen nicht arbeiten und sind aus den Bildungs-, Banken- und Gesundheitssystemen ausgeschlossen. Palästinensische Flüchtlinge erhalten Unterstützung vom UNRWA und nicht vom UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge. Allerdings hat das UNRWA kein offizielles Mandat für Ägypten, sodass die dortigen Flüchtlinge so gut wie keine Unterstützung erhalten.

Angesichts der Gefahr einer erneuten Militäroffensive nehmen die Pläne Gestalt an, die eine vollständige Vertreibung der verbliebenen rund zwei Millionen Einwohner des Gazastreifens vorsehen.

Der Chefredakteur des israelischen Magazins +972, Ben Reiff, warnte am Dienstag im Guardian:

Noch bevor die israelische Regierung dem Waffenstillstand am 18. Januar offiziell zustimmte, kamen Berichte auf, die Zweifel an Netanjahus Eintreten für dessen vollständige Umsetzung weckten. Der Ministerpräsident hat offenbar der Forderung seines rechtsextremen Finanzministers Bezalel Smotrich zugestimmt, die Kämpfe nach Ablauf der ersten der drei Phasen des Waffenstillstands wieder aufzunehmen. Obwohl Netanjahu dies nicht öffentlich zugab, betonten bei diesen Diskussionen anwesende Quellen und Journalisten aus Netanjahus Umfeld, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die zweite Phase der Vereinbarung erreicht wird, gegen Null geht.

Die Israelischen Verteidigungskräfte haben bereits gegen die Bedingungen des Waffenstillstands im Libanon verstoßen. Das Gesundheitsministerium von Gaza berichtete am Dienstag, dass in den letzten 48 Stunden elf Palästinenser von israelischen Soldaten, u.a. mit Panzern und durch Scharfschützen, getötet wurden. Der palästinensische Rote Halbmond meldete, dass einer seiner Krankenwagen beschossen wurde.

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