Von Berlin, München und Dresden bis nach Dortmund, Essen und Stuttgart – in über 90 Städten gingen gestern zehntausende junge Menschen auf die Straße und protestierten gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Die Proteste sind ein mächtiger Ausdruck der enormen Opposition gegen den deutschen Militarismus und die Gefahr eines dritten Weltkriegs.
Der bundesweite Schulstreik am 5. Dezember richtete sich gegen das „Wehrdienst‑Modernisierungsgesetz“, das am selben Tag im Bundestag mit den Stimmen der Regierungsparteien SPD und Union verabschiedet wurde. Damit kommt ab dem neuen Jahr 2026 die verpflichtende Erfassung und Musterung für alle 18-jährigen Männer und sobald die Zahl der „Freiwilligen“ nicht ausreicht, auch die Einberufung zum Militär.
Allein in Sachsen demonstrierten rund 2000 Schülerinnen und Schüler. „Hoch mit der Bildung, runter mit der Rüstung“, riefen sie in Dresden. „Wir sind kein Kanonenfutter!“ oder „Merz an die Front“ stand auf selbstgebastelten Plakaten in Essen. Ein Spruch rief die ausländerfeindliche Hetze des Bundeskanzlers in Erinnerung: „Für’s Stadtbild zu schlecht, für die Front gut genug.“
Die meisten Teilnehmer verbanden den Kampf gegen die Wehrpflicht mit dem Kampf gegen Militarismus und Krieg insgesamt und einige thematisierten auch die Ursache dieser Entwicklung im Kapitalismus, auch wenn oft Unklarheit in der Einschätzung aktueller Kriegsentwicklungen und der aktiven Rolle der Bundesregierung als Kriegstreiber bestand.
Doch viele der beteiligten Organisatoren haben alles daran gesetzt, die Proteste auf eine Ablehnung gegen den „Zwangsdienst“ zu beschränken und die eigentliche Frage – die Vorbereitung der deutschen Regierung auf Kriege – auszuklammern. Kein Wunder: Unter ihnen sind mit der Grünen Jugend, den Jusos und der Linksjugend die Jugendorganisationen derselben Parteien vertreten, die die Aufrüstung unterstützen und für die Kriegskredite gestimmt haben. Auch die Gewerkschaften Verdi und GEW, die sich in Worten hinter den Schulstreik stellen, haben sich für die Aufrüstung ausgesprochen.
Die International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) betonten demgegenüber, dass die Wiedereinführung der Wehrpflicht unmittelbar mit der Rückkehr des deutschen Militarismus verbunden ist. In ihrem Flugblatt, das sie in ganz Deutschland verteilten, heißt es:
Die Rückkehr der Wehrpflicht ist Teil der Militarisierung der ganzen Gesellschaft. 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs will die deutsche Regierung wieder eine ganze Generation in Reih und Glied marschieren lassen, bereit, ihr Leben für die Wirtschaftsinteressen der herrschenden Klasse zu opfern. Die Regierung aus Union und SPD treibt die Wiederaufrüstung aggressiv voran.
Der Kapitalismus führe wie im 20. Jahrhundert wieder zu Barbarei und Krieg, so die IYSSE weiter. Deshalb sei die einzige realistische Perspektive, um Wehrpflicht und Krieg zu stoppen, die internationale Mobilisierung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms. Eine solche Bewegung müsse sich gegen sämtliche kapitalistischen Parteien richten, die alle den Militarismus vorantrieben.
Über diese Perspektive diskutierten Vertreter der IYSSE in Berlin, Essen, Nürnberg, Stuttgart und München mit streikenden Schülerinnen und Schülern.
Berlin
In Berlin hatte der Senat aus SPD und CDU einen Brief an alle Schulleitungen verschickt und diese aufgefordert, Schülern, die an den Protesten teilnehmen wollen, zu „informieren“, dass dies unerlaubte Fehlstunden und Probleme mit der Krankenversicherung zur Folge hätte. Dieser Drohung zum Trotz versammelten sich 3000 Schülerinnen und Schüler am Halleschen Tor und auf dem Oranienplatz.
Viele Schüler stimmten der Perspektive, dass die Arbeiterklasse gegen die Militarisierung mobilisiert werden muss, zu. So sagte Laurenz: „Die Arbeiter sind die Betroffenen, aber auch die, die dagegen einstehen müssen und es nicht einfach laufen lassen dürfen.“ Drei andere Schüler schlossen sich mit folgenden Worten der Perspektive an: „Wir sollten auf jeden Fall mehr streiken, auch die Arbeiter. Auch bei anderen Themen wie für Palästina.“
Andere sprachen sich gegen die enorme Aufrüstung aus. „Wenn alle Länder international immer weiter aufrüsten führt das nur zu einer ewigen Spirale und nimmt kein Ende. Eigentlich muss überall abgerüstet werden um endlich Frieden zu schaffen.“
Dem Argument der herrschenden Klasse, dass die Aufrüstung nur der Verteidigung diene, wurde mit Skepsis begegnet. Von unseren Reportern auf die Frage angesprochen sagte Lene: „Das ist alles nur ein Deckmantel, um die wahren Gründe zu verschleiern. Am Ende werden die Politiker und die Reichen nicht an der Front stehen, sondern die Armen und Einkommensschwachen, während die anderen Zuhause im Warmen sitzen.“
Essen
In Essen demonstrierten etwa 400 Schülerinnen und Schüler gegen die Einführung der Wehrpflicht.
Elisa (18 J.) erklärt: „Ich bin gegen Krieg. Ich finde, Konflikte kann man auch anders lösen. Es ist eine schlimme Vorstellung, dass mein Bruder oder Verwandte in den Krieg müssen.“ Ihr Mitschüler, der 15-jährige Johann, hält die Gefahr, dass es einen heißen Krieg geben könnte, für real. Er kritisiert, dass Geld für den Klimaschutz jetzt stattdessen in die Rüstung fließt.
Der 15-jährige Bilal, der Klassensprecher einer 10. Klasse an einer Essener Gesamtschule ist, sagt: „Jetzt sehen wir, dass sie sehr viel Geld ins Militär reinwerfen und nicht in die Ausbildung zum Beispiel, das sollten wir auf jeden Fall ändern.“ Schüler in seiner Klasse würden schon seit Jahren dagegen protestieren, dass sie selber die Toiletten sauber machen müssen. Die Stimmung unter seinen Mitschülern sei mehrheitlich gegen die Wehrpflicht, aber: „Die meisten haben sich heute nicht getraut, mitzukommen, weil der Schulleiter es uns verboten hat.“
Die 16-jährige Schülerin Nati ist entsetzt, dass Kinder wieder dazu gezwungen werden sollen, mit der Waffe zu kämpfen. Sie macht sich auch Sorgen über den Rechtsruck in Deutschland. Noch nicht einmal 100 Jahre seien seit der Nazi-Zeit vergangen und trotzdem werde die Geschichte nicht aufgearbeitet, damit sie sich in der Zukunft nie wiederhole. „Stattdessen sagen wir wieder, wir brauchen eine Wehrpflicht, wir brauchen Leute an der Front, anstatt in diese Welt zu gucken und zu sehen, dass wir genug Kriege haben und wir niemanden mehr dazu zwingen sollten, wieder in so eine Situation zu kommen.“
Krieg komme vom Kapitalismus, stimmt sie zu. Sie findet es gut, für eine internationale Vereinigung der Arbeiterklasse und Jugend zu kämpfen, wie es die IYSSE vertritt. Das nationale Denken lehne sie ab – vor allem mit Blick auf die NS-Vergangenheit. Sie ist außerdem dagegen, dass Deutschland in den Krieg gegen Russland eingreift: „Dann sterben junge Menschen auf dem Schlachtfeld für einen Krieg, den sie nicht kämpfen sollten.“
Die „soziale Ungerechtigkeit unserer Gesellschaft“ hält sie für ein großes Problem: „Die Reichen bereichern sich immer mehr, während die ärmere Gesellschaft immer mehr leidet, die Obdachlosen immer häufiger werden und das Problem von Hunger und Zuhause immer größer wird. Und dann diskutieren wir immer noch über die Frage, ob wir diesen ganz kleinen Prozentteil von Superreichen nicht wirklich mehr besteuern können.“
Blagovest und Leon gehen auf ein Berufskolleg in Gladbeck und sind extra zur Demonstration nach Essen gekommen. Der 20-jährige Blagovest sieht die Ursache für die Wiedereinführung der Wehrpflicht vor allem darin, dass Politiker und Banken im Krieg mehr Geld verdienen wollen. Leon (18) sagt, die etablierten Parteien würden keine Alternative mehr bieten: „Die gleichen Leute sind immer oben. Also egal, welche Partei, die machen immer das Gleiche. Es passiert immer noch was Schlimmeres, was gegen die Menschheit geht. Und das macht einem natürlich sehr Angst.“ Leon betont: „Es geht um unsere Zukunft als Menschheit.“ Kommt es zu einem großen Krieg, würden alle sterben – „egal, was für eine Hautfarbe du hast oder wen du geheiratet hast“.
Stuttgart
In Stuttgart nahmen rund 1500 Schüler an dem Protest gegen die Wehrpflicht teil. Viele Schüler wiesen auf die Verbindung von Krieg und Kapitalismus hin. So hieß auf einem Plakat: „Lasst euch nicht kaufen, ihr seid schließlich keine Politiker“ oder „Mustert euch halt selbst“. Auf einem Banner an der Spitze des Demozugs war „Rotfront, statt Ostfront“ zu lesen.
Mehrere Jugendliche sprachen sich neben der Wehrpflicht auch gegen die horrende Aufrüstung und die deutsche Rolle im Ukrainekrieg und in Gaza aus. Valentin, ein 17-jähriger Schüler zeigte den Zusammenhang zwischen Krieg und Kapitalismus auf. „Ich will doch nicht für die Kapitalinteressen einiger weniger sterben.“ Zur Perspektive einer internationalen Antikriegsbewegung der Arbeiterklasse erklärte er: „Ja, das finde ich gut, dass wäre wichtig.“
Leo und Julius, beide 17, betonten, dass die Aufrüstung finanziert werde, indem in den Sozialbereichen gekürzt wird. „Wir sind heute hier, um gegen die Wehrpflicht zu demonstrieren, aber auch, damit die Stimme der Jugend gehört wird. Überall fehlt das Geld in den Schulen, ein Führerschein kostet mittlerweile 4000 Euro, man muss das Geld für die Menschen investieren nicht für den Krieg“, so die beiden Schüler.
München
In München versammelten sich über 1000 Schüler am Giesinger Bahnhof. Viele trugen handgemachte Schilder, um ihre Opposition zur Wehrpflicht auszudrücken oder die Regierung zu geißeln. Die Schülerinnen und Schüler waren sich weitgehend einig, dass der Regierung nicht zu trauen sei und sie gegen ihre Interessen agiere. Die Perspektive der IYSSE stieß auf rege Zustimmung. Viele Schüler thematisierten, dass die Kürzungen im Bildungs- und Sozialwesen für die Aufrüstung durchgesetzt werden.
Nürnberg
In Nürnberg protestierten über 400 Schülerinnen und Schüler gegen die geplante Wiedereinführung der Wehrpflicht. Mit selbstgestalteten Plakaten mit Slogans wie „Wir wollen in Frieden leben und nicht im Kriege sterben!“ oder „Wir sollen sterben für eure Kapitalinteressen? Widersetzen“ verliehen sie der weitverbreiteten Opposition gegen Krieg Ausdruck. Der Protest wurde auch von vielen besorgten Eltern unterstützt, die Plakate hochhielten mit „Meine Kinder geb ich nicht“.
Fabién, ein Schüler aus Nürnberg, brachte die Opposition vieler Jugendlicher prägnant zum Ausdruck. Er erklärte, er sei beim Streik, „weil wir zusammen gegen die anstehenden Gesetze zur Wehrpflicht demonstrieren wollen“, und betonte, dass diese Angriffe nur im Kontext einer tiefergehenden kapitalistischen Krise verstanden werden können. Die herrschenden Mächte könnten ihre globalen Interessen „nur noch mit Autorität und Gewalt verteidigen“, weshalb Militarismus, Aufrüstung und Krieg immer weiter eskalieren. Scharf verurteilte er die Heuchelei der Linkspartei, die öffentlich gegen die Wehrpflicht auftrete, während sie zugleich das „Sondervermögen für die Bundeswehr“ unterstütze. Solche Organisationen würden „mit Scheinheiligkeit posieren“ und seien kein Teil einer echten Antikriegsbewegung.
Auch Moritz, der an der Uni Erlangen studiert, wies die Heuchelei der Linkspartei und Grünen deutlich zurück. Er bezeichnete ihr Auftreten auf Anti-Wehrpflicht-Protesten als „verlogen“, weil sie gleichzeitig „für das Sondervermögen mit abstimmen“ und damit die Aufrüstung mittragen. Wer öffentlich gegen die Wehrpflicht auftrete und zugleich Kriegskredite unterstütze, zeige, dass „das Rückgrat fehlt, um wirklich etwas zu verändern“.
Er kritisierte, dass solche Parteien der Bevölkerung „ein linkes Denken anzureden“ versuchen, das sich auf ein paar soziale Forderungen im Rahmen des bestehenden Systems beschränkt und daher notwendigerweise an Grenzen stößt: Es seien „leere Forderungen, die innerhalb dieses parlamentarischen Kontextes irgendwo vermeintlich Sinn machen“, aber keine reale Alternative bieten. Ihre Politik sei nicht sozialistisch, sondern diene dazu, die Jugend und Arbeiter in die Sackgasse parlamentarischer Illusionen zu führen. Gleichzeitig betonte Moritz jedoch ausdrücklich, dass junge Menschen, die aus ehrlichem Interesse aus der Linkspartei oder Grünen kommen, nicht ausgeschlossen werden dürfen.
Beide Jugendlichen machten deutlich, dass der Kampf gegen die Wehrpflicht nur gewonnen werden kann, wenn er nicht auf die Jugend beschränkt bleibt, sondern zu einer bewussten, internationalen Bewegung der Arbeiterklasse wird. Fabién betonte, dass „alle unterdrückten Bevölkerungsgruppen mobilisiert werden müssen“, um Militarismus und Repression entgegenzutreten und das kapitalistische System, das diese Angriffe hervorbringt, zu überwinden. Moritz ergänzte, dass die aktuellen Schulstreiks lediglich den „ersten Schritt der Politisierung“ darstellen und dass die entscheidende Aufgabe darin besteht, daraus einen „Arbeiterprotest“ zu entwickeln.
