Tamino Dreisam im RT-Interview über den Schulstreik gegen die Wehrpflicht

„Wir wollen nicht für die Interessen der Reichen sterben“

IYSSE-Sprecher Tamino Dreisam im Interview mit RT, 23.12.2025 [Photo: RT]

Die vom Bundestag verabschiedete Wiedereinführung der Wehrpflicht markiert eine entscheidende Eskalation der deutschen Kriegspolitik. Unter dem Vorwand einer angeblichen „russischen Bedrohung“ wird eine ganze Generation Jugendlicher auf einen neuen imperialistischen Krieg vorbereitet, während die herrschende Klasse die größte Aufrüstungsoffensive seit Bestehen der Bundesrepublik durchsetzt. Im Interview mit RT prangert Tamino Dreisam, Sprecher der International Youth and Students for Socialist Equality (IYSSE) in Deutschland, diesen Kurs scharf an und verbindet die spontane Empörung der Jugend mit einer bewusst sozialistischen, internationalistischen Perspektive.

Im Zentrum der neuen Gesetzgebung steht ein Wehrdienstmodell, das offiziell als „modernisierte“ und freiwillige Lösung verkauft wird. Tatsächlich sieht das Gesetz jedoch eine „Bedarfswehrpflicht“ vor, die aktiviert werden kann, wenn die Rekrutierungsziele nicht erreicht werden. Alle 18‑jährigen Männer sollen erfasst, gemustert und in ein engmaschiges militärisches Auswahlverfahren hineingezogen werden. Wenn Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) dies als Beitrag zur „Verteidigung von Freiheit und Demokratie“ darstellt, ist das eine zynische Propagandaoffensive, um Kanonenfutter für die Strategien der NATO zu gewinnen.

Dreisam ordnet diese Entwicklung von Beginn an in einen umfassenderen historischen und internationalen Zusammenhang ein. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht „ist Teil einer breiteren Militarisierung“, erklärt er und weist darauf hin, dass Deutschland derzeit „die größte Militarisierung in der Geschichte der Bundesrepublik“ durchführt. „Die Bundesregierung hat offen das Ziel formuliert, in drei Jahren in der Lage zu sein, Russland, eine Atommacht, in einem Krieg zu besiegen“, was er unmissverständlich als „wirklich Wahnsinn“ bezeichnet. Damit macht er klar, dass die herrschende Klasse nicht eine defensive, sondern eine offensive Großmachtstrategie verfolgt, die objektiv auf die Gefahr eines dritten Weltkriegs hinausläuft.

Entgegen der offiziellen Darstellung, die Aufrüstung diene Verteidigung, Rechtsstaatlichkeit oder angeblichen Menschenrechten, benennt Dreisam die wahren Motive der herrschenden Klasse: „All die Gründe hinter dieser Militarisierung liegen nicht im Kampf für Freiheit und Demokratie.“ Es seien „wirklich offensichtlich dieselben Interessen wie in den letzten zwei Weltkriegen: Profite und ökonomische Interessen sowie der Schutz von Handelswegen.“ Gerade die bedingungslose Unterstützung der Bundesregierung für den Genozid Israels im Gazastreifen zeige, dass die Rede von Demokratie und Menschenrechten reine Heuchelei ist. Während Berlin die Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung militärisch und diplomatisch absichert, wird im Innern ein Polizeistaat gegen Kriegsgegner aufgebaut und der Staatsapparat für neue imperialistische Abenteuer aufgerüstet.

Auf die Frage, warum nicht nur Deutschland, sondern auch Frankreich, Polen, Großbritannien und Italien ihre Armeen massiv verstärken, verweist Dreisam auf die grundlegenden Widersprüche des kapitalistischen Weltsystems. „Was derzeit passiert, ist der globale Zusammenbruch des Kapitalismus“, erklärt er. „Es sind dieselben Widersprüche des Kapitalismus, die in der Vergangenheit zu zwei Weltkriegen geführt haben – der Kampf um Profite und die Rivalität der Nationalstaaten.“ Indem er die aktuelle Kriegspolitik mit den Erfahrungen von 1914 und 1939 verbindet, macht Dreisam deutlich, dass es sich nicht um einen nationalen Sonderweg oder die „Fehler“ einzelner Politiker handelt, sondern um eine historische Phase, in der die Unlösbarkeit der kapitalistischen Krise den herrschenden Klassen weltweit den Weg in Krieg und Reaktion weist.

Daraus leitet er die Notwendigkeit einer internationalistischen Antwort ab. „Unsere Perspektive ist eine internationale Perspektive“, betont Dreisam. „Die IYSSE sind eine internationale Bewegung und kämpfen dafür, Jugendliche und Studierende „nicht nur in Deutschland gegen den Militarismus zu mobilisieren, sondern auf der ganzen Welt – auch in den USA, Frankreich und auch in der Ukraine und Russland –, um eine vereinte Bewegung gegen den Krieg aufzubauen.“ In bewusster Abgrenzung zu allen pseudolinken Strömungen, die sich an den NATO‑Kurs anbinden oder eine nationale Militärstrategie verteidigen, stellt er klar, dass die Arbeiterklasse in allen Ländern einen gemeinsamen Gegner hat: das kapitalistische System und seine Regierungen, ob in Berlin, Moskau, Washington oder Kiew.

Ein wichtiger Schwerpunkt des Interviews liegt auf den Massenprotesten vom 5. Dezember. An diesem Tag beteiligten sich rund 55.000 Schülerinnen und Schüler an einem landesweiten Schulstreik in über 90 Städten und protestierten gegen das Wehrdienstgesetz und die Aufrüstung. Dreisam widerspricht dementsprechend der Behauptung, Umfragen würden eine wachsende Zustimmung zum freiwilligen Militärdienst zeigen. „Es gibt eine Massenopposition in der deutschen Bevölkerung und in der deutschen Jugend gegen Militarismus“, erklärt er. Der Schulstreik habe gezeigt, wie breit und tief die Ablehnung in der Jugend verankert sei. „Jeder in Deutschland kennt dessen Geschichte, wo das Land schon einmal versucht hat, nach globaler Macht zu greifen“, sagt er und führt die „tiefe Ablehnung des Militarismus“ direkt auf die historischen Erfahrungen mit dem deutschen Imperialismus zurück.

Diese Opposition ist nicht auf die Jugend beschränkt, sondern spiegelt eine breitere Stimmung in der Arbeiterklasse wider. Dreisam berichtet, dass man diese Ablehnung nicht nur in den Klassenzimmern, sondern auch in Gesprächen mit „normalen Arbeitern auf der Straße“ wahrnimmt. Er warnt ausdrücklich davor, Umfragen und Regierungspropaganda zu vertrauen, die den Eindruck von Zustimmung erzeugen sollen, und hebt hervor, dass die reale Stimmung sich in Streiks, Demonstrationen und wachsender Unzufriedenheit äußert. Die Proteste vom 5. Dezember sind nach dieser Einschätzung nur der Anfang eines umfassenderen gesellschaftlichen Widerstands.

Als Sprecher der IYSSE in Deutschland beschreibt Dreisam die Stimmung unter den Jugendlichen als eindeutig: „Die Stimmung ist tief antimilitaristisch, besonders unter jungen Leuten.“ Es herrsche das Bewusstsein: „Wir wollen nicht für die Interessen der Reichen sterben, für Profitinteressen. Wir wollen dafür nicht unser Leben geben.“ Diese schlichte Formulierung bringt die Klassenlinie des Konflikts klar zum Ausdruck: auf der einen Seite eine kleine wohlhabende Elite, die von Kriegen profitiert, auf der anderen Seite Millionen junger Menschen, die als Soldaten, Arbeiter und Arbeitslose den Preis für die Krise zahlen sollen.

Die Aufgabe der IYSSE und der mit ihr verbundenen trotzkistischen Bewegung sieht Dreisam nicht darin, nur die bereits vorhandene Wut zu reflektieren, sondern sie politisch zu klären und zu orientieren. „Unsere Bewegung kämpft dafür, diese tief verwurzelte antimilitaristische Opposition mit einem wirklichen Verständnis dessen zu verbinden, was passiert – dass es nicht nur die dummen Ideen einiger Politiker sind, sondern objektive Prozesse im Zusammenbruch des Kapitalismus weltweit“, erklärt er. Gerade die Vorstellung, das Problem auf Personalwechsel, Koalitionswechsel oder einzelne „Fehlentscheidungen“ zu reduzieren, wird zurückgewiesen. Stattdessen muss der Kampf gegen Krieg bewusst mit dem Kampf gegen das kapitalistische System und für eine sozialistische Gesellschaftsordnung verknüpft werden.

Im letzten Teil des Interviews richtet Dreisam den Blick auf die Perspektiven der kommenden Monate und Jahre. Die Militarisierung geht „zusammen mit Massenentlassungen in der Industrie“, berichtet er, „jede Woche werden Tausende Arbeiter entlassen, die Wut wächst“. Tatsächlich wird jeden Tag klarer, dass die Kosten der Aufrüstung und der Kriegspolitik mit Sozialabbau, Werksschließungen und einer massiven Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums nach oben verbunden sind. „Die zentrale Frage ist“, betont er, „ob die Arbeiterklasse verstehen wird, dass diese Fragen mit Militarismus, den Sozialkürzungen und den Massenentlassungen verbunden sind, dass sie mit der Klassenherrschaft, mit dem Kapitalismus verbunden sind“.

Dreisam fasst diese Perspektive in einer klaren Schlussfolgerung zusammen: „Wir gehen in große Klassenkämpfe, und der Ausgang wird in diesem Kampf entschieden, im Aufbau einer bewussten sozialistischen Bewegung.“ Damit bringt er die Linie auf den Punkt, die die World Socialist Web Site seit Beginn der neuen Kriegsoffensive entwickelt: Die Verhinderung eines dritten Weltkriegs, die Ablehnung der Wiedereinführung der Wehrpflicht und die Verteidigung demokratischer und sozialer Rechte sind untrennbar mit dem Aufbau einer internationalen revolutionären Führung in der Arbeiterklasse verbunden. Die zentrale Aufgabe besteht darin, die spontane Empörung der Jugend und der Arbeiter gegen Krieg und Sozialabbau in ein bewusste, organisierte Bewegung für die Machtübernahme der Arbeiterklasse und die sozialistische Neuordnung der Gesellschaft zu verwandeln.

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