5.000 demonstrieren in Straßburg gegen Sarkozy

Straßburg, 20. November 2007: Eine lebhafte und fröhliche Demonstration von über 5.000 Menschen zieht vom Börsenplatz bis zum Platz der Republik durch die Elsässer Hauptstadt. Beschäftigte im öffentlichen Dienst, Sozialarbeiter, Erzieher, Lehrer und Professoren, wissenschaftliche Forscher, Bibliothekare, Finanzangestellte, Feuerwehrleute und Angehörige des Universitätskrankenhauses haben im Rahmen des nationalen Aktionstags die Arbeit niedergelegt.

Sie protestieren gegen das Wirtschaftsprogramm von Präsident Nicolas Sarkozy, gegen Kaufkraftkraftverlust, die Zerstörung der Arbeitsplätze und gegen die wachsende Privatisierung. Unterstützt werden sie von einer Abordnung von etwa 500 Studenten mit handgemalten Pappschildern. Französische Hochschulen werden seit Wochen bestreikt, weil sich die Studenten gegen das neue Gesetz zur Öffnung der Hochschulen für die Privatindustrie wehren. Auch eine Delegation von Autoarbeitern des Straßburger Standorts von General Motors ist dabei.

In den Losungen, auf Transparenten und Plakaten, kommen zentrale Themen wie die Bildung, die Rente und die Löhne zur Sprache. "Nein zur Zerschlagung des öffentlichen Dienstes!" heißt es da, und: "Gegen den Sarkozysmus", "die Ausbeutung verlangt erneut nach der ‚Résistance’!"

Ein Text erinnert daran, dass noch bis 2003 die Sonderrenten ("régimes speciaux") für breite Schichten im öffentlichen Dienst Geltung hatten. Er lautet: "Wiederherstellung der Renten nach 37 ½ Beitragsjahren für alle!" . Anderswo heißt es: "Rettet unser Umverteilungssystem in der Rente - stoppt den Raubüberfall auf die Sonderrenten!", "Privat oder öffentlich: wir sind alles Sonderrentner".

Andere drücken ihre Empörung über die Situation am Arbeitsplatz aus und fordern beispielsweise: "Arbeitsplätze und Mittel für die öffentliche Forschung!", oder es wird deklamiert: "Ich arbeite, du arbeitest, er arbeitet... - und sie profitieren". Das ist eine Anspielung auf die Wahlversprechen von Sarkozy, wer mehr arbeite, werde künftig auch mehr verdienen.

Wieder andere beziehen sich auf die Krise an den Schulen: "Gute Bildungsqualität ist die Zukunft unsrer Kinder - Stoppt die Stellenstreichungen!" "Kinder im Streik - mehr Personal an die Schulen!" Und die Studenten fordern: "Keine Auswahl nach dem Geldbeutel", "Die Bildung muss Vorrang haben!". Eine junge Frau trägt ein Schild: "Studentin zu verkaufen", und anderswo heißt es: "Studiengebühren sind wie Benzin: Teuer und sehr explosiv!"

"So kann’s nicht weitergehen"

Ein Team der WSWS verteilt den Aufruf "für eine neue politische Strategie" und diskutiert mit zahlreichen Teilnehmern über die politischen Fragen. Im Zentrum stehen die maroden sozialen Bedingungen im öffentlichen Dienst und die Angriffe auf die Rente.

Michel, ein Beschäftigter der Elsässer Straßenmeisterei und Mitglied der Gewerkschaft FO, schildert die Auswirkungen der Regierungspolitik auf seinen Arbeitsbereich: "Seit den achtziger Jahren haben wir zwanzig Prozent unserer Kaufkraft eingebüßt. Die offiziellen Statistiken sind nicht relevant, denn wenn man Benzin, Heizkosten und Miete bezahlt hat, bleibt vom Lohn nichts übrig. Bei uns gibt es Leute, die mit 900 Euro im Monat anfangen, die müssen aber schwere LKWs fahren. Und wenn sie dann ihre Miete bezahlt haben, kommen sie nicht mehr über die Runden.

Ich hoffe, dass es heute eine starke Mobilisierung gibt, denn so kann es nicht weitergehen. Mit der Politik der Sarkozy-Regierung steigt alles an, nur die Löhne nicht - außer seinem eigenen Gehalt natürlich, das von 6.600 auf 20.000 Euro im Monat gestiegen ist.

Bei uns hier sind Kollegen dabei, die Fahrschulprüfer sind. Ihr Arbeitsbereich wird früher oder später auch privatisiert, genau wie der TÜV. Diese Arbeit haben früher immer Beamte gemacht, und man hätte nie gedacht, dass sie auch das noch privatisieren. Man hat uns schon angekündigt, dass 2008 bis zu 22.000 Kollegen abgebaut werden. Gleichzeitig wird gesagt, man müsse den französischen Haushalt sanieren. Aber auch wenn die Zahl der Beamten stark sinken wird, müssen wir nicht weniger Steuern bezahlen, das kann ich euch jetzt schon sagen. In ganz Europa gibt’s zur Zeit die gleichen Probleme. Und deshalb sollten die internationalen Züge, die aus Paris bis nach Deutschland fahren, gar nicht ans Ziel kommen. Man muss sich international organisieren."

Joël ist mit einer ganzen Gruppe von Arbeitskollegen gekommen: Sie arbeiten in Villingen im Schwarzwald an einer französischen Schule: "Wir sind zur Demonstration hergekommen, obwohl wir sehr gute Arbeitsbedingungen haben; aber wir haben unsere Kollegen in Frankreich nicht vergessen. Eines Tages müssen wir ja selbst wieder zurück nach Frankreich, um hier zu arbeiten oder unseren Ruhestand zu verbringen. Wir wollen unsere Solidarität ausdrücken."

Joël berichtet, dass drüben in Baden-Württemberg nicht nur die deutsche Bahn, sondern auch Beschäftigte des Supermarktes Real streiken, und sagt: "Wenn man von Europa ausgeht, haben wir eigentlich keine Probleme damit, uns alle als europäische Arbeiter zu bezeichnen."

Henri Queisser, Feuerwehrhauptmann des Departements Bas-Rhin, berichtet, dass seine letzte Gehaltserhöhung vom Februar diesen Jahres gerade mal 0,8% betrug. "Das gleicht nicht einmal die Steigerung der Lebenshaltungskosten aus", sagt Henri. "Was unsere Rente betrifft, so haben wir noch bis 2003 die volle Rente nach 37,5 Beitragsjahren erhalten. Seit 2003 ist die Rentenregel für die Berufsfeuerwehrleute auf vierzig Beitragsjahre erhöht worden. Außerdem wird geplant, dass sie bis 2012 auf 41 Beitragsjahre, und bis 2050 auf 45 Beitragsjahre erhöht wird. Wir wollen aber auf keinen Fall, dass die Feuerwehrleute bis 65 Jahre arbeiten müssen!"

"Es ist ein und derselbe Kampf"

Viele sind nicht mit der Gewerkschaftsführung einverstanden, die die unterschiedlichen Arbeitskämpfe fein säuberlich voneinander trennen möchte. Kurz vor dem Aktionstag hat der CFDT-Vorsitzende, François Chérèque, die Losung ausgegeben, man dürfe "die verschiedenen Anliegen nicht vermischen" - in der durchsichtigen Absicht, den aktuellen Streik der Eisenbahner zu isolieren.

Alain (auf dem Foto in der Mitte), ein CGT-Delegierter, der im Obdachlosenzentrum der Stadt Straßburg arbeitet, bezeichnet das Vorgehen der Gewerkschaftsführung als "Salamitaktik" und sagt: "Hier wird behauptet, es sei nicht ein und derselbe Kampf, und man spaltet ihn in kleine Teilkämpfe. Damit sollen die einen gegen die anderen ausgespielt werden."

Alain ist jeden Tag mit den Folgen der neoliberalen Wirtschaftspolitik konfrontiert. Er berichtet: "Zu uns kommen Leute, die ganz unten sind, Rechtlose und Obdachlose. Ich bin solidarisch mit den Kollegen in Deutschland, wie mit allen Kollegen von ganz Europa, die im Kampf stehen. Es ist ja nicht mehr normal, was heute abgeht. Anstatt dass man die Verhältnisse nach oben angleicht, pickt man sogenannte ‚Privilegien’ heraus und nivelliert nach unten. Uns sagt man: ‚Das sind alles Privilegierte’, und man zeigt mit dem Finger auf sie.

Wenn es nach mir ginge, müsste man über die Steuervergünstigungen für die 2.200 Familien sprechen, die Ich-weiß-nicht-wieviele Millionen Euros unter sich aufteilen, während alle andern absolut nichts abkriegen. Gerade jetzt werden unsere Kollegen von der SNCF angegriffen, und nächstes Jahr sind wir dann dran. Wenn die Eisenbahner heute einknicken, dann werden auch wir geschluckt. Das ist ein und derselbe Kampf. Es geht uns alle an. Wir lassen uns nicht spalten."

Auch die Studenten sind mit dem ausdrücklichen Ziel hergekommen, die Isolation der verschiedenen Arbeitskämpfe voneinander durch die führenden Gewerkschaftsfunktionäre zu durchbrechen.

Gegen das neue Hochschulgesetz

François, ein gewählter Studentensprecher der Universität Marc Bloch für Geisteswissenschaften, berichtet: "In den bisherigen Vollversammlungen haben wir unter allen Aktiven demokratisch abgestimmt, dass wir uns allen kämpfenden Bewegungen anschließen wollen, egal ob es Eisenbahner oder Staatsbeamte sind, die für die Rente kämpfen, oder was immer es auch sei. Wir haben uns gesagt, hier handelt es sich um die Zerschlagung des öffentlichen Dienstes, und das bedeutet auch die Zerschlagung der Universitäten. Darum sind wir heute hier dabei."

Seinem Bericht nach zu schließen, nehmen die Studenten offenbar an seiner Uni eine andere Haltung zum neuen Hochschulgesetz ein als die nationale Führung der Studentenorganisation UNEF. Er berichtet: "Hier in Straßburg kämpfen wir um die Erhaltung des Masters, denn viele Masterstudiengänge stehen auf der Kippe, und das betrifft speziell unsere Uni. Das Gesetz Pécresse bedroht den Master in allen Fächern, die keinen Profit versprechen. Alle Geisteswissenschaften sind davon betroffen, und das betrifft sehr viele Studenten, aber auch die Forscher. Gewisse Forschungsprojekte werden als für den Staat nicht mehr profitabel erachtet, weil sie kein Geld einbringen, obwohl sie notwendig sind. Wir kämpfen für den Erhalt des intellektuellen Freiraums, den die Uni darstellt. Wir sagen: dieser Sektor muss keinen Gewinn abwerfen. Auf diesem Gebiet geht es in erster Linie um das Wissen."

François berichtet, dass sie schon mit deutschen Studenten in Freiburg Kontakt aufgenommen haben, die sich ebenfalls regen. "Wir haben beschlossen, uns mit allen zusammenzuschließen, die kämpfen, und das kann bis zur Internationale gehen."

François Bonnarel, ein Forscher an der nationalen französischen Forschungsorganisation CNRS und ihr CGT-Vertreter in Straßburg, erläutert die Angriffe der letzten Jahre auf die Forschung: "Seit mehreren Jahren wird das Forschungssystem in Frankreich durch die Regierungen - Raffarin, Villepin, Sarkozy, Fillon - nach neoliberalen Gesichtspunkten umgewandelt. Schon zur Zeit der Sozialisten Jospin und Allègre wurden die ersten Grundlagen für diese Umwandlung gelegt, die mit Raffarin seit 2003 nochmals massiv beschleunigt wurde.

Heute wird sogar die Leitung der Hochschulen liberalisiert. Sie müssen sich finanziell selbständig über Wasser halten. Man lässt die Uni von Hyperpräsidenten verwalten, die eine Menge Macht haben und auf sehr wenig Gegenmacht stoßen. Das berüchtigte Gesetz LRU [das neue Gesetz zur Öffnung der Hochschulen für die Privatisierung], gegen das die Studenten auf die Straße gehen, hat auch Konsequenzen für die Beschäftigten der CNRS. Denn es ist vorgesehen, dass die kommenden Universitäten einen großen Einfluss auf die Forschungslabors haben werden.

Die aktuelle Politik greift alles an, was an Arbeiterrechten, an öffentlichem Dienst von den Errungenschaften der Nachkriegszeit noch übrig ist. Es wird alles zerstört, weil die Kapitalisten sich alles zurückholen, was sie im zwanzigsten Jahrhundert zugestehen mussten. Das ist die Aufgabe von Sarkozy. Und er geht dabei außerordentlich systematisch und brutal vor. Kurz gesagt, geht es um die soziale Zerstörung des öffentlichen Dienstes."

Lokführerstreik in Deutschland

Die WSWS -Reporter fragen jeden Teilnehmer, was er über den aktuellen Lokführerstreik in Deutschland denke. Viele unterstützen ihn spontan, während viele andere darüber überhaupt nicht informiert sind. "Ich wusste nicht, dass es in Deutschland einen Bahnarbeiterstreik gibt", sagt Marie Félicienne, die für die Stadt Straßburg arbeitet. "Ich weiß, dass in Frankreich überall gestreikt wird, aber die Nachrichten auf TF1 und Antenne-2, die ich mir immer ansehe, haben vom Streik der deutschen Lokführer kein Wort gesagt."

Diese Rolle der Medien wird auch von Olivier bestätigt, der als Journalist für ein Studentenfernsehen in Straßburg arbeitet. Olivier sagt: "Ich muss zugeben, dass ich bisher über keinerlei Streik in Deutschland informiert war. Offenbar konzentrieren sich die Medien stark auf das, was gerade jetzt in Frankreich los ist."

Michel, der oben zitierte Beschäftigter der Elsässer Straßenmeisterei, unterstützt den deutschen Lokführerstreik. Er sagt: "Da geht es um die gleichen Probleme wie in Frankreich - ich denke, es ist da drüben genauso wie hier. Schon damals, als die englische Eisenbahn privatisiert wurde, haben wir es miterlebt. Am Ende war alles im Eimer, die Schienen waren marode und der Staat musste zuletzt doch wieder einspringen und reparieren." Auf die zahlreichen Unfälle bezogen, sagt Michel: "Alles was da jetzt so passiert, ist ja kein Zufall. Wir können es direkt auf uns zukommen sehen."

Siehe auch:
Frankreich: 700.000 demonstrieren gegen Sarkozys Politik
(21. November 2007)
Französische Arbeiter brauchen eine neue politische Strategie
(20. November 2007)
Französische Studenten mobilisieren gegen Universitätsreform
(13. November 2007)
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