Die ägyptische Revolution und ihre politischen Aufgaben

Die Partei für Soziale Gleichheit veranstaltete am 17. September zum Abschluss ihres Berliner Wahlkampfs eine Europäische Arbeiterversammlung gegen Rassismus, Krieg und Sozialkahlschlag. Im Tempodrom in Kreuzberg sprachen Vertreter der PSG und der Vierten Internationale über die Krise des Kapitalismus, das Programm der PSG und die Bedeutung ihres Wahlkampfs.

 

Wir dokumentieren heute die Rede von Johannes Stern, Korrespondent der WSWS, zur Bedeutung der ägyptischen Revolution.

Das Podium im Tempodrom Das Podium im Tempodrom

Die Revolution in Ägypten, die am 25. Januar dieses Jahres begann, hat einen Wendepunkt in der Weltgeschichte eingeleitet. Zwanzig Jahre nach Auflösung der Sowjetunion und dem kapitalistischen Triumphgeschrei über das „Ende der Geschichte“ hat sich die Arbeiterklasse als mächtigste gesellschaftliche Kraft zurückgemeldet. Die Erkenntnis von Marx und Engels, dass „die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft, die Geschichte von Klassenkämpfen ist“, hat sich bestätigt.

Arbeiter und Jugendliche auf der ganzen Welt verstehen, dass die ägyptische Revolution ein einschneidendes Ereignis ist. Überall haben Arbeiter den Kampf der ägyptischen Massen gegen den von den USA gestützten Diktator Hosni Mubarak verfolgt, intuitiv ihre eigenen Kämpfe mit denen der ägyptischen Arbeiter identifiziert und sich von ihnen inspirieren lassen. Bei Massenprotesten im US-Bundesstaat Wisconsin trugen Arbeiter Schilder mit der Aufschrift „Strike like an Egyptian“ und erhoben ihre Schuhe gegen den verhassten Gouverneur Scott Walker. Und auch die Massenproteste in Spanien, Portugal, Griechenland und Israel waren von Ägypten und dem Tahrir-Platz beeinflusst.

Auch im Berliner Wahlkampf haben wir auf den Straßen oft Gespräche über Ägypten geführt. Viele Stimmen waren nach der ersten Euphorie aber auch nachdenklicher, Sie stellten fest, dass sich nichts verändert hat, und fragten sich: Was ist passiert? Und was muss passieren, um die Revolution zum Erfolg zu führen? Darum soll es im Folgenden gehen.

Die Arbeiterklasse war von Anfang an die treibende Kraft der ägyptischen Revolution. Der große russische Revolutionär und Führer der Oktoberrevolution Leo Trotzki charakterisierte eine Revolution einmal als „die direkte Einmischung der Massen in die historischen Ereignisse“. Genau das ereignete sich in Ägypten. Es waren die Massenstreiks der Arbeiter, die den verhassten Diktator Mubarak aus dem Amt jagten.

Der Imperialismus und die ägyptische Bourgeoisie waren zutiefst beunruhigt über diese Entwicklung. Um die Massenbewegung der Arbeiter zu unterdrücken, haben die USA in Absprache mit den ägyptischen Militärs, mit denen sie von Beginn an in engem Kontakt standen, eine brutale Militär-Junta installiert. Sie wird angeführt von Mohamed Hussein Tantawi, der zwanzig Jahre lang Verteidigungsminister unter Mubarak war. Die Junta wurde von allen bürgerlichen Parteien – Islamisten, Liberalen und angeblich Linken – von Anfang an unterstützt. Sie behaupteten, die Militärs leiteten einen sogenannten „Demokratischen Übergang“ ein.

Die vehementesten Verteidiger der Junta waren und sind dabei pseudo-linke Kräfte wie die Revolutionären Sozialisten, eine staatskapitalistische Gruppe, die von der britischen Socialist Workers Party in Ägypten aufgebaut wird. Diese Gruppe hat auf dem Tahrir-Platz bereits vor dem Sturz Mubaraks eng mit Vertretern der Muslimbrüderschaft und der Nationalen Allianz für den Wandel von Mohamed El Baradei zusammengearbeitet, um die bürgerliche Herrschaft zu retten.

Sie hat gemeinsame Erklärungen mit bürgerlichen Parteien veröffentlicht und aktiv daran gearbeitet, die unabhängigen Nachbarschaftskomitees unter die Kontrolle von politischen Parteien zu bringen und aufzulösen. Die Komitees waren von Arbeitern gegründet worden, um sich gegen Mubaraks Schlägerbanden aus der Polizei und aus den Geheimdiensten zu verteidigen. Durch das Eingreifen von Revolutionären hätten sich diese Komitees zu politischen Kampforganisationen der Arbeiter entwickeln können, was die kleinbürgerlichen Gruppen unter allen Umständen verhindern wollten.

Gruppen wie die Revolutionären Sozialisten oder ihre neu gegründete Partei, die Demokratische Arbeiterpartei, haben mit einer revolutionären Perspektive und sozialistischer Politik nicht das geringste zu tun. Sie unterstützen die Militärherrschaft aus tiefgehenden sozialen und materiellen Interessen. Im Militärrat sehen sie das Rückgrat des ägyptischen Kapitalismus, der die Privilegien der herrschenden Klasse und der oberen Mittelschicht verteidigt.

Um zu verstehen, warum diese Gruppen der Arbeiterklasse so feindlich gegenüber stehen, muss man ihre soziale Stellung betrachten. Sie vertreten nicht die sozialen Interessen der Arbeiter, sondern die eines kleinen begüterten Teils der Mittelschicht. Ihre Mitglieder – unter anderem Journalisten und Universitätsdozenten – sind die größten Profiteure unter der Junta.

Während sich für Arbeiter nichts geändert hat, sind diese Schichten dabei, sich ins Establishment zu integrieren. Ihre Führer arbeiten bei der internationalen Presse, haben gute Beziehungen zu den Muslimbrüdern und anderen bürgerlichen Organisationen, sitzen regelmäßig in Talkshows, veröffentlichen Bücher und geben Vorträge über die Revolution.

Um es auf den Punkt zu bringen: Sie machen Kohle mit der Revolution und sind deshalb die größten Verteidiger des Status quo. Um diesen zu erhalten und die Arbeiterklasse unter Kontrolle zu halten, bauen sie nun sogenannte „unabhängige Gewerkschaften“ auf. Das Geld dafür erhalten sie von westlichen Regierungen und NGOs und internationalen Gewerkschaftsverbänden wie der ILO und dem ITUC.

Trotz dieser vereinten Bemühungen der Pseudolinken ist es für die Bourgeoisie schwierig, die Offensive der Arbeiterklasse unter Kontrolle zu bekommen. Der Kampf der Arbeiter wird von tiefen objektiven Ursachen angetrieben. In Ägypten hat die soziale Ungleichheit nach mehr als 30 Jahren neoliberaler Wirtschaftspolitik Ausmaße erreicht, die nicht länger hinnehmbar sind.

Über 40 Prozent der ägyptischen Bevölkerung leben von weniger als zwei amerikanischen Dollar am Tag. Die revolutionäre Bewegung fiel nicht vom Himmel, sondern wurde über Jahre hinweg von der Arbeiterklasse vorbereitet. Vor allem in den letzten zehn Jahren haben Streiks und Proteste massiv zugenommen. Was am 25. Januar begann, ist die Kulmination einer Entwicklung, die sich seit langem abgezeichnet hat.

Um die Revolution niederzuschlagen und die Vorherrschaft des Kapitalismus und des Imperialismus in der Region zu retten, greifen die Junta und ihre Hintermänner in den USA zu immer brutaleren Methoden. Die Junta hat am 19. März ein Gesetz gegen Proteste und Streiks erlassen, das Arbeitern drakonische Strafen androht.

Am selben Tag begann die NATO, Libyen zu bombardieren. Das ist kein Zufall. Der Libyenkrieg hat von Anfang an das Ziel verfolgt, die Revolutionen in Tunesien und Ägypten unter Kontrolle zu bekommen. Der imperialistische Eroberungsfeldzug ist der Hauptanker der Konterrevolution. Die ägyptische Junta hat den Krieg aus genau diesem Grund unterstützt und Waffen an die libyschen „Rebellen“ geliefert. Auch die bürgerlichen Parteien und die kleinbürgerlichen Linken unterstützten mehr oder weniger offen den Krieg.

Der wirkliche Charakter der Junta wurde schnell klar, und die ägyptischen Arbeiter haben viele Illusionen ins Militär verloren. Sie identifizieren die Junta als verlängerten Arm der Herrschaft Mubaraks mit all ihren Merkmalen: Bedingungslose Unterwürfigkeit unter die USA, Unterdrückung demokratischer Rechte und zum Himmel schreiende soziale Ungleichheit.

Vor diesem Hintergrund erreichten die Streiks und Proteste Ende Mai einen neuen Höhepunkt. Unter Arbeitern und Jugendlichen wurde die populäre Forderung nach einer Zweiten Revolution erhoben. Diese zweite revolutionäre Welle erreichte ihren Höhepunkt am 8. Juli mit erneuten Massenprotesten in ganz Ägypten.

An diesem Punkt war die Junta wieder auf die Unterstützung der kleinbürgerlichen Ex-Linken angewiesen. Die Revolutionären Sozialisten veröffentlichten am 9. Juli, also nur einen Tag nach Beginn der Massenbewegung, ein Statement, das sich direkt gegen eine zweite Revolution aussprach. Am 10. Juli schlossen sie dann ein Bündnis mit liberalen und nasseristischen Parteien.

Als die Massenproteste dennoch nicht abebbten, bildeten sie Ende Juli eine sogenannte Vereinigte Volksfront mit ultrarechten Islamisten wie den Salafisten und al-Gamaa al-Islamiya und bereiteten so einem Massenauftritt der Islamisten den Weg, die für Tantawi auf die Straße gingen. Die Junta nutzte dies dann, um am 1. August den Tahrirplatz gewaltsam zu räumen und mit Militär zu besetzen.

Nur wenige Wochen später, während wir diese Versammlung abhalten, sind wiederum tausende Arbeiter im Streik – darunter Industriearbeiter, Ärzte, Lehrer, Professoren und Studenten. Die Junta bereitet sich darauf vor, die Bewegung erneut gewaltsam niederzuschlagen – nur diesmal mit noch größerer Brutalität.

Am letzten Freitag wurden Proteste vor der israelischen Botschaft in Kairo brutal angegriffen. Es gab drei Tote und mehr als 1.000 Verletzte. Zuvor hatten sich US-Präsident Obama, der israelische Premier Netanjahu und der neue ägyptische Diktator Tantawi telefonisch abgesprochen. Es gibt viele Anzeichen, dass sie sich darauf vorbereiten, die ägyptische Revolution im Blut zu ersticken.

Nach den Massenprotesten am letzten Wochenende beschloss die Junta die Notstandsgesetze auszuweiten und forderte die Interimsregierung auf, das Anti-Streik-Gesetz konsequent umzusetzen. Innenminister General Mansour al-Essawi erklärte, nun auch scharf schießen zu lassen, um Angriffe auf Regierungsgebäude und Polizeistationen zu verhindern.

Die ägyptische Arbeiterklasse ist in akuter Gefahr!

Das bringt mich zu meinem letzten Punkt: Was muss passieren, um die Konterrevolution zurückzuschlagen und die Revolution zum Erfolg zu führen?

Die Erfahrungen der Revolution zeigen, dass die Forderungen der Arbeiter nach sozialer Gleichheit und echten demokratischen Rechten nur durch einen revolutionären Kampf gegen die Junta und ihre Verteidiger durchgesetzt werden können. Die einzig realistische Perspektive für die sich entwickelnde Streikbewegung besteht darin, die Streiks zum Generalstreik auszuweiten, um die Junta zu Fall zu bringen und sie durch eine Arbeiterregierung zu ersetzen.

Damit die ägyptischen Arbeiter diesen revolutionären Kampf aufnehmen können, brauchen sie jedoch zwei Dinge: eine internationale sozialistische Strategie und ihre eigenen unabhängigen Kampforganisationen.

Als Orientierung muss die Erfahrung aus dem Jahr 1917 dienen. Als die Arbeiter in Russland die Oktoberrevolution durchführten, gründeten sie „Sowjets“ als revolutionäre Organe der Arbeiterklasse zur Übernahme der Staatsmacht. Unter Führung der Bolschewiki stürzte die organisierte Arbeiterklasse dann die bürgerliche Provisorische Regierung und schuf eine Arbeiterregierung. Für Lenin und Trotzki war die Oktoberrevolution dabei der Auftakt zur Weltrevolution. Damals wie heute können die Probleme und Aufgaben mit denen Arbeiter konfrontiert sind, nicht im Rahmen des Kapitalismus und nicht einem Land allein gelöst werden.

Die Bedingungen für den Kampf für internationalen Sozialismus sind günstig. Die tiefste Krise des Weltkapitalismus seit den 1930 Jahren verschärft sich immer weiter und die Organisation eines solchen Kampfs wird zur praktischen Aufgabe.

Ich bin am Anfang schon auf die internationalen Kämpfe eingegangen, die wir seit Ausbruch der Ägyptischen Revolution erleben – in den USA, in Griechenland, Spanien, Portugal, Großbritannien. Auch in Israel hat sich jüngst eine Massenbewegung gegen Premierminister Benjamin Netanjahu entwickelt. Das ist von großer Bedeutung. Während die bürgerlichen Regierungen Nationalismus schüren, haben die israelischen Arbeiter begonnen, sich mit ihren arabischen Brüdern und Schwestern in einem gemeinsamen Kampf für demokratische und soziale Rechte zu vereinen.

Das Hauptproblem der Ägyptischen Revolution ist, dass es noch keine unabhängigen Arbeiterorganisationen und keine revolutionäre Partei gibt. Nur deswegen kann die Bourgeoisie die Staatsmacht und die Kontrolle über die Produktivkräfte aufrechterhalten und die Konterrevolution forcieren.

Die wichtigste Aufgabe, die sich nun mit Notwendigkeit stellt, ist der Aufbau einer neuen, revolutionären Führung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines internationalen sozialistischen Programms. Die einzige Tendenz, die eine solche Perspektive verfolgt, ist das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI). Es verteidigt das Erbe von Leo Trotzki und die Theorie der Permanenten Revolution gegen den Verrat des Marxismus durch Stalinismus und Sozialdemokratie.

Dass wir heute so zahlreich versammelt sind und über diese Perspektive diskutieren, stimmt optimistisch. Die objektiven Bedingungen sind auf unserer Seite, und unser Programm ist im Einklang mit diesen. Wir sind die einzige Tendenz, die eine gängige Perspektive für die ägyptischen Arbeiter hat. Ich bin fest überzeugt, dass unser Programm Zugang finden wird und die Arbeiter in Ägypten und im gesamten Nahen und Mittleren Osten daran gehen werden, Sektionen der Vierten Internationale aufzubauen, um die ägyptische Revolution als Teil der Weltrevolution zum Sieg zu führen.

 

Alle Beiträge der Europäischen Arbeiterversammlung 2001:

 

Das historische Programm der PSG

Von Ulrich Rippert, 28. September 2011

Die ägyptische Revolution und ihre politischen Aufgaben

Von Johannes Stern, 27. September 2011

Soziale Konterrevolution durch Sturz des Profitsystems beenden

Von Wladimir Wolkow, 24. September 2011

„Die wichtigste Aufgabe ist der Aufbau einer neuen revolutionären Führung“

Von Joseph Kishore (USA) und Kumaran Ira (Frankreich), 23. September 2011

„PSG stellte Jugendunruhen in GB ins Zentrum ihres Wahlkampfs“

Von Julie Hyland, 22. September 2011

Die Bedeutung des Wahlkampfs der PSG

Von Christoph Vandreier, 21. September 2011

Die Krise des Kapitalismus

Von Peter Schwarz, 20. September 2011

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