Die philosophischen und politischen Grundlagen der Geschichtsfälschung

Erfolgreiche Veranstaltung der IYSSE an der Humboldt Universität

Knapp hundert Teilnehmer kamen am vergangenen Samstag zu einer Veranstaltung der International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) an der Humboldt Universität Berlin (HU), die sich mit den philosophischen und politischen Grundlagen der Geschichtsfälschung befasste.

Anlass der Veranstaltung war die Einladung von Robert Service durch Prof. Jörg Baberowski vom Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte. Der britische Autor soll dort am 12. Februar im Rahmen eines Kolloquiums zum Thema „Trotzky – Problems of a Biography“ sprechen.

Sven Heymanns spricht

Sven Heymanns von der IYSSE-Gruppe an der HU ging einleitend auf die Bedeutung dieser Einladung ein. „Service ist als Historiker inzwischen völlig diskreditiert, nachdem seine Biographie über Leo Trotzki von der Fachwelt als absolut unwissenschaftlich beurteilt wurde“, sagte er. „Und nun soll Service, der den Vorwürfen gegen sein Buch nie entgegengetreten ist, im Rahmen eines wissenschaftlichen Kolloquiums an der Humboldt-Universität sprechen.“

„Diese Einladung zu ignorieren“, fuhr er fort, „wäre nicht nur ein intellektueller, sondern auch ein gravierender politischer und sogar ein moralischer Fehler. Man ignoriert eine Lüge nicht einfach, als ob sie etwas Harmloses sei. Und man ignoriert sie schon gar nicht, wenn es dabei um grundsätzliche historische Fragen des 20. Jahrhunderts geht.“

„Lügen über Geschichte und Politik haben weitreichende Konsequenzen“, warnte Heymanns. Er erinnerte an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor hundert und des Zweiten vor fünfundsiebzig Jahren. Heute steuerten die Großmächte der Welt auf einen neuen Krieg zu und der Kapitalismus befinde sich seit fünfeinhalb Jahren in der tiefsten Krise seit den 1930er Jahren. Millionen gerade junger Menschen suchten nach einem Ausweg, nach einer Perspektive, nicht zuletzt bei Leo Trotzki. „In dieser Situation wird Robert Service hofiert, der nachgewiesenermaßen ein Pamphlet mit dem Ziel verfasst hat, Trotzki und seine Ideen vollständig zu diskreditieren, koste es was es wolle, eingeschlossen die Reputation des Autors.“

Er sage dies nicht nur als Trotzkist, sondern auch als Student der Geschichtswissenschaft, betonte Heymanns. Man könne über das Werk Trotzkis unterschiedlicher Ansicht sein. „Aber man muss sich seinem Untersuchungsgegenstand mit der gebotenen Ernsthaftigkeit und Sorgfalt und mit wissenschaftlichen Methoden nähern. Die Werkzeuge des Historikers sind der Gang in die Archive, die Auswertung von Quellen – aber nicht Fälschung, Lüge und das Jonglieren mit antisemitischen Klischees.“

Dass jemand wie Service, der mit Fälschungen und Verleumdungen arbeite, an eine renommierte Universität wie die HU eingeladen werde, werfe beunruhigende Fragen auf, schloss Heymanns. „Die Studierenden sind an dieser Uni nicht nur mit Einsparungen und Kürzungen konfrontiert, sondern auch mit einer intellektuellen Offensive. Deren Ziel ist es, ihnen den Weg zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Grundfragen des 20. Jahrhunderts zu versperren, die allein den Schlüssel für das Verständnis der heutigen Situation liefern kann.“

Wolfgang Weber vom Vorstand der Partei für Soziale Gleichheit ging in seinem Beitrag auf die Vorgeschichte der Einladung von Robert Service ein.

Wer nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Öffnung ihrer Archive eine neue Blüte der Geschichtswissenschaft erwartet habe, die mit den stalinistischen Lügen über Leo Trotzki aufräume, habe sich getäuscht, sagte er. Bereits 1992 sei in Russland eine Trotzki-Biografie des altstalinistischen Militärhistorikers Dimitri Wolkogonow erschienen, die alte Lügen wieder aufwärmte. Zehn Jahre später hätten dann drei britische Historiker – Ian Thatcher, Geoffrey Swain und Robert Service – in kurzen Abständen Trotzki-Biografien herausgebracht.

David North, der Chefredakteur der World Socialist Web Site, habe alle drei Biografien einer gründlichen Kritik unterzogen und sie als „Neuauflagen alter Lügen“ und „Präventiv-Biographien“ charakterisiert. Robert Service habe sich dabei durch eine besondere Hemmungslosigkeit ausgezeichnet, wie Weber an mehreren Beispielen illustrierte.

2010 erschienen North’ Besprechungen aller drei Biographien unter dem Titel „Verteidigung Leo Trotzkis“ als Buch. Robert Service habe zuerst gedacht, er könne die Kritik ignorieren. Doch dann sei es zu Entwicklungen gekommen, mit denen er nicht gerechnet habe.

Die älteste und angesehenste Historiker-Fachzeitschrift, The American Historical Review,hatteProfessor Bertrand Patenaude von der Stanford University mit einem Gutachten über die Bücher von Service und North beauftragt. Das Ergebnis war für Service verheerend. Patenaude bestätigte North’ Kritik in vollem Umfang und gelangte zum Schluss: „North nennt Services Biografie ein ‚zusammengeschustertes Machwerk’. Starke Worte, aber völlig berechtigt. Harvard University Press hat sein Imprimatur unter ein Buch gesetzt das die elementaren Regeln der Geschichtswissenschaft missachtet.“

In Europa unterzeichneten 14 international renommierte Historiker einen Brief an den Suhrkamp Verlag, der dringend von der Veröffentlichung von Services Machwerk abriet.

„Jeder dieser Wissenschaftler hat seine ganz persönlichen politischen Anschauungen, von den Perspektiven Leo Trotzkis mehr oder weniger weit entfernt“, erklärte Wolfgang Weber. „Aber alle waren sie in einem einig: Die historische Wahrheit muss unabhängig von allen politischen Differenzen als Grundprinzip der wissenschaftlichen Forschung verteidigt werden. Hier kann es keinen Kompromiss und keine Zweideutigkeit geben. Gerade die Geschichte Deutschlands und des Nationalsozialismus illustriert ja: es beginnt immer mit Lügen, es endet mit Massenmord und Barbarei.“

Suhrkamp, berichtete Weber, habe das weitgehend fertige Buch gestoppt und den Druck um ein Jahr verzögert, es schließlich aber im Juli 2012 „dann nach einem Jahr Schweigen und internen Auseinandersetzungen praktisch unverändert mit allen Fehlern, Fälschungen und Verleumdungen“ herausgebracht.

Zuvor waren in großen deutschsprachigen Tageszeitungen, Radiosendungen und Internet-Blogs insgesamt 25 Rezensionen erschienen, die für Service überwiegend vernichtend waren. Eine Ausnahme bildeten die Kommentare von Ulrich Schmidt in der Neuen Zürcher Zeitung, Lorenz Jäger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Stefan Scheil in der rechtsradikalen Jungen Freiheit, die Suhrkamp aus politischen Gründen bestärkten, das Buch herauszubringen.

Im Sommer 2013 trafen sich Robert Service und Jörg Baberowski dann zu einem Workshop an der Hoover Institution der Stanford University. Diese Institution war kurz nach der Oktoberrevolution als reich ausgestatteter Think Tank für antikommunistische Ideologie, Politik und Strategie gegründet worden. Zu ihren Fellows zählten so illustre Gestalten wie Ronald Reagan und Margaret Thatcher. Dort, vermutete Weber, wurde die Einladung an Service vereinbart.

Ulrich Rippert

Ulrich Rippert, der Vorsitzende der Partei für Soziale Gleichheit, ging als letzter Redner auf die politischen Hintergründe der Einladung von Service ein. Die Ankündigung der neuen Bundesregierung, die Zeit, in der Deutschland militärische Abstinenz üben musste, sei endgültig vorbei, kennzeichne eine historische Zäsur, erklärte er. Sie leite ein neues Stadium einer aggressiven imperialistischen Außenpolitik ein.

„Der Kampf gegen soziale Ungleichheit, Diktatur und Krieg wirft notwendigerweise die Frage nach einer sozialistischen Perspektive auf – und dabei spielt Trotzkis Perspektive, der den unversöhnlichen Gegensatz zwischen Stalinismus und Sozialismus deutlich gemacht hat, die zentrale Rolle“, sagte Rippert. „Services Schmähschrift ist ein Versuch, den Brunnen zu vergiften und das wachsende Interesse an Trotzkis Schriften zu unterdrücken. Am liebsten würden sie die Schriften von Trotzki und aller anderen Marxisten wieder verbrennen, wie im Mai 1933 hier auf dem Platz vor der HU.“

Rippert berichtete dann über seine persönlichen Erfahrungen. Als 16-jähriger Lehrling sei er auf einer Gewerkschaftsschulung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus konfrontiert worden und schockiert gewesen. Bald sei ihm die Verbindung von Faschismus und Kapitalismus klar geworden. Doch das habe eine andere Frage aufgeworfen: „Warum hat die Arbeiterklasse diese Katastrophe nicht verhindert?“

„Wir studierten die Arbeiterbewegung also etwas genauer“, sagte er. Den Stalinismus, der 1953 den Arbeiteraufstand in der DDR, 1956 die Revolution in Ungarn und 1968 den Prager Frühling niederschlug, habe er abgelehnt. Erst die Schriften Trotzkis hätten Klarheit gebracht. „Wir studierten Trotzkis ‚Verratene Revolution’ und stürzten uns, als sie im Sommer 1971 erschienen, auf seine ‚Schriften über Deutschland’. Jetzt wurde auch die Situation in Deutschland klar verständlich. Die Arbeiterklasse war wegen der reaktionären Politik der stalinistischen Parteien nicht in der Lage gewesen, den Faschismus zu verhindern.“

Rippert endete mit einem Aufruf an die anwesenden Studenten und Jugendlichen: „Einige von Euch haben sicherlich den Film ‚Unsere Mütter, unsere Väter’ gesehen. Jetzt geht es um Euch. Ihr seid die kommenden Mütter und Väter, die die Fragen der kommenden Generation beantworten und sich der Frage stellen müssen: ‚Was habt Ihr getan, als alles wieder anfing, als rechte Ideologen in die Universität eingeladen wurden, um Lügen und Geschichtsfälschungen zu verbreiten?’“

Es folgte eine lebhafte Debatte, die sich nach dem Ende der Veranstaltung auch noch auf den Fluren lange fortsetzte. Dabei verteidigte nicht ein Besucher Service oder Baberowski. Auf großes Interesse stieß dagegen die Frage, wie weit postmoderne und poststrukturalistische Konzeptionen, die die Existenz einer objektiven historischen Wahrheit leugnen, Geschichtsfälschern wie Service den Boden bereiten.

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