Steinmeier und das Massaker von Civitella

Am Sonntag vor einer Woche nahm Außenminister Frank-Walter Steinmeier als erster hochrangiger deutscher Politiker an der Gedenkfeier zum 70. Jahrestags des von der Wehrmacht verübten Massakers im italienischen Civitella teil.

Am 29. Juni 1944, einem Feiertag, hatte eine Einheit der Fallschirm-Panzer-Division „Hermann Göhring“ das Dorf in der Toskana gestürmt und eines der schlimmsten Kriegsverbrechen der Wehrmacht in Italien begangen. Die deutschen Soldaten trieben die Einwohner auf dem zentralen Kirchplatz zusammen und brachten dann vor den Augen von Frauen und Kindern alle 244 Männer des Dorfs per Genickschuss um. Der Massenmord zog sich über Stunden hin. Im Anschluss schleiften die Soldaten die Leichen zurück in die Häuser, um sie anzuzünden.

Das schreckliche Verbrechen war von der Wehrmacht langfristig geplant worden. Das Ziel war es, den Widerstand in der Bevölkerung gegen die Nazibesatzung zu brechen. Ähnliche Massaker verübte die Wehrmacht auch in Sant'Anna di Stazzema, in Marzabotto und in anderen Orten.

Steinmeier besuchte den Ort des Grauens zusammen mit seiner italienischen Amtskollegin Federica Mogherini. In seiner Rede erklärte er seine tiefe Erschütterung und Scham für das Geschehene. Er könne nicht fassen, „was Deutsche hier vor 70 Jahren getan haben“. Es sei wichtig, „dass wir nicht verdrängen und vergessen, sondern uns mit der Geschichte auseinandersetzen und die richtigen Lehren aus ihr ziehen“. Hundert Jahre nach dem Attentat von Sarajewo und 75 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wolle er daran erinnern, „wohin Kriege führen können: in den Exzess der Gewalt“.

Es gibt kaum etwas Abstoßenderes als Vertreter der deutschen herrschenden Klasse, die an ihre vergangenen Verbrechen erinnern und von „Lehren aus der Geschichte“ sprechen, während sie dabei sind, die nächste Katastrophe vorzubereiten.

Steinmeier spielt eine Schlüsselrolle bei der Rückkehr Deutschlands zu einer aggressiven Großmachtpolitik. Anfang des Jahres erklärte er zusammen mit dem Bundespräsidenten Joachim Gauck und der Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) auf der Münchner Sicherheitskonferenz, Deutschland müsse „bereit sein, sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und substanzieller einzubringen“. Er kritisierte die „Kultur des Heraushaltens“ und sagte: „Deutschland ist zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren.“

Die schrecklichen Verbrechen des Nazi-Regimes und der Wehrmacht, für die Steinmeier in Italien um Vergebung bat, waren die direkte Folge der Bestrebungen der deutschen Bourgeoisie, Europa und die Welt unter ihrer Führung zu organisieren. Unter Steinmeier erhebt sie nun wieder den Anspruch auf „Führung“. Eine offizielle Website des Auswärtigen Amtes wirbt intensiv dafür. Hier findet sich ein Strategiepapier mit dem Titel: „Deutschlands Bestimmung: Europa führen, um die Welt zu führen.“

Steinmeier mag kein Nazi sein. Aber er benutzt die Schrecken der Vergangenheit auf zynische Weise, um die aktuelle Kriegspolitik zu verschleiern, die bereits ähnliche Verbrechen wie das von Civitella hervorbringt. In seiner Rede erklärte er: „In der Europäischen Union sind wir heute in Freundschaft vereint. Keine Wirtschaftskrise darf diese Solidarität sprengen. Und keine politische Krise darf uns dazu verleiten, Krieg wieder für eine Lösung zu halten. Das Schulden wir den Toten des 29. Juni 1944. Die Mächte der Unterwelt werden nicht wieder die Oberhand erlangen können – weder in Civitella noch irgendwo sonst in Europa.“

Diese Heuchelei ist nur schwer zu überbieten. Es ist bekannt, dass die deutsche Regierung in der Ukraine zunächst einen Putsch gegen Präsident Wiktor Janukowitsch organisiert hat, bei dem Faschisten eine führende Rolle spielten. Nun unterstützt sie das Regime des Oligarchen Petro Poroschenko, das einen brutalen Krieg gegen die Bevölkerung der Ostukraine führt und den Konflikt mit der Atommacht Russland anheizt. Die faschistischen Kräfte, auf die sich die ukrainische Regierung dabei stützt, sind für Verbrechen wie das Massaker von Odessa am 2. Mai verantwortlich, bei dem über 40 Menschen auf bestialische Weise ermordet wurden.

Steinmeier arbeitet ganz persönlich mit den von ihm beschworenen „Mächten der Unterwelt“ zusammen. Nur einen Tag vor dem Putsch in Kiew empfing er den Führer der faschistischen Swoboda-Partei, Oleh Tjahnybok, in der deutschen Botschaft in Kiew. Tjahnybok ist ein berüchtigter Anti-Semit, der in der Vergangenheit behauptet hatte, die Ukraine werde von einer „jüdisch-russischen Mafia“ regiert. Swoboda unterhält enge Beziehungen zur deutschen NPD und verehrt ukrainische Anti-Semiten und Nazi-Kollaboratuere wie Stepan Bandera und Roman Schuchewytsch. Beide waren an Massakern beteiligt, denen tausende Juden und Polen zum Opfer fielen.

Wie in den 1930er Jahren ist deutsche Großmachtpolitik auch heute untrennbar mit Faschismus und Krieg verbunden. Bezeichnenderweise nahm Steinmeier vor seiner Reise nach Italien an einer Sommertagung der NATO-Außenminister in Brüssel teil, in deren Zentrum die Kriegsvorbereitungen gegen Russland standen. Die Außenminister stärkten dem Poroschenko-Regime den Rücken und beschlossen Maßnahmen zur Erhöhung der „Verteidigungsfähigkeit“ des ukrainischen Militärs. Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen drohte, dass es kein „business as usual“ mit Moskau geben werde, „solange Russland nicht wieder seine internationalen Verpflichtungen einhält“.

In Wirklichkeit verstoßen die NATO-Mächte gegen ihre Zusicherungen. Sie nutzen die selbst provozierte Krise in der Ukraine, um Russland systematisch weiter militärisch einzukreisen. Deutschland spielt dabei eine zentrale Rolle. Im April hat es im Zuge der massiven NATO-Aufrüstung in Osteuropa bereits ein Kriegsschiff in die Ostsee abkommandiert. Ab September sollen sechs Mehrzweckkampfflugzeuge des Typs Eurofighter die Luftraumüberwachung über den baltischen Staaten verstärken. Bei seinem Besuch am Mittwoch in Berlin bedankte sich Rasmussen explizit für die militärische Unterstützung und „Deutschlands führende Rolle“ in der Ukraine-Krise.

Steinmeiers Besuch in Civitella kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die herrschende Klasse Deutschlands wie im vergangenen Jahrhundert aggressiv und mit verbrecherischen Methoden ihre imperialistischen Interessen verfolgt. Es spricht Bände, dass Deutschland 70 Jahre nach dem Massaker weder einen Täter zur Verantwortung gezogen, noch die Familien der Opfer entschädigt hat. Als Italiens Oberstes Gericht 2008 den einstigen deutschen Unteroffizier Max Josef M. zu lebenslanger Haft verurteilte und Deutschland aufforderte, die Angehörigen der Opfer zu entschädigen, akzeptierte die Bundesregierung das Urteil nicht. Damals wie heute heißt der Außenminister Frank-Walter Steinmeier.

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