Am vergangenen Samstag fand in Berlin eine „Welcome-United“-Parade statt, zu der über 100 verschiedene Flüchtlings- und Hilfsorganisationen aufgerufen hatten. Rund 7.500 Menschen waren dem Aufruf gefolgt, um ihrem Protest gegen die Flüchtlings- und Abschiebepolitik der Bundesregierung Ausdruck zu verleihen. Ungefähr die Hälfte waren Flüchtlinge, die mit 30 Bussen aus den anderen Bundesländern angereist kamen.
Der Protestzug startete mittags vor dem Bundesinnenministerium und endete am Abend auf dem Kreuzberger Oranienplatz. 19 Motivwagen thematisierten die drängendsten Probleme von hunderttausenden Flüchtlingen aus der ganzen Welt. Die Dublin II-Verordnung, Bildung, Seenot-Rettung, Bleiberecht für alle, Abschiebestopp nach Afghanistan, die Situation der Roma und das Recht auf Familiennachzug waren die bestimmenden Themen.
In ihrem Aufruf erklärten die Organisatoren: „Wir werden uns nicht daran gewöhnen, was vor unseren Augen passiert.“ Die Demonstration fände nicht ohne Grund eine Woche vor der Bundestagswahl statt. Man wolle gegen die öffentliche Angstmache der verantwortlichen Politiker zeigen, dass es „eine andere Mehrheit, eine Mehrheit des Willkommens“ gäbe und wehre sich „gegen den neuen Rechtspopulismus und die alten Nazis“.
Zwar betonte ein Sprecher des Zugs, dass „unsere antirassistische Parade so bunt wirken [solle] wie ein Karnevalsumzug“, doch insbesondere bei der Gruppe der Afghanen waren der Ernst und die Dringlichkeit ihrer Situation deutlich zu spüren.
Mitglieder und Unterstützer der Sozialistischen Gleichheitspartei verteilten auf der Demonstration den Wahlaufruf der SGP und diskutierten mit vielen Protestteilnehmern über die Verantwortung der führenden Parteien und über die Ursachen für Krieg und Flucht.
Yasamin Sadat war vor sechs Jahren aus Afghanistan nach Deutschland geflüchtet. Sie bestreitet vehement die Haltung der Bundesregierung, dass Afghanistan sicher sei. „Viele Frauen und Kinder sind dort in Gefahr. Ich höre jeden Tag Nachrichten aus Afghanistan, dass wieder Menschen gestorben sind.“ Dass immer mehr Soldaten nach Afghanistan geschickt werden, lehnt sie ab: „Wenn es keinen Krieg gäbe, könnten wir zurückkehren.“
Auch der 19-jährige Abi und der 23-jährige Rahimi kommen aus Afghanistan.
Abi ist seit 2015 in Deutschland. Sein Weg führte ihn über Pakistan in den Iran, wo er sechs Monate als Steinmetz schwere Arbeit verrichtete. Danach floh er über die Türkei nach Griechenland, wo er in einem neu gebauten Flüchtlingscamp lebte und schwer erkrankte. Das Essen sei dort schlecht und viel zu wenig gewesen, berichtet er: „Morgens gab es ein kleines Brötchen mit Wurst und dann ein Abendessen. Mehr nicht.“ Über Athen, Mazedonien, Serbien und Ungarn kam er nach Österreich. Als Schwarzfahrer sei er mit der Bahn nach München gekommen, dann aber erwischt und schließlich für einen Monat im Auffanglager in Rosenheim untergebracht worden.
Obwohl Abi zwei Jahre in Deutschland zur Schule gegangen ist, sehr gut Deutsch gelernt und jetzt einen Ausbildungsplatz als Fahrzeuglackierer gefunden hat, droht ihm nun die Abschiebung nach Afghanistan. „Ich habe mich integriert. Ich habe einen Ausbildungsplatz. Warum soll ich abgeschoben werden? Ich bin auch ein Mensch!“, empört er sich.
„Wenn Afghanistan sicher wäre, warum ist dann Herr de Maiziere nur mit Sicherheitsweste nach Afghanistan gegangen!“, möchten Abi und Rahimi wissen. Täglich gäbe es Explosionen, berichten sie. „Und das soll sicher sein? In Afghanistan herrscht Krieg.“
Den Deal zwischen der Bundesregierung und der Regierung in Kabul über Zahlungen für jeden zurückgenommenen Afghanen verurteilen sie beide. „Unser Präsident hat dafür Geld bekommen, dass den abgeschobenen Flüchtlingen geholfen wird. Aber uns wird nicht geholfen! Sobald wir den Flughafen in Kabul verlassen haben, sind wir völlig auf uns allein gestellt.“
Auf die Präsenz der Nato-Soldaten angesprochen, erklärt Rahimi: „Waffen helfen nicht! Ich bin mir sicher, wenn Deutschland, die USA und all die anderen Länder Afghanistan in Ruhe ließen, hätten wir keinen Krieg.“ Abi prangert auch die Waffenexporte der Bundesregierung an: „Deutschland soll die Waffenexporte einstellen. In Afghanistan sind alles deutsche und amerikanische Waffen. Die Granaten, die explodieren, töten und verletzen uns, nicht die Soldaten.“
Anas und Ayman sind beide aus der syrischen Stadt Aleppo geflohen. Der 30-jährige Anas betont, dass er als Syrer „mehr Rechte“ habe, als Flüchtlinge aus anderen Ländern. Er solidarisiert sich ausdrücklich mit den afghanischen Flüchtlingen: „Ich hatte die Chance, die deutsche Sprache zu lernen und mich an der Uni zu bewerben. Aber wer aus Afghanistan kommt, kann das nicht.“
Sie bekämen keine Integrationsmöglichkeiten und würden unter dem Vorwand abgeschoben, dass Afghanistan sicher sei, kritisiert Anas. „Was soll das? Deutschland hat eine Armee dort und sagt, dass es dennoch sicher ist. Das macht keinen Sinn.“ Es sei auch unmenschlich, dass die Geflüchteten nach ihrem sozialen Status aussortiert werden: „Wenn jemand gebildet ist und gute Qualifikationen hat, bekommt er eine bessere Chance, weil er als nützlich betrachtet wird.“
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, zitiert Anas das deutsche Grundgesetz und kommentiert: „Das heißt doch, dass ein Mensch verdammt nochmal ein Mensch ist – nicht ein Mensch aus Syrien oder aus Afghanistan. Der eine hat Würde, der andere nicht?“
Anas erzählt dann seine eigene Geschichte: Er hat in Syrien englische Sprache und Literatur studiert, aber konnte seinen Abschluss nicht mehr machen, weil er verhaftet wurde. Nach seiner Freilassung floh er in die Türkei und versuchte, als Englischlehrer zu arbeiten. Im Herbst 2015 verließ er das Land und kam über die gefährliche Seeroute mit einem Schlauchboot auf die griechische Insel Mytilene. Von Griechenland aus reiste er über die Balkanroute nach Deutschland. Hier will er studieren, um Sozialarbeiter zu werden.
Er hat noch Kontakt zu Flüchtlingen, die in Griechenland geblieben sind. Seit dem Deal zwischen Ankara und der Europäischen Union, der die Abschiebung der Flüchtlinge aus Griechenland zurück in die Türkei vorsieht, habe sich die Lage noch verschlechtert. „Sie bekommen keine Sprachkurse oder ähnliches, weshalb sie nicht arbeiten können. Sie bekommen nur gerade so viel Geld, dass es zum Überleben reicht.“ Die Flüchtlingscamps seien im Grunde „Konzentrationslager“.
Alle müssten jetzt aufwachen und auf die Straße gehen, fordert Anas und kritisiert die massiven Rüstungsexporte, die kriegerische Konflikte gezielt anheizen. Die Empathie und Unterstützung für Flüchtlinge in der Bevölkerung sei zwar sehr groß. „Doch wenn man nicht an die Wurzel des Problems geht, dann kauft man nur Zeit. Es geht nicht nur um diese Länder, sondern auch um die ganze internationale Lage. Ich habe Angst, ein Kind in diese zerstörte Welt zu setzen.“
Viele Demonstranten nahmen an dem Protestzug teil, um ein Zeichen gegen Krieg zu setzen. Stefan, ein Demonstrant aus Berlin, ist besorgt über die wachsende Kriegsgefahr. Seit 1990 sei das „Tempo der Kriegsentwicklung“ und „wo Deutschland militärisch überall mitmacht einfach atemberaubend“.
Eine ältere Berlinerin berichtete, dass sie sich bei der „Mahnwache Spandau“ für Flüchtlinge engagiere. Ihre eigene Familie sei während der Nazi-Herrschaft ermordet worden. Auch sie fordert, dass Deutschland keine Rüstungsgüter exportieren dürfe. Dass der Appell an die etablierten Parteien, die die rechte Asyl- und Abschiebepolitik durchsetzen, eine Lösung darstelle, bezweifelt sie: „Ich setze mich aber trotzdem ein, auch wenn es vielleicht nichts nützt.“
Ähnlich äußern sich zwei ehrenamtliche Helfer aus Göttingen, die jedes Vertrauen in politische Parteien verloren haben. „Alle Parteien sind sich darin einig, dass die CDU sagt: Ihr braucht ja gar nicht die AfD zu wählen, das können wir auch selber für euch machen. De Maizière ist das beste Beispiel dafür und die SPD ist davon nicht weit entfernt. Die Linkspartei ist auch enttäuschend.“ Für sie seien „Parteien, die nicht konsequent für das Bleiberecht eintreten, unwählbar“.
Zynischerweise hatten Politiker der Linkspartei und von den Grünen den Demoaufruf unterzeichnet, obwohl ihre Parteien die Kriegspolitik und Flüchtlingshetze maßgeblich vorantreiben.
Die Sozialistische Gleichheitspartei vertritt als einzige Partei eine revolutionäre und sozialistische Perspektive und kämpft für die Einheit aller Arbeiter und Jugendlicher, die weltweit von Krieg, sozialer Ungleichheit und Ausbeutung betroffen sind.
Im Wahlaufruf der SGP heißt es: „Wir verteidigen das Recht auf Asyl und lehnen jede Form von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit ab. Die Angriffe auf Flüchtlinge richten sich gegen alle Arbeiter. Notwendig ist ein gemeinsamer Kampf aller hier lebenden Menschen gegen den Kapitalismus.“