Mit klassischer Musik gegen den Verfassungsschutz

Gestern haben rund 70 Musikerinnen und Musiker, Sängerinnen und Sänger mit klassischer Musik vor der Zentrale des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) in Köln protestiert.

Polizeikräfte leiten am Haupttor durch einen kleinen Korridor erste Mitarbeiterinnen des Geheimdienstes durch eine Fußgängerschleuse (Foto: Lebenslaute)

Der Konzertprotest der Gruppe „Lebenslaute“ stand unter dem Motto „Mit Suite und Kantate gegen den Staat im Staate – Geheimdienste abschalten!“. Sie blockierte den Haupteingang und die vier Nebeneingänge des Komplexes, in dem der Großteil der 3100 Geheimdienst-Beschäftigten arbeitet.

Bereits um 5:15 Uhr hatten die Musiker und Sänger alle Zufahrten und Zugänge blockiert und mit ihrer Konzertmusik begonnen. Verfassungsschutzmitarbeiter – und später auch Lieferanten – konnten nicht wie gewohnt auf das Gelände der Inland-Geheimdienst-Zentrale gelangen. Die vor den Toren wartenden Geheimdienstler wurden von den Lebenslaute-Mitgliedern angesprochen und bekamen speziell für sie erstellte Flyer.

Bereits eine Viertelstunde später erschienen die ersten Polizeifahrzeuge, um die Blockade zunächst zu beobachten.

Um halb sieben begann die Polizei mit der Räumung der ersten Blockade. Laut „Lebenslaute“ waren die Polizisten nicht zimperlich. „Dabei greifen sie einer Violinistin in den Bogen. Cello- und Mandolin-Spieler*innen sowie einige Sänger*innen werden weggetragen.“

Die rund 20 Musizierenden vor dem Haupttor wurden von Polizisten eingekesselt. Als dann die anderen Musiker von den Nebeneingängen dort eintrafen, spielten sie zusammen ein kleines Abschlusskonzert – getrennt durch Polizeiketten.

Nach rund fünf Stunden, kurz vor 10 Uhr, waren alle Musiker und Musikerinnen von der Polizei weggetragen oder weggeführt worden. Sie erhielten einen Platzverweis, von allen wurden die Personalien festgestellt. Die Polizei kündigte an, dass gegen sie Ermittlungsverfahren wegen Nötigung eingeleitet würden. Bereitschaftspolizei bewachte währenddessen den Haupteingang. Zum Schluss „sammelten sich alle Aktivist*innen, auch von den anderen Zugängen, am Haupttor zu einem kurzen sinfonischen Abschlusskonzert“.

Konzertblockade des Nebeneingangs 5 zum BfV (Foto: Lebenslaute)

Mit ihrer Aktion kritisierten die Musikerinnen und Musiker von „Lebenslaute“ vor allem die Rolle des Verfassungsschutzes im Zusammenhang mit den NSU-Morden und deren Aufklärung.

„Am 11. Juli endete der NSU-Prozess, bei dem viele Fragen der Opfer und ihrer Familien zur Rolle der Geheimdienste unbeantwortet blieben“, heißt es in einer ihrer Presseerklärungen. Die „bekannt gewordene selektive Aktenvernichtung, selektive Zurückhaltung von Beweismitteln und Aussageverweigerungen sind Mittel der politischen Einflussnahme und verhindern eine rechtsstaatliche Ahndung von schweren Verbrechen“. Täter und Mitwissende aus Politik wie Geheimdiensten müssten zur Verantwortung gezogen werden.

Doch auch die neuesten Absprachen zwischen Hans-Georg Maaßen, dem Präsidenten des BfV, und der AfD-Führung, werden genannt. Albert Müller, ein Sprecher der Gruppe, sagte der WSWS: „Unsere Einschätzung ist, dass dies zeigt, dass es Prozesse gibt, in denen der Verfassungsschutz seine Beobachtungstätigkeit überschreitet und aktiv und zugleich verdeckt politisch eingreift.“ Durch das Buch Inside AfD einer ehemaligen Mitarbeiterin Frauke Petrys stehe im Raum, „dass der Verfassungsschutz die AfD berät“.

Die Gruppe „Lebenslaute“ fordert daher neben der Abschaltung des Verfassungsschutzes und aller Geheimdienste auch den Schutz von Whistleblowern und die Verteidigung und den Ausbau demokratischer Rechte. „Schluss mit den Unterdrückungs- und Überwachungsstrukturen!“, heißt es in ihrem Statement.

Die Gruppe existiert inzwischen über 30 Jahre. Seit 1986 versammeln sich ihre insgesamt rund 300 Mitglieder regional und einmal im Jahr jeweils im Sommer bundesweit, um mit ihren Konzerten auf „Militärübungsplätzen und Abschiebeflughäfen, vor Atomfabriken und Raketendepots, in Ausländerbehörden und an anderen menschenbedrohenden Orten“ zu protestieren. 2014 hat „Lebenslaute“ gemeinsam mit der US-amerikanische feministischen Anti-Kriegs-Gruppe „Code Pink“ den Aachener Friedenspreis erhalten, der jährlich am 1. September, dem Antikriegstag, überreicht wird. Die Laudatio hielt die Fernseh-Journalistin und Autorin Gabriele Krone-Schmalz.

Die Konzert-Musik hatte ihre Uraufführung am Abend zuvor in der Alten Feuerwache in Köln. Vor rund 140 Menschen spielten Lebenslaute-Orchester und -Chor klassische Musik, die sie mit tagesaktuellen Entwicklungen rund um die Geheimdienste verbanden. Mit einem Arrangement des James-Bond-Themas wurde die Verwicklung des hessischen Verfassungsschutzes in den NSU-Mord an Halit Yozgat in Kassel dargestellt.

Das Programm wurde gemeinsam mit der „Initiative Keupstraße ist überall“ erstellt. In der Keupstraße hatte der NSU 2004 eine Nagelbombe gezündet und zahlreiche Menschen schwer verletzt. So waren Originalaufnahmen zu hören über das, was Menschen mit der Keupstraße und dem Nagelbombenattentat verbinden. Währenddessen wurden Porträts der vom NSU ermordeten Menschen an die Leinwand projiziert.

Der Bağlama-Spieler Erdal Aslan intonierte gemeinsam mit dem Lebenslaute-Orchester und -Chor das Klagelied „Ötme bülbül ötme“ und „Yiğidim Aslanım“ für die „tapferen Helden“. Der Menschen- und Bürgerrechtsaktivist und stellvertretende Richter am Staatsgerichtshof in Bremen Rolf Gössner erklärte in seiner Gastrede: „Der ‚Verfassungsschutz‘ hat Neonazi-Szenen und -Parteien über seine bezahlten Spitzel letztlich mitfinanziert, rassistisch geprägt, gegen polizeiliche Ermittlungen geschützt und gestärkt.“

Die WSWS und die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) unterstützen Proteste, die die Auflösung der Verfassungsschutzämter und aller Geheimdienste fordern. In einer Erklärung der SGP, in der sie angesichts ihrer Nennung im aktuellen Verfassungsschutzbericht zu ihrer Verteidigung aufruft, weist die SGP darauf hin, dass der Verfassungsschutz eine Schlüsselrolle in der rechten Verschwörung der Berliner Parteien und des Staates einnimmt, die sich gegen die wachsende Opposition unter Jugendlichen und Arbeitern gegen Militarismus, Rassismus und soziale Ungleichheit richtet.

Während die AfD im Verfassungsschutzbericht in der Rubrik „Rechtsextremismus“ nicht genannt wird, kommt sie gleich mehrmals in der Rubrik „Linksextremismus“ vor – als Opfer angeblicher „Linksextremisten“. Als solche gelten aber alle, die gegen die AfD und gegen Rechtsextremismus protestieren.

„Die allgemeine Einleitung zum Kapitel ‚Linksextremismus‘ macht deutlich“ heißt es in der Erklärung, „dass es dem Verfassungsschutz darum geht, jede sozialistische Kritik am Kapitalismus und seinen gesellschaftlichen Folgen zu unterdrücken.“

Die „ideologische Grundlage“ von „Linksextremisten“, schreibt der Geheimdienst, „ist die Ablehnung des ‚kapitalistischen Systems als Ganzes‘, denn der ‚Kapitalismus‘ ist für Linksextremisten mehr als nur eine Wirtschaftsform: Er gilt sowohl als Basis als auch als Garant der ‚bürgerlichen Herrschaftsverhältnisse‘ durch ‚Repression‘ nach innen und ‚Aggression‘ nach außen. Der ‚Kapitalismus‘ ist demnach verantwortlich für alle gesellschaftlichen und politischen Missstände wie soziale Ungerechtigkeit, ‚Zerstörung‘ von Wohnraum, Kriege, Rechtsextremismus und Rassismus sowie für Umweltkatastrophen.“ Laut Verfassungsschutz ist eine solche Kritik am Kapitalismus, die Millionen Menschen teilen, ein Angriff auf „unsere Staats- und Gesellschaftsordnung und damit die freiheitliche Demokratie“.

Am heutigen Dienstagmorgen ab 10 Uhr spielen die Lebenslaut-Musiker und -Musikerinnen erneut vor den Toren des Bundesamtes in Köln. Die WSWS wird berichten.

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