Perspektive

Chemnitz und der Ruf nach dem Staat

Nach den rechtsextremen Aufmärschen in Chemnitz rufen Vertreter aller Bundestagsparteien nach dem Eingreifen des Staates.

Der Verfassungsschutz müsse das Zusammenwirken von AfD und Neonazis sehr genau beobachten, verlangte Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann (SPD). Justizministerin Katarina Barley (SPD) will den Generalbundesanwalt einschalten, um herauszufinden, welche Organisationen hinter der Mobilisierung rechter Gewalttäter bei den Protesten in Chemnitz stehen. „Wir dulden nicht, dass Rechtsradikale unsere Gesellschaft unterwandern“, sagte sie.

„Der Staat muss beweisen, dass er ein starker Staat ist“, erklärte Unionsfraktionschef Volker Kauder in der Welt am Sonntag. Der Rechtsradikalismus habe „durch die nachträgliche Billigung der Ereignisse durch AfD-Politiker eine neue Dimension angenommen“. Es müsse herausgefunden werden, wer die AfD mit Millionen im Bundestagswahlkampf unterstützt habe. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der für den Verfassungsschutz verantwortlich ist, lehnt eine Beobachtung der AfD allerdings bisher ab.

Auch die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock fordert, dass die AfD durch den Verfassungsschutz beobachtet wird. „Man kann der AfD beim Radikalisieren zugucken“, sagte sie der Süddeutschen Zeitung. Die AfD habe sich „mit offensiv verfassungsfeindlichen Kräften bewusst und sichtbar auf offener Straße“ zusammengeschlossen. Sie teile „daher die Einschätzung derjenigen Landesämter für Verfassungsschutz, die die Beobachtung für angezeigt halten“.

Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner sagte der Rheinischen Post, Teile der AfD und einige ihrer Mandatsträger bekämpften offen die liberale Ordnung. „Dann muss man sie beobachten.“

Die Linke schloss sich diesen Forderungen vollumfänglich an. Fraktionschef Dietmar Bartsch schrieb auf Twitter: „Es ist richtig, wenn der Fraktionsvorsitzende der Union gegen den Hass und die Hetze der AfD vorgehen will. Den Worten müssen Taten folgen.“ Auch Linke-Chefin Katja Kipping verlangte, dass der Verfassungsschutz die AfD beobachtet. „Der Höcke-Flügel ist im Aufwind, und die Rechtsradikalisierung der AfD wird voranschreiten“, begründete sie das im Sommerinterview der ARD.

Den Verfassungsschutz gegen die Rechtsextremen einzuschalten, bedeutet, den Bock zum Gärtner zu machen. Es ist bekannt, dass die rechtsextreme Szene von V-Leuten der Sicherheitsbehörden durchsetzt ist, die sie nicht nur „beobachten“, sondern tatkräftig unterstützen.

Der Fall von Tino Brandt, der vom Verfassungsschutz 200.000 DM für den Aufbau des Thüringer Heimatschutzes erhielt, aus dem dann die Terrorgruppe NSU hervorging, ist nur der bekannteste unter vielen ähnlichen Fällen. In der Führung der NPD waren derart viele V-Männer des Geheimdiensts aktiv, dass das Bundesverfassungsgericht 2003 ein Verbot der rechtsextremen Partei mit der Begründung ablehnte, es handle sich „der Sache nach um eine Veranstaltung des Staates“.

Es wäre der Gipfel der Naivität zu glauben, dies sei heute anders. Die Zahl der Spitzel und Provokateure der Sicherheitskräfte unter den 6000 Rechten und Neonazis, die am 27. August Chemnitz terrorisierten, den Hitlergruß zeigten und Ausländer jagten, war vermutlich größer als die Zahl der Beamten, die von der angeblich völlig überraschten sächsischen Polizei an diesem Tag aufgeboten wurden.

Hinzu kommt, dass viele Angehörige der Polizei, des Geheimdiensts und der Bundeswehr Sympathien für die AfD hegen, diese wählen oder sogar für sie in den Parlamenten sitzen. Erst kürzlich wurde bekannt, dass sich der Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, zu vertraulichen Gesprächen mit AfD-Chef Alexander Gauland und dessen Vorgängerin Frauke Petry traf.

Den Vertretern der Bundestagsparteien ist dies natürlich alles bekannt. Sie haben sich viele Male in Untersuchungsausschüssen mit den Aktivitäten des Verfassungsschutzes befasst. Maaßen wurde erst vor wenigen Tagen wieder vorgeworfen, er habe den Bundestag belogen und gezielt verschwiegen, dass der Verfassungsschutz einen V-Mann im Umfeld des Attentäters vom Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri, platziert hatte.

Wenn sie nun trotzdem nach dem Verfassungsschutz rufen, zeigt dies, was ihre wirklichen Motive sind. Was sie alarmiert, ist nicht die Zusammenarbeit von AfD, Pegida und Neonazis. Dass die AfD rechtsextrem ist, können sie regelmäßig im Bundestag erleben. Dafür war es nicht nötig, dass Bernd Höcke von der AfD und Lutz Bachmann von Pegida gemeinsam an der Spitze eines braunen Mobs durch Chemnitz marschierten. Spätestens als AfD-Chef Alexander Gauland Hitler und die Nazis als „Vogelschiss in über tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ verniedlichte, konnte niemand mehr Zweifel haben, wo die AfD politisch steht.

Was die Politiker von Union, SPD, FDP, Grünen und Linke alarmiert, ist die massive Reaktion auf den Nazi-Terror in Chemnitz. Nicht nur in Chemnitz selbst, sondern auch in zahlreichen andern deutschen Städten ist es zu großen Gegendemonstrationen gekommen. Deshalb rufen sie nach dem Verfassungsschutz. Er soll gestärkt werden, um diese Bewegung zu unterdrücken und zu verhindern, dass sie sich gegen die Große Koalition richtet, die der AfD mit ihrer rechten Politik den Weg bereitet und ihre Flüchtlingspolitik vollständig übernommen hat.

Während einige Politiker noch Solidarität mit den Protesten gegen die AfD heucheln, hat CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer bereits klar gemacht, dass sich die Stoßrichtung gegen links richtet. Sie griff in der Welt das Rockkonzert gegen Rechts an, zu dem am Montagabend in Chemnitz Zehntausende erwartet wurden

Kramp-Karrenbauer kritisierte, dass dort neben den „Toten Hosen“ und anderen Bands auch „Feine Sahne Fischfilet“ auftritt. Die populäre Punkrock-Band war früher in Verfassungsschutzberichten des Landes Mecklenburg-Vorpommern „linksextremistischer Bestrebungen“ beschuldigt worden, weil sie in Songtexten die Polizei angegriffen hatte. Nun kritisierte die CDU-Generalsekretärin den Auftritt der Band in Chemnitz mit der Begründung: Wir wollen „unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat gegen Rechts schützen. Und wenn man das dann mit denen von Links tut, (...) dann halte ich das für mehr als kritisch.“

In Sachsen-Anhalt, einer Hochburg des rechten AfD-Flügels, arbeitet die CDU direkt mit der AfD gegen Linke zusammen. Dort hat die Mehrheit der CDU-Landtagsfraktion bereits vor einem Jahr gemeinsam mit der AfD eine Enquete-Kommission zur Untersuchung von Linksextremismus beschlossen. Sie soll den Staat „in der Auseinandersetzung mit der linken Szene“ stärken und Handlungsempfehlungen „für eine erfolgreiche Bekämpfung von Linksextremismus“ erarbeiten.

Der Verfassungsschutz vertritt in dieser Frage eine klare Position. Der „Verfassungsbericht 2017“, der im Juli erschien, erwähnt die AfD und ihr rechtsextremes Umfeld mit keinem Wort, bezeichnet aber jede Opposition gegen Nationalismus, Imperialismus und Militarismus als „linksextremistisch“ und „verfassungsfeindlich“.

Einen zentralen Platz räumt der Bericht der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) ein. Sie ist ins Visier des Verfassungsschutzes geraten, weil sie den Kapitalismus ablehnt, für ein sozialistisches Programm eintritt und einen systematischen Kampf gegen die Verharmlosung des Nationalsozialismus durch den rechtsextremen Berliner Historiker Jörg Baberowski und andere Historiker geführt hat.

Der Schulterschluss aller Bundestagsparteien mit dem Verfassungsschutz bestätigt, dass die AfD Teil einer Verschwörung auf der höchsten Ebene des Staates ist. Angesichts wachsender sozialer und internationaler Spannungen setzen die herrschenden Eliten wieder auf autoritäre Herrschaftsformen und faschistische Kräfte, um den Widerstand gegen ihre Politik des Sozialabbaus, des Militarismus und der Staatsaufrüstung zu unterdrücken.

Die einzige soziale Kraft, die dieser Entwicklung entgegentreten und die Rechten stoppen kann, ist die internationale Arbeiterklasse. Dazu braucht sie ein sozialistisches Programm und eine internationale Partei, die den Kampf gegen Faschismus und Krieg mit dem Kampf gegen den Kapitalismus verbindet – die Sozialistischen Gleichheitspartei und das Internationale Komitee der Vierten Internationale.

Siehe auch:Verteidigt die Sozialistische Gleichheitspartei gegen den Angriff des Verfassungsschutzes

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