Münster: Prozess gegen SS-Wachmann im KZ Stutthof hat begonnen

Am 6. November begann vor dem Landgericht Münster in Nordrhein-Westfalen der Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Johann R.. Er ist der Beihilfe zum hundertfachen Mord im Konzentrations- und Vernichtungslager Stutthof in der Nähe von Danzig angeklagt. Laut Anklage war er vom 7. Juni 1942 bis zum 1. September 1944 als Mitglied der 3. Kompanie des SS-Totenkopfsturmbanns für die Bewachung des Lagers und die Beaufsichtigung der Arbeitskommandos außerhalb des Lagers zuständig, zum Schluss im Rang eines SS-Sturmmanns.

Johann R. wurde 1923 in Rumänien geboren und wird bald 95 Jahre alt. Der promovierte Betriebswirt lebte nach dem Krieg unbehelligt in der Bundesrepublik und wurde Direktor einer Fachschule für Gartenbau.

Da er während seiner Tätigkeit im KZ Stutthof noch keine 21 Jahre alt war, findet sein Prozess vor der Jugendstrafkammer statt. Vorsitzender Richter ist Rainer Brackhane. Aufgrund des hohen Alters des Angeklagten und aus Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand dauern die Verhandlungen maximal zwei Stunden pro Tag. Zwischen den Verhandlungstagen werden entsprechende Ruhetage eingelegt. Das Gericht setzte bisher dreizehn Verhandlungstage bis Mitte Januar 2019 an.

Die Anklage verlas Oberstaatsanwalt Andreas Brendel aus Dortmund, der sich auf Verbrechen und Strafsachen während der Zeit des Nationalsozialismus spezialisiert hat. Die Anklageschrift geht unter anderem auf den Sommer 1944 ein, als mehr als hundert polnische Häftlinge und mindestens 77 sowjetische Kriegsgefangene in den Gaskammern des Konzentrationslagers ermordet wurden. Hunderte Juden wurden in Stutthof mit Gas getötet oder von SS-Männern erschossen. Viele der Häftlinge starben durch Hunger und Überarbeitung oder erfroren. Andere wurden erschlagen oder in den Elektrozaun gejagt. Viele weitere starben durch brutale medizinische Experimente wie die Injizierung von Benzin.

Die Staatsanwaltschaft hat in der Vorbereitung des Prozesses mehr als 1000 Zeugenvernehmungen und Dokumente aus anderen Prozessen durchgeschaut. Die Verteidiger von Johann R. haben eine Aussage ihres Mandanten angekündigt. Sie wollen aber noch ein rechtshistorisches Gutachten über die Zustände im KZ Stutthof abwarten.

Am ersten Prozesstag verlasen Anwälte der Nebenkläger persönliche Erklärungen von Überlebenden des KZ Stutthof und deren Angehörigen. So las Anwalt Cornelius Nester eine Erklärung der 89-jährigen Judy Meisel vor, die im Alter von 15 Jahren in Stutthof war und heute in Minneapolis (USA) USA lebt.

„Ich erlebte das Unvorstellbare, die Hölle“, heißt es darin. „Jeden Morgen ein Haufen Leichen, aufgestapelt vor den Baracken. Meine Mutter sah ich das letzte Mal, als wir nackt vor den Gaskammern standen. Stutthof, das war der organisierte Massenmord durch die SS, ermöglicht mithilfe der Wachmänner. Der Angeklagte sorgte zusammen mit anderen Wachmännern dafür, dass keiner aus der Hölle entkommen konnte. Er sorgte dafür, dass meine Mutter ermordet werden konnte. Und fast hätte er auch erfolgreich dazu beigetragen, dass ich ermordet wurde.“

Für sie bedeute dieses Strafverfahren Gerechtigkeit, „und es bringt späte Gerechtigkeit für meine ermordete Mutter“. Judy Meisel möchte, dass Johann R. Verantwortung dafür übernimmt, „dass er mitgeholfen hat bei diesem unvorstellbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit, dass er mitgeholfen hat, meine geliebte Mutter zu ermorden“.

Wie auch schon in ähnlichen Prozessen davor geht es den meisten Nebenklägern weniger darum, dass die inzwischen sehr alten Angeklagten noch eine hohe Strafe erhalten und ins Gefängnis müssen, sondern dass die unglaublich brutalen Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes vor Gericht kommen und verurteilt werden. Sie wollen, dass nicht in Vergessenheit gerät, was vor über siebzig Jahren passiert ist, und dass bekannt wird, was ihnen und ihren Angehörigen angetan wurde.

Die Prozesse gegen ehemalige SS-Männer, die sich in den Vernichtungslagern der Nazis der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht haben, finden deswegen so spät statt, weil die deutsche Justiz in der Nachkriegszeit kaum Interesse an der Verfolgung der Naziverbrechen und ihrer Täter und Helfershelfer gezeigt hatte.

Frühere Bemühungen, Verantwortliche an den grausamen und massenweisen Verbrechen in den Konzentrationslagern vor Gericht zu bringen, wurden oftmals verhindert oder niedergeschlagen. Von den 6500 SS-Leuten des Vernichtungslagers Auschwitz, die den Krieg überlebt hatten, wurden in der Bundesrepublik gerade 29 verurteilt, in der DDR waren es etwa 20.

Ein wichtiger Grund dafür war der fast nahtlose Übergang von deutschen Juristen, Richtern und Staatsanwälten mit Nazivergangenheit in den Justizapparat der Bundesrepublik. Eine wirkliche Aufarbeitung und Abrechnung mit den Verantwortlichen für die monströsen Verbrechen der Nazidiktatur hat es in Deutschland nie gegeben.

Jahrzehntelang mussten SS-Schergen, die in den Konzentrationslagern tätig waren, konkrete Morde an bestimmten Personen nachgewiesen werden, damit es überhaupt zu einer Anklage kam, was sich mangels überlebender Zeugen als schwierig bis unmöglich erwies. Das änderte sich erst mit dem Demjanjuk-Prozess, der im Mai 2011 mit der Verurteilung des Angeklagten zu Ende ging. Seither kann jeder, der in irgendeiner Form an systematischen Tötungen in Konzentrationslagern beteiligt war, der Beihilfe zum Mord angeklagt werden. Nach diesem Urteil wurde erstmals systematisch nach noch lebenden SS-Leuten gesucht, die am Holocaust beteiligt waren.

Im Jahr 2015 folgte dann unter anderen der Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Oskar Gröning, der in Auschwitz tätig war. Grönings Verurteilung wurde im September 2016 vom Bundesgerichtshof bestätigt. Seine Haft hat er dennoch nicht mehr angetreten. Gröning verstarb im März diesen Jahres im Alter von 96 Jahren in einem Krankenhaus.

Das Konzentrationslager Stutthof ist weniger bekannt als die Lager in Auschwitz, Buchenwald oder Dachau. Es wurde am 2. September 1939 eröffnet, einen Tag nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen, und bestand bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Es wurde erst am 9. Mai 1945, einen Tag nach Kriegsende von Soldaten der Roten Armee befreit.

Zunächst wurden in Stutthof zivile Gefangene eingesperrt – polnische Intellektuelle, Lehrer, Abgeordnete und Akademiker aus Danzig. Mit Beginn des Polenfeldzugs begann die Gestapo mit Massenverhaftungen. Die Häftlinge mussten unter brutalsten Bedingungen Gebäude auf dem Lagergelände errichten. Von mehreren hundert Danziger Juden, die bis Mitte September 1939 hier eingesperrt waren, starben die meisten innerhalb weniger Wochen.

Aufgrund seiner frühen Entstehung gilt Stutthof als das erste Konzentrationslagr außerhalb der deutschen Grenzen. Am 29. Januar 1942 erhielt es den Status der Stufe I, den es bis Kriegsende behielt. Mit der Eingliederung in das Konzentrationslagersystem wurden die Voraussetzungen geschaffen, die Gefangenen in die Kriegswirtschaft des Deutschen Reichs einzubeziehen. Der wirtschaftliche Gewinn, den die SS aus der Ausbeutung bzw. „Vermietung“ von Häftlingen an private Unternehmen und Landwirtschaftsbetriebe zog, betrug für die Jahre 1942 bis 1944 schätzungsweise 10 Millionen Reichsmark.

Anfang 1943 wurde direkt neben dem alten Lager das neue Konzentrationslager, das mit einem Elektrozaun gesichert war, errichtet. Das Lager hatte 39 Außenlager. Die größten waren Thorn (Torun) und Elbing (Elblag) mit je etwa 5000 jüdischen Frauen. Anfang 1944 wurde eine Gaskammer errichtet. Mindestens 65.000 Menschen, vor allem Juden, wurden in Stutthof ermordet.

Bis zum Ende der Naziherrschaft wurden die brutalsten Verbrechen begangen, einschließlich Massenerschießungen durch SS-Leute am 31. Januar 1945 am Strand von Palmnicken, als rund 3000 jüdische Häftlinge mit Maschinengewehrfeuer in die Ostsee gehetzt oder erschossen wurden. Nur 15 Menschen haben dieses Massaker überlebt.

Max Pauly, der vom 1. April 1940 bis 1942 Kommandant des KZ Stutthof war, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit dreizehn anderen Verantwortlichen für das Konzentrationslager Neuengamme, seiner nächsten Kommandantenstelle, vor ein britisches Kriegsgericht in Hamburg gestellt, zum Tode verurteilt und 1946 gehängt.

Sein Nachfolger in Stutthof, Paul Werner Hoppe, wurde 1957 in Bochum zu neun Jahren Haft verurteilt, von denen er nur drei Jahre verbüßte. Er wurde 1960 aus dem Gefängnis entlassen und führte bis zu seinem Tod im Jahr 1974 ein unauffälliges Leben in Bochum. Theodor Meyer, Hoppes Adjutant, wurde im zweiten Stutthof-Prozess am 31. Oktober 1947 zum Tode verurteilt und am 22. Oktober 1948 durch Hängen in Gdansk (Danzig) hingerichtet.

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