Trotzkis Broschüre von 1923 über Rote Armee in Russland neu aufgelegt

Prikaz No. 279 Revvoensovieta “K piatiletiiu Krasnoi Armii”. S illiustratsiiami Yuriia Annenkova. Unichtozhennoe izdanie 1923 goda. Reprint. Portrety. Vospominanniia, Statiia i kommentarii I. V. Obukhova-Zelin’ska, red: A. A. Rossomakhin, Sankt-Peterburg 2019.

Vor einigen Wochen erschien in Russland zum ersten Mal der Nachdruck einer äußerst seltenen Broschüre: „Befehl Nr. 279: Zum fünfjährigen Bestehen der Roten Armee“, herausgegeben vom Revolutionären Militärrat (Rewwojensowjet), dem zu dieser Zeit Leo Trotzki vorstand. Sie enthält Illustrationen des russischen futuristischen Malers Juri Annenkow.

Dem Reprint der Broschüre ist ein Begleitband beigefügt, der einen Essay der leider im letzten Jahr verstorbenen russisch-polnischen Kunsthistorikerin Irina Obuchowa-Zielińska, sowie Annekows Erinnerungen aus diesem Zeitraum an Trotzki enthält. In dem Band finden sich zudem Dutzende von Bildern, von denen einige zuvor niemals veröffentlicht wurden.

Cover des Reprints der Broschüre von 1923

Die Wiederherausgabe dieser Broschüre ist ein bedeutsames Ereignis. Nach fast hundert Jahren wird ein wichtiges historisches Dokument wieder zugänglich, dessen Schicksal beispielhaft aufzeigt, wie brutal der Stalinismus in der Sowjetunion den authentischen Marxismus und die Politik Leo Trotzkis und der Linken Opposition unterdrückte. Sie wurde, wie zahllose weitere Dokumente, die mit dem Namen Trotzkis und der Linken Opposition in Verbindung standen, von den Stalinisten vernichtet, so dass heute weltweit nur noch eine Handvoll Exemplare existieren. (Eine der letzten Originalausgaben von „Befehl Nr. 279“wurde Ende 2018 für 1,75 Millionen Rubel verkauft, umgerechnet etwa 24.765 Euro.)

Obuchowa-Zielińska begründete die Veröffentlichung der Broschüre mit den Worten: „Die Geschichte der UdSSR enthält nach wie vor viele Geheimnisse. Zu viele Dokumente und Publikationen wurden zerstört, zu viele Menschen starben verfrüht, ohne dass sie Zeugnisse ihrer Handlungen hinterlassen hätten. Das Wiederauftauchen vieler Tatsachen und die Vorstellungen, die sich auf dieser Grundlage über unsere (in einem historischen Sinne) jüngste Vergangenheit bilden, erfordern hartnäckige Forschung und ein sorgfältiges Studium dessen, was noch erhalten ist. Ich würde es begrüßen, wenn die vorliegende Publikation als Beitrag zum Prozess der Erkenntnis und beim Ausmerzen ‚weißer Flecken‘ der Geschichte der frühen sowjetischen Periode dienen würde.“

Diese „weißen Flecke“ sind das direkte Ergebnis der stalinistischen Unterdrückung der linken Opposition. In ihrem Essay zur Geschichte der Broschüre betonte Obuchowa-Zielińska: „Die in den späten 1920er und insbesondere während der 1930er Jahre durchgeführte massenhafte Beschlagnahme von Ausgaben aus Büchereien, die mit dem Namen Leo Trotzkis und anderer Mitglieder der ‚linken Opposition‘ in Zusammenhang standen, führte zu einer Situation, in der Bücher und Agitationsbroschüren mit pädagogischem oder einfach nur praktischem wirtschaftlichem Charakter zu bibliographischen Raritäten wurden. In vielen Fällen haben Angestellte der Institutionen und Besitzer privater Bibliotheken sie einfach verbrannt, um allen Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen.“

Eine unbekannte Anzahl an Dokumenten und Dutzende, wenn nicht hunderte Bücher im Umfang tausender Seiten, deren Verfasser Linksoppositionelle waren, konnten, wenn überhaupt, lediglich in einer Handvoll Ausgaben überdauern und sind bis auf den heutigen Tag weitestgehend unbekannt und unerforscht.

Doppelseite der wiederaufgelegten Broschüre

Insbesondere die Geschichte des Revolutionären Militärrats (Rewwojensowjet) in der Bürgerkriegsepoche ist kaum erforscht. Wie kaum eine andere Institution der frühen Sowjetregierung wurde sie mit Trotzkis Namen assoziiert, der sie begründet und bis zum Jahre 1925 geleitet hatte. Ebenso war sie mit den Namen vieler führender Linksoppositioneller der 1920er Jahre verbunden, darunter Nikolai Iwanowitsch Muralow, Ivar Tenisowitsch Smilga, Efraim Markowitsch Skljanski und viele andere. Fast alle ihre Mitglieder wurden im Großen Terror von 1936–1938 erschossen.

„Trotzki wurde von allen Seiten und auf jede Art und Weise öffentlich angeprangert, wonach sein Name einfach tabu war, wie auch die Namen vieler weiterer Mitglieder des Revolutionären Militärrates und die Institution selbst“, schreibt Obuchowa-Zielińska. Erst im Jahr 1991, kurz vor der Auflösung der Sowjetunion, erschien das erste Buch mit biographischen Skizzen aller Mitglieder des Revolutionären Militärrats auf Russisch.

Die jetzt reproduzierte Broschüre war anlässlich des fünfjährigen Gründungsjubiläums der Roten Armee erschienen. Der Bürgerkrieg, ausgelöst durch die Intervention von 19 ausländischen Armeen mit dem Ziel, die in der Oktoberrevolution 1917 an die Macht gekommene bolschewistische Regierung zu stürzen, war gerade zu Ende gegangen. An Stelle der 5,3 Millionen Männer, die mobilisiert worden waren, bildeten nur noch 600.000 das stehende Heer, während der sowjetische Staat weiterhin ein Milizsystem aufbaute. Der Krieg hatte, nicht zuletzt durch Hungersnöte, Millionen Menschenleben gefordert, und er ging mit unermesslichem Leid und Zerstörung einher. Der Befehl Nr. 279 des Rewwojensowjet beschrieb die enormen Nöte, die der Krieg nach sich zog, mit den folgenden Worten:

„Die Jahre des Kampfes und des Ruhms waren zugleich Jahre des Mangels und der Not. Obwohl die halbverhungerten Arbeiter in der Militärindustrie alles gaben, was sie hatten, um die roten Kämpfer zu versorgen, gab es Knappheit bei Allem, vom Brot bis zu Patronen. Die Truppen, die bereits für ihre Siege gefeiert wurden, marschierten barfuß. Positionen, die mit Blut errungen worden waren, mussten häufig aufgegeben werden, weil es nichts gab, womit das Feuer des Gegners beantwortet werden konnte. Nur die Geduld und Opferbereitschaft der revolutionären Kämpfer ermöglichten den weiteren Kampf. Nur die Unterstützung der hart arbeitenden Massen garantierte den Sieg.“

Der Befehl schließt mit einem Aufruf an die Arbeiter, sich auf die Lehren der vergangenen Jahre zu stützen und auf kommende Kämpfe und mögliche Angriffe des Imperialismus vorbereitet zu sein. Er gründet, wie alle Schriften des obersten Militärkommandeurs aus diesem Zeitraum, fest auf der Perspektive der sozialistischen Weltrevolution.

„Die revolutionäre kommunistische Partei wächst überall heran. Doch die Bourgeoisie wird nirgends kampflos abtreten. Eher würde sie die gesamte Welt zerstören, als ihre Profite aufzugeben. Die Ausbeuter blicken mit Hass auf das einzige Land der Welt, in welchem die Arbeiterklasse herrscht. Sowjetrussland ist das Bollwerk der Weltrevolution … Die Sowjetrepublik steht bereits im sechsten Jahr ihrer Existenz, doch das Weltkapital weigert sich noch immer, dies anzuerkennen. Es hofft weiter auf einen günstigen Moment, ihr einen vernichtenden Schlag zu versetzen. Deshalb braucht die Rote Armee heute das arbeitende Russland – und auch die Weltrevolution braucht es nicht weniger dringend als in dem Augenblick, in welchem die Sowjetmacht das Licht der Welt erblickte. Junge Kämpfer! Die fünf vorangegangenen Jahre werden für Euch eine Schule großer Heldentaten sein. Lernt aus der Vergangenheit, bereitet Euch auf die Zukunft vor … Lernt! Werdet stärker! Reift heran! Bereitet Euch vor!“

Die Broschüre trägt die Unterschriften von Trotzki, seinem Stellvertreter beim Revolutionären Militärrat Efraim Skljanski, dem Vizekommandeur Sergei Kamenew sowie drei weiteren Mitgliedern des Rewwojensowjet: Stepan Danilow, Wladimir Antonow-Owsejenko und Pawel Lebedew, einem früheren Mitglied der zaristischen Armee, der sich der Revolutionsarmee angeschlossen hatte.

Unterschriften in der Broschüre

Wie Obuchowa-Zielińska erläuterte, waren in erster Linie diese Unterzeichnenden der Grund, warum die Stalinisten diese Broschüre vernichteten. Nach dem Ausschluss der Linken Opposition im Jahr 1927 aus der KPdSU und Trotzkis Ausweisung aus der UdSSR im Jahr 1929 wurde Trotzkis Name in der Sowjetunion praktisch tabuisiert. Der „Kampf gegen den Trotzkismus“ nahm, in den Worten von Obuchowa-Zielińska, „Formen sozialer Paranoia an: Sie suchen nach ‚einkodierten‘ Trotzki-Bildern in Verzierungen auf Schulheften. Die für den Druck seines Bildes in Zeitungen Verantwortlichen werden erschossen. Die geringste Verbindung zu Trotzki wird wie das schlimmste Verbrechen gehandhabt. Und aus dem Großteil der offiziellen Geschichte der UdSSR verschwindet er fast vollständig.“

Efraim Skljanski war ein besonders enger Mitarbeiter Trotzkis und befand sich unter den ersten, die im Kampf gegen die Linke Opposition angegriffen und aus ihren früheren Positionen entfernt wurden. Im Jahr 1925 ertrank er, erst 33-jährig, auf ungeklärte Weise in einem See im US-Bundesstaat Connecticut. Sergei Kamenew arbeitete während des Bürgerkrieges eng mit Trotzki zusammen und setzte seinen Aufstieg innerhalb der Militärränge bis in die 1930er Jahre fort. 1936 starb er an Herzversagen, doch wurde er während der Großen Säuberung posthum beschuldigt, an einer „militärisch-faschistischen Verschwörung“ beteiligt gewesen zu sein.

Stepan Stepanowitsch Danilow war seit den 1890ern Revolutionär und seit 1904 Bolschewik. Während des Bürgerkrieges stand er sowohl Lenin als auch Trotzki nahe. Im Jahr 1930 wurde er als „Trotzkist“ aus der Partei ausgeschlossen. Er wurde 1937 zum Tode verurteilt und starb kurz darauf in einem Lager.

Wladimir Alexandrowitsch Antonow-Owsejenko war legendär als Organisator mehrerer Aufstände während der Revolution von 1905 und half sowohl beim Juliaufstand sowie im Oktober 1917 bei der Ergreifung der Macht in Petrograd. Später kapitulierte er vor dem Stalinismus, wurde aber trotzdem 1937 verhaftet und 1938 erschossen.

Pawel Lebedew war der einzige, der den Repressionen entging. Er starb im Jahr 1933 eines natürlichen Todes.

Blick in den Ausstellungspavillon der UdSSR auf der Biennale von Venedig, 1924. In der Mitte: Annenkows Trotzki-Darstellung

Als die Broschüre 1923 produziert wurde, befand sich Trotzki, wie die Historikerin bemerkt, „auf dem Höhepunkt seiner Macht und Popularität“. Anlässlich der Fünfjahresfeier der Roten Armee hingen seine Porträts in allen Städten der Sowjetunion. Die kleine Stadt Gatschina bei Petrograd (welches bald darauf Leningrad hieß – das heutige St. Petersburg) wurde ihm zu Ehren in „Trotzk“ umgetauft.

Die Illustrierung der Broschüre selbst war die – eher spontane – Begleiterscheinung eines viel größeren Projektes: Der Rewwojensowjet bestellte bei dem futuristischen Maler Juri Annenkow Porträts von Trotzki und verschiedenen weiteren Führern der Revolution und des Bürgerkrieges für eine Ausstellung der Roten Armee. Diese Ausstellung fand im Herbst 1923 im Moskauer Museum der Roten Armee und Flotte statt. Die Porträts wurden zudem im Jahr 1924 auf der Biennale in Venedig ausgestellt.

Annenkows Trotzki-Porträt

Annenkows Trotzki-Porträt wurde seitdem sehr bekannt. Die anderen Porträts, die meisten von ihnen weit weniger bekannt, wurden im Band wiederabgedruckt. Zu ihnen zählen Nikolai Muralow (1877–1937), Efraim Skljanski (1892–1925), Wladimir Antonow-Owsejenko (1883–1938), Karl Radek (1885–1938), Grigori Sinowjew (1883–1936), Michail Tuchatschewski (1893–1937), Anatoli Lunatscharski (1875–1933) und Kliment Woroschilow (1881–1961).

1925 schuf Annenkow auch ein Porträt von Wjatscheslaw Polonski, der als Leiter der Redaktions- und Verlagskommission der Roten Armee 1923 die Werke von Annenkow offiziell in Auftrag gegeben hatte. In den 1920er Jahren war Polonski zusammen mit dem trotzkistischen Literaturkritiker Alexander Woronski einer der führenden Literaturverleger in der Sowjetunion.

Er arbeitete in den Redaktionen von Zeitschriften wie Novyi mir (Neue Welt) und Pechat' i revoliutsiia (Presse und Revolution). Mit Ausnahme des Porträts von Woroschilow, der zu einem wichtigen Stalinisten wurde und die Säuberungen überlebte, wurden praktisch alle diese Bilder in der Sowjetunion verboten. Als solche historischen Materialien in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre langsam wieder veröffentlicht wurden, stellt Obuchowa-Zielińska fest, wurde klar, dass fast niemand in der Sowjetunion wusste, wie Trotzki ausgesehen hatte.

Annenkows Porträt vonWjatscheslaw Polonski

Zusätzlich zu Obuchowa-Zielińskas Essay enthält der Band auch Annenkows Erinnerungen an seine Arbeit für den Revolutionären Militärrat und seine Begegnungen mit Trotzki, die in den 1960er Jahren verfasst wurden. Sie sind ein wichtiges historisches Dokument über diesen Zeitraum und insbesondere über Leo Trotzki, dem Annenkow mit großer Bewunderung und Respekt begegnete. Annenkow verbrachte viele Stunden mit Trotzki, um dessen Porträt anzufertigen. Mitte der 1920er Jahre verließ er die Sowjetunion nach Paris, wo er in Kontakt mit Christian Rakowski und Leonid Krassin verblieb, beides wichtige Angehörige der Linken Opposition, sowie mit dem französisch-russischen Sozialisten Boris Souvarine, ebenfalls einem Gegner des Stalinismus.

Über seine erste Begegnung mit Trotzki schrieb Annenkow das Folgende:

„Wir setzten uns. Trotzki begann über Kunst zu sprechen. Aber … nicht über russische Künstler. Er sprach über die ‚Pariser Schule‘ und die französische Kunst im Allgemeinen. Er erwähnte die Namen von Matisse, Derain, Picasso, wechselte dann aber zunehmend zu einer Erörterung der Geschichte.

Besonders interessant für mich waren Trotzkis recht spitze Bemerkungen, dass die Französische Revolution niemals einen Ausdruck in der Kunst gefunden habe …: ‚Porträts, Landschaften, Stillleben, Interieur, Liebe, Alltagsleben, Krieg, historische Ereignisse, Partys, Gier, Tragödien, selbst Wahnsinn (man denke bloß an Géricaults Porträt eines Irrsinnigen) – all dies fand seine Widerspiegelung in den schönen Künsten. Die Revolution und die Kunst hingegen: diese Verbindung hat bisher noch nicht stattgefunden.‘

Ich wandte Trotzki gegenüber ein, dass die Revolution in der Kunst vor allen Dingen eine Revolution der Ausdrucksformen sei. ‚Sie haben recht‘, antwortete Trotzki, ‚doch dies ist eine lokale Revolution der Kunst selbst, zudem eine verdeckte, dem gewöhnlichen Betrachter nicht zugängliche. Aber ich spreche über die Reflexion der allgemeinen, sozialen Revolution in den sogenannten schönen Künsten, die seit tausenden von Jahren existieren … Die Gemälde, die sowjetische Künstler jetzt herstellen und in denen sie die Spontaneität der Revolution, das revolutionäre Pathos, abzubilden versuchen, sind miserabel und nicht nur der Revolution unwürdig sondern der Kunst selbst‘ …“

Weiter erinnert sich Annenkow:

„Eines Tages, als ich länger als üblich gearbeitet hatte, bot Trotzki mir an, in seinem ‚Hauptquartier‘ zu übernachten. Ich akzeptierte … Nachdem ich eine Zeitung gelesen hatte, um leichter einzuschlafen, schaltete ich die Lampe aus und war schon halb eingedöst, als ich plötzlich in meiner Schläfrigkeit ein nicht zuzuordnendes, gedämpftes Geräusch wahrnahm. Ich öffnete die Augen und sah, dass Trotzki, eine kleine Taschenlampe in der Hand, den Raum betreten hatte und sich dem Schreibtisch näherte. Doch ballerinagleich ‚auf Zehenspitzen‘ zu schleichen, war er nicht gewohnt; er verlor das Gleichgewicht, schwankte, balancierte mit seinen Armen und machte mit vieler Mühe einen Schritt nach dem anderen. Er nahm einige Dokumente vom Schreibtisch und schaute zu mir herüber: Meine Augen beinahe geschlossen, markierte ich das Aussehen eines Schlafenden. Trotzki schlich unter denselben Anstrengungen wieder aus dem Raum und schloss leise die Tür. Man muss unter den Bedingungen jener Jahre in Russland gelebt haben, um zu verstehen, wie unerwartet ein solches Zartgefühl bei dem Führer der Roten Armee und der ‚permanenten‘ Revolution war.“

Annenkow freundete sich auch mit Skljanski an, „Trotzkis rechter Hand“. Er zitierte aus Trotzkis „Mein Leben“ die Beschreibung, die Trotzki von dem außergewöhnlichen jungen Revolutionär gibt:

„Neben anderen Parteiarbeitern fand ich im Kriegsamt den Militärarzt Skljanski vor. Trotz seiner Jugend – er war im Jahr 1918 kaum 26 Jahre alt – zeichnete er sich aus durch Sachlichkeit, Beharrlichkeit und durch die Fähigkeit, Menschen und Umstände richtig einzuschätzen, das heißt durch jene Eigenschaften, die einen Administrator machen. Ich beriet mich mit Swerdlow, der in solchen Fragen unersetzlich war, und wählte Skljanski zu meinem Vertreter. Ich hatte später nie Ursache, dies zu bereuen. […] Wenn man jemand mit dem Lazare Carnot der Französischen Revolution [bekannt als ‚Organisator des Sieges‘ in der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen, CW] vergleichen kann, so ist es Skljanski. Er war stets pünktlich, unermüdlich, wachsam, immer auf dem Laufenden. […] Man konnte in der Nacht um zwei, um drei Uhr anrufen, Skljanski war immer im Kommissariat am Schreibtisch. ‚Wann schlafen Sie?‘ fragte ich ihn. Er antwortete mit einem Scherz.“ [Leo Trotzki: „Mein Leben“, Berlin 1990, S. 321]

Annenkow fügte hinzu: „Abgesehen von den hier aufgezählten Qualitäten war Skljanski ein charmanter Genosse und sehr gebildeter Mann, der die Künste liebte. Obwohl er mit Arbeit überladen war, versäumte er niemals eine Ausstellung oder die Premiere einer Oper oder eines Konzerts.”

Annenkows Porträt von Efraim Skljanski

Die Broschüre und Annenkows Erinnerungen illustrieren recht kraftvoll, wieviel Respekt und Popularität Trotzki und viele spätere Mitglieder der Linken Opposition in den ersten Jahren nach der Revolution und kurz vor Ausbruch der innerparteilichen Kämpfe genossen.

Dieser Band, der so viel wichtiges Material enthält, macht deutlich, was für dramatische politische Veränderungen in der Sowjetunion innerhalb weniger Monate – vom Herbst des Jahres1923 bis zum Frühling 1924 – vor sich gingen. Allerdings erklärt er weder den politischen Inhalt, noch die Gründe für diesen Wandel. Obwohl Obuchowa-Zielińskas Essay ihren Respekt für Trotzki und für seinen Kampf gegen den Stalinismus, sowie ihr Engagement für die Wiederherstellung der historischen Wahrheit bezeugt, kann sie weder ihre politische Grundlagen noch ihre Entwicklung und Ergebnisse erklären.

Die enorme Geschwindigkeit und Intensität, mit welcher der Stalinismus erstarkte, sowie sein Kampf gegen den Trotzkismus können nicht verstanden werden, ohne den Einfluss zu berücksichtigen, den die verpasste deutsche Revolution vom Herbst 1923 hierauf nahm: eine Revolution, von der weithin erwartet wurde, dass sie siegreich sein würde, und die eine Million sowjetischer Männer veranlasste, sich freiwillig in die Rote Armee einzuschreiben, um dem „Roten Oktober“ zu Hilfe zu eilen, sobald die deutsche Arbeiterklasse die Macht ergreifen würde. Die unrichtige Linie, die die Komintern unter dem erheblichen Einfluss der Stalin-Fraktion in Deutschland verfolgte, zusammen mit ihrer falschen Politik in den inneren wirtschaftlichen und politischen Fragen, schuf die Situation, in der die Linke Opposition gegründet wurde, die im Oktober 1923 mit der „Erklärung der 46“ erstmals in Erscheinung trat.

Leo Trotzki und Juri Annenkow, Reprint in der Broschüre (aus Privatsammlung)

Um Trotzki und seine Unterstützer zu isolieren, arbeitete Josef Stalin eng mit Grigori Sinowjew und Lew Kamenew zusammen. Sie bildeten gemeinsam die sogenannte „Troika“ im Politbüro der Partei. Ihr Angriff auf Trotzki wurde durch Lenins Tod Anfang des Jahres 1924 erleichtert. Im Herbst 1924, nur wenige Monate nach den in diesem Band beschriebenen Ereignissen, wurden die Attacken gegen Trotzki offener, und es kam zu der sogenannten Literarischen Diskussion über Trotzkis „Lehren des Oktobers“. In diesem Werk verglich Trotzki den innerparteilichen Widerstand gegen die Machtergreifung des Jahres 1917 mit der fehlerhaften Linie, die die Komintern im Jahr 1923 gegenüber Deutschland einnahm.

Die Angriffe auf Trotzki konzentrierten sich auf die Theorie der permanenten Revolution, den theoretischen Ausdruck des Programms der Weltrevolution, welches der Machtergreifung der Bolschewiki 1917 zugrunde lag. Gegen dieses Programm rebellierte ein erheblicher Teil der Parteiführung, angeführt von Stalin. Ihr Kampf unter dem Banner des nationalistischen Slogans vom „Sozialismus in einem Lande“ drückte die sozialen und politischen Interessen einer Bürokratie aus, die unter Bedingungen heranwuchs, als der Arbeiterstaat sowohl durch die Rückständigkeit der Wirtschaft einer überwiegend bäuerlich geprägten Bevölkerung, als auch durch die unerwartet lange Isolation von der Welt durch die imperialistische Einkreisung schwer belastet war.

Obuchowa-Zielińska schreibt, dass Trotzki und andere Linksoppositionelle aufgrund der „Trägheit“ der Stalin-Fraktion Mitglieder des Zentralkomitees der Partei verblieben, und dass die meisten „einfachen Sowjetbürger“ den Umfang der fundamentalen Veränderungen in der Führung des Landes nicht verstanden.

Annenkows Porträt von Wladimir Antonow-Owsejenko

Tatsächlich aber war der Kampf noch nicht entschieden. Die ganzen 1920er Jahre hinweg verblieben die Linke Opposition und Trotzki eine zwar belagerte und unterdrückte, aber bedeutende Kraft des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens in der Sowjetunion. Hinzu kam, dass sie durch ihre umfassende revolutionäre Bilanz ein hohes Ansehen unter großen Teilen der Arbeiterklasse und Intelligenz genossen. Unter diesen Voraussetzungen war es für die Stalin-Fraktion alles andere als einfach, die Linksoppositionellen aus einflussreichen Positionen zu entfernen. Dies, trotz übelster Denunziationen und der Tatsache, dass jegliche Diskussion der oppositionellen Standpunkte zu aktuellen politischen Themen verboten wurde.

An führenden Hochschulen wie dem Institut der Roten Professoren, welches unter direkter Leitung des Zentralkomitees Akademiker und marxistische Theoretiker ausbildete, bewahrten Linke Oppositionelle bis zum Jahr 1925 einflussreiche Positionen und studentische Unterstützung. Im Komsomol, der Jugendorganisation der Partei, war die Linke Opposition besonders stark. Als im Jahr 1925 eine revolutionäre Bewegung der chinesischen Bauern und Arbeiter ausbrach, wuchs der Einfluss der Linken Opposition sowohl unter Industriearbeitern als auch Teilen der Intelligenzja vorübergehend erheblich an.

Die zunehmende Isolierung der Trotzkisten und das harte Durchgreifen der stalinistischen Fraktion Ende 1927 hingen zusammen mit neuen Niederlagen der Weltrevolution, vor Allem dem Scheitern des britischen Generalstreiks 1926 und der Niederlage der Chinesischen Revolution 1925–1927. Beides war das Ergebnis der opportunistischen Politik der Komintern unter Führung der Stalinisten. Im Jahr 1933 verhalf die Komintern-Linie Hitler in Deutschland zur Macht, ohne dass ein einziger Schuss gefallen wäre. Als nach 1933 selbst innerhalb der Komintern keine Diskussion über diese katastrophale Politik stattfand, rief die internationale Linke Opposition zur Bildung der Vierten Internationale auf, und diese wurde schließlich im Jahr 1938 in Paris gegründet.

Heute fehlt in Russland jedes politische Verständnis dieser grundlegenden historischen Fragen, und der russische Staat hat einmal mehr eine bösartige Kampagne gegen Trotzki losgetreten. Umso mehr ist es von großer Bedeutung, dass ein Band wie der vorliegende publiziert worden ist.

Annenkows Porträt von Grigori Sinowjew

Vor anderthalb Jahren wurden die bis dahin unbekannten Manuskripte der Linken Opposition, die die Häftlinge im Politisolator von Werchneuralsk angefertigt hatten, wiederentdeckt und in Russland publiziert. Diese Texte haben Zehntausende Leser gefunden. Auch sind in den vergangenen Monaten mehrere ernstzunehmende neue Bücher zum Werk der revolutionären Literaturkritiker Alexander Woronski und Wjatscheslaw Polonski erschienen.

Erst vor wenigen Monaten wurden Woronskis halbfiktive Memoiren „Za zhivoi i mertvoi vodoi“ (Auf der Suche nach dem Wasser des Lebens und des Todes) wiederaufgelegt. (Eine gekürzte englische Ausgabe liegt unter dem Titel „Waters of Life and Death“, 1936 [Nachdruck 1975] vor.) Das Buch fand eine beachtliche Leserschaft und wurde zu einem der bestverkauften Bücher in einem bekannten Moskauer Buchladen. Im Ganzen betrachtet signalisieren diese Publikationen einen willkommenen Wandel in der Einstellung gegenüber der entscheidenden Frage der historischen Wahrheit über Trotzki und die Linke Opposition innerhalb wichtiger Teile der Intelligenzja und der Arbeiterklasse in Russland und in Osteuropa.

Die russische Ausgabe kann hier bestellt werden.

Das Werk von David North, „Verteidigung Leo Trotzkis“, kann hier auf Russisch und hier auf Deutsch bestellt werden.

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