Reaktion auf Jom-Kippur-Anschlag: Große Solidarität gegen Faschismus und rechte Gewalt

Das Attentat in Halle, bei dem am vergangen Mittwoch ein schwer bewaffneter Rechtsradikaler versuchte in die Synagoge einzudringen, um am Jom Kippur-Feiertag einen Massenmord an Juden zu begehen, hat in der Bevölkerung Entsetzen und eine Welle der Solidarität gegen rechte Gewalt ausgelöst.

Am Freitag demonstrierten in praktisch allen deutschen Städten tausende Menschen gegen Faschismus und rechten Terror. Vor den Synagogen entstanden ganze Blumenmeere, und Grußbotschaften wie „Wehret den Anfängen“ oder: „Gemeinsam gegen rechts“ wurden geschrieben. Auch vor Moscheen blieben Passanten in Gruppen stehen, und in Halle versammelten sich Hunderte, um rings um die Synagoge eine Menschenkette zu bilden.

Die antirassistische Initiative #unteilbar, die vor einem Jahr eine Großdemonstration gegen Ausländerfeindschaft, AfD-Hetze und die rechte Politik der Bundesregierung organisierte, an der sich fast ein viertel Million Menschen beteiligten, ruft für den morgigen Sonntag zu einer Protestkundgebung auf dem August-Bebel-Platz in Berlin-Mitte auf.

Im Aufruf heißt es: „Rechter Terror bedroht unsere Gesellschaft!“ Der Attentäter von Halle sei kein Einzeltäter. Sein Terroranschlag stehe im Zusammenhang zu „gefestigten militanten Nazistrukturen, dem NSU-Netzwerk und rechten Netzwerken in Sicherheitsbehörden“. Dazu komme „mangelnder Aufklärungswille“ der Polizei und „eine nicht aufhörende Bagatellisierung der rechten Gefahr“ in Politik und Medien.

Die große Solidarität mit der jüdischen Bevölkerung und Mobilisierung gegen Rechts widerlegt die Behauptung, der Aufstieg der AfD und zunehmende Rechtsterrorismus sei das Ergebnis einer Rechtsentwicklung der Bevölkerung. In Wirklichkeit findet das Gegenteil statt. Angesichts einer linken Stimmung und wachsendem Widerstand gegen militärische Aufrüstung, Einschränkung demokratischer Rechte und neuen Polizeigesetzen, werden im Staatsapparat, rechte und neofaschistische Seilschaften aufgebaut. Die AfD-Kader stammen aus den etablierten Parteien und werden von Politik und Medien unterstützt und gefeiert.

Der Attentäter von Halle, Stephan Balliet (27) entwickelte sich in diesem Milieu. Am Freitag legte er vor einem Ermittlungsrichter in Karlsruhe ein Geständnis ab. Darin gab er offen zu, aus rassistischen, rechtsextremistischen und antisemitischen Motiven getötet zu haben. Laut Bundesanwaltschaft wird gegen ihn jetzt Anklage wegen zweifachen Mordes und neunfachen Mordversuchs erhoben.

In Wirklichkeit müsste er wegen weit über fünfzigfachen Mordversuchs angeklagt werden. Wie man heute weiß, hat Balliet am vergangen Mittwoch versucht, in der Synagoge von Halle ein blutiges Massaker anzurichten und so viele Juden wie möglich zu töten. Als ihm das nicht gelang, erschoss er kaltblütig eine Passantin auf der Straße und wenig später einen Bauarbeiter in einem Dönerimbiss. Weitere Passanten verletzte er schwer.

Immer wieder beteuern die Behörden, dass Balliet ihnen bisher völlig unbekannt gewesen sei und als Einzeltäter gehandelt habe. Sicher ist jedoch, dass sich Stephan Balliet im Internet in weltweit vernetzten rechtsterroristischen Kreisen bewegte. Während seiner Vernehmung soll er ausgesagt haben, eine „unbekannte Person“, mit der er im Internet kommuniziert habe, habe ihm Geld überwiesen.

Gezielt filmte er den gesamten Hergang seiner kaltblütigen Morde und Mordversuche und streamte alles auf der Gaming-Plattform Twitch. Obwohl sein Video dort wieder gelöscht worden ist, konnten rechtsextreme Chatgruppen es weiterverbreiten. Balliet wandte sich darin an eine weltweite rechtsextreme Community, die er auf Englisch ansprach.

Offensichtlich imitierte er frühere Massenmörder wie Brenton Tarrant in Neuseeland oder Anders Breivik in Norwegen. Breivik hatte im Jahr 2011 mehrere Dutzende Jugendliche und Kinder der Norwegischen Arbeiterjugend brutal ermordet. Brenton Tarrant hatte am 15. März in Christchurch 50 Menschen in zwei Moscheen erschossen, Dutzende weitere verletzt und alles live gestreamt. Wie diese beiden, verfasste auch Balliet ein Manifest, das er ins Internet stellte. Darin hielt er folgende Ziele fest: „Juden zu töten … eine Synagoge und eine Moschee niederzubrennen, einen Kommunisten zu töten, Personen zu enthaupten …“. Als Zielobjekt habe er auch eine Moschee oder ein Antifa-Zentrum ins Auge gefasst.

Ein Teil von Balliets Ausrüstung (Helm, schusssichere Weste) stammte offenbar aus Altbeständen der Bundeswehr und der Polizei. Gut möglich, dass es gerade in der Bundeswehr war, wo Balliet seine ersten Kontakte zur rechten Szene geknüpft hatte. Wie mittlerweile bekannt, leistete er 2010 und 2011, kurz vor Abschaffung der Wehrpflicht, einen sechsmonatigen Wehrdienst beim Panzergrenadierbataillon 401 in Mecklenburg-Vorpommern, wo er jedenfalls Waffen- und Schießkenntnisse erwarb.

Während Hunderttausende schockiert reagieren und ihre spontane Solidarität mit den Opfern ausdrücken, ergehen sich die Politiker in grenzenloser Heuchelei. Mit unglaubwürdigen Beteuerungen über ihre angebliche Betroffenheit versuchen sie von ihrer eigenen Verantwortung abzulenken.

Doch die zentrale politische Verantwortung der Bundesregierung für diese Bluttat ist unübersehbar. Seit Jahren setzt die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD die fremdenfeindliche Politik der AfD um, von der sie sich jetzt fromm zu distanzieren versucht. Systematisch rüstet sie die Bundeswehr für den nächsten großen Krieg auf, und die vielen Dutzend Milliarden Euro, die sie dafür benötigt, presst sie der Arbeiterklasse in Form immer neuer Sparprogramme ab. Um den sozialen Widerstand zu kontrollieren, versucht sie die Bevölkerung durch Nationalismus und Ausländerfeindlichkeit zu spalten und beispielsweise gegen Moslems aufzuhetzen.

Erst am Vorabend des terroristischen Anschlags von Halle hatte das Innenministerium, dem Seehofer vorsteht, erneut eine Sammelabschiebung mit 44 Männern in das kriegszerrissene Afghanistan angeordnet. Es ist der bisher 28. solche Charterflug, der am Mittwoch in Kabul landete. Seehofer hat auch die berüchtigten Ankerzentren einrichten lassen, in denen Menschen inhaftiert werden, ohne dass sie das geringste Verbrechen begangen haben.

Die jahrzehntelange rechte Politik hat zur Ausbreitung eines gefährlichen rechtsradikalen Netzwerks in Polizei, Bundeswehr und Geheimdienst geführt. Das politische Aushängeschild dieses „Staats im Staat“ ist die AfD, die in wachsendem Maß den politischen Ton angibt. Gleichzeitig wird an den Universitäten rechte Kriegspropaganda gefördert. Wer diese Politik kritisiert, der wird von der Regierung verfolgt und schikaniert. So hat der Verfassungsschutz die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP), unter Beobachtung gestellt und als „linksextremistisch“ denunziert, weil sie den Kapitalismus, den Nationalismus und die AfD ablehnt und für ein sozialistisches Programm gegen Faschismus und Krieg kämpft.

Die Motive des Attentäters von Halle erinnern auffällig an die Gruppe „Nordkreuz“, die durch besondere Grausamkeit auffällt. Die Gruppe hat Waffen, Munition und Vorräte gehortet und sich im Schießen trainiert, um politische Gegner, darunter Flüchtlingshelfer und „Vertreter des linken Spektrums“ umzubringen. In ihren Reihen sind Polizisten, Geheimdienstler und Bundeswehrsoldaten. Die rechtsextremen Verbindungen, die bis tief in den Staat hineinreichen, sind zuletzt bei dem faschistischen Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke deutlich geworden: Seine Mörder waren dem hessischen Verfassungsschutz seit Jahren bekannt.

Dies alles ist so offensichtlich, dass die Journalisten, die am Freitagabend das TV-Interview führten, Seehofer fragten, warum seine Regierung denn Hans-Georg Maaßen trotz seiner Nähe zur AfD fünf Jahre lang an der Spitze des Verfassungsschutzes behalten habe. Sie fragten, ob das nicht bedeute, dass der deutsche Staat „auf dem rechten Augen blind“ sei. Darauf verteidigte Seehofer Maaßen erneut. „Ich habe ihn niemals als rechtsradikal erlebt“, sagte der Innenminister, und er spielte das rechte Netzwerk im Staat herunter: „Die Anzahl der Fälle ist marginal. Da handeln wir konsequent.“ Dabei räumte Seehofer in der gleichen Sendung ein, dass 12.000 gewaltbereite Rechtsextremisten in Deutschland frei herumliefen, und dass sie sich durch „eine hohe Waffenaffinität und hohe Gewaltbereitschaft“ auszeichneten.

Seine Konsequenz daraus war, dass er „einige hundert zusätzliche Leute“ für das BKA und den Verfassungsschutz benötige, und er drohte, die Regierung werde auch die sozialen Medien wie Facebook und Co. viel schärfer kontrollieren. Mit den Worten: „Wir müssen in Deutschland lernen, dass die neuen Medien Hass verbreiten“, rechtfertigte er die Zensur der sozialen Medien.

Die Bundesregierung reagiert auf den Anschlag in altbekannter Manier: Sie verstärkt erneut ihre Aufrüstung eines autoritären Polizeistaats. Es ist diese Politik, die den Rechtsextremisten in die Hände arbeitet und ihnen Vorschub leistet.

Loading