Zum Gedenken an Wadim S. Rogowin

Wadim Rogowin starb am 18. September 1998 im Alter von 61 Jahren an Krebs. David North, der in den letzten fünf Lebensjahren Rogowins eng mit ihm zusammenarbeitete, würdigte den großen sowjetisch-russischen Historiker auf Gedenkveranstaltungen des Internationalen Komitees, die im Dezember 1998 in London und Berlin stattfanden.

Rogowins siebenbändige Buchreihe „Gab es eine Alternative zum Stalinismus?“, die das Ergebnis jahrzehntelanger Recherchen war, ist ein Meisterwerk der Geschichtsliteratur. Sie zeigt, dass es innerhalb der Sowjetunion und international eine entschlossene sozialistische Opposition gegen den Stalinismus unter der Führung von Leo Trotzki gab.

Gab es eine Alternative?

In diesem Sommer veröffentlichte der Verlag der Socialist Equality Party (US) Mehring Books den zweiten Teil der Buchreihe auf Englisch. Im Deutschen sind im Mehring Verlag bereits sechs Bände erschienen, die im vergangenen Jahr auch im E-Book-Format veröffentlicht wurden.

In seiner Würdigung von Rogowins monumentalem Werk sagte David North: „[Ein] entscheidendes Element von Wadims historischem Zyklus ist seine Interpretation des Konflikts zwischen dem stalinistischen Regime und der Linken Opposition als Zusammenstoß zweier unversöhnlicher gesellschaftlicher Prinzipien – des Prinzips der Gleichheit und des Prinzips der Ungleichheit.“

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Zum Gedenken an Wadim S. Rogowin (1937–1998)

Von David North, 17. Dezember 1998

Knapp drei Monate sind nun vergangen, seit Wadim Sacharowitsch Rogowin in den Frühstunden des 18. September 1998 starb. Jene, die ihn gut kannten, traf diese Nachricht als ein schwerer persönlicher Verlust. Obwohl wir seit mehr als vier Jahren gewusst hatten, dass er an einer unheilbaren Krebserkrankung litt, hatten wir uns nie mit dem unvermeidbaren Ausgang dieser Krankheit abfinden können. Wadims körperliche und geistige Lebenskraft hatte uns hoffen lassen, dass er alle Schwierigkeiten meistern werde. Immer wieder, wenn er ein weiteres Buch abgeschlossen oder einen Vortrag gehalten hatte, hatten wir erlebt, wie Wadim die pessimistischen Prognosen der Ärzte widerlegte. Er schien den Krebs durch bloße Willenskraft in Schach halten zu können.

Zu Beginn diesen Jahres war Wadim nach Australien gereist, um an einem internationalen Symposium zum Thema „Grundprobleme des Marxismus im zwanzigsten Jahrhundert“ teilzunehmen, das vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale einberufen worden war. Als er nach einer mehr als 24stündigen Reise eintraf, erschraken wir alle über sein Aussehen. Die Ergebnisse der medizinischen Untersuchungen klangen äußerst entmutigend. Wenn man nach den Testergebnissen ging, so hatte Wadim nicht das geringste Recht, vor uns zu stehen. War es vertretbar gewesen, fragten wir uns, Wadim zu einer so anstrengenden Unternehmung aufzufordern? Wadim schien unsere Besorgnis zu spüren. Er brannte darauf, mit den Diskussionen über das Thema seines Vortrags zu beginnen: „Wohin geht Russland? Eine soziologische Analyse und historische Prognose“. Wie wir es während der vorangegangenen vier Jahre immer wieder erlebt hatten, wirkten die nun einsetzenden Diskussionen auf Wadim wie eine verblüffende Therapie. Nur 48 Stunden nach seiner Ankunft hatte sich Wadims Erscheinungsbild gewandelt. Es schien, als ob das Energiefeld, das Wadim durch seine geistige Konzentration erzeugte, den Krebs zurückdrängen würde.

Am 6. Januar betrat er um zehn Uhr morgens das Rednerpodest. Dann sprach er zwei Stunden lang, unter nur gelegentlichen Blicken auf seine Notizen, über die Ideen, die seinen Vortrag ausmachten. Als nächstes stellte er sich eine weitere Stunde lang Fragen aus dem Publikum. Am Nachmittag, nach der Mittagspause, fand er zahlreiche schriftlich eingereichte Fragen vor. Sein Vortrag hatte die Zuhörer elektrisiert. Mehr als zwei Stunden lang bemühte sich Wadim um Antworten. Erst am späten Nachmittag schloss er seine Arbeit ab. Das Publikum dankte ihm mit einer lang andauernden, von Herzen kommenden Ovation als Tribut nicht nur an die geistige Virtuosität, deren Zeuge es gerade geworden war, sondern auch an das integre Wesen und die Charakterstärke, die im Lebenswerk des Vortragenden verkörpert waren.

Wadim Rogowin

Zu jenem Zeitpunkt schien die Hoffnung berechtigt, dass Wadim der medizinischen Wissenschaft zum Trotz seine Arbeit wenigstens noch einige Jahre lang würde fortsetzen können. Dennoch war dieser Vortrag sein letzter größerer öffentlicher Auftritt. Es gelang ihm noch, den sechsten Band seines Zyklus über die Geschichte des Stalinismus und des Kampfs dagegen zu vollenden und dessen Publikation zu überwachen. Doch im späten Frühjahr, nach einer Reise Wadims und seiner Frau Galia nach Israel, trat die Krankheit in ihr Endstadium ein. Erst konnte er seinen linken Arm nicht mehr richtig bewegen, dann nicht mehr laufen. Doch seine herausragenden geistigen Kräfte blieben völlig unbeeinträchtigt, und er führte die Arbeit am siebten Band seiner Geschichte bis in seine letzten Lebensstunden hinein fort.

Einen Mann wie Wadim trifft man nur einmal im Leben. Einen solchen Menschen gekannt, ihn sogar zu seinen Freunden gezählt zu haben, ist ein großes Privileg. Wadim Rogowin wird niemals vergessen werden. Diejenigen unter uns, die Wadim persönlich kannten, und jene, die durch das Studium seiner Werke mehr über ihn erfahren, werden Jahrzehnte lang über die Bedeutung seines Lebens nachdenken. Nur in einer ersten Annäherung können wir heute nachmittag würdigen, was Wadim geleistet hat, um zu einem wissenschaftlichen Verständnis des Schicksals der sozialistischen Bewegung im zwanzigsten Jahrhundert beizutragen.

Ein Prophet der historischen Wahrheit

Im Mai 1997 nannte ich Wadim aus Anlass seines sechzigsten Geburtstags einen Propheten der historischen Wahrheit. Damals dachte ich an Wadims Stellung im post-sowjetischen Geistesleben Russlands, insbesondere hielt ich seine Schriften für eine Kampfansage an das verpestete politische, geistige und moralische Klima in diesem Russland, das durch jahrzehntelange Lügen über die Vergangenheit erzeugt worden war.

Doch gilt die Beschreibung Wadims als Prophet der historischen Wahrheit nicht weniger für seine Rolle außerhalb der Grenzen der früheren UdSSR. Man kann schwerlich einen weiteren Historiker finden, dessen Werk dem selbstgefälligen, reaktionären Subjektivismus und Relativismus des Postmodernismus so unversöhnlich entgegentritt, wie Wadim Rogowin. Nichts stieß ihn mehr ab, als der an den Universitäten Westeuropas und der USA so verbreitete zynische Standpunkt, dass der Begriff der objektiven Wahrheit im Geschichtsstudium und in der Geschichtsschreibung nichts zu suchen hätte. Diese unter reaktionären Denkern schon seit langem gängige Ansicht hielt Wadim in keiner Hinsicht für originell. Schließlich hatte Nietzsche schon vor einem Jahrhundert postuliert, dass die Falschheit einer Meinung nicht als Einwand gegen diese gelten dürfe, dass der Wert einer Meinung lediglich eine Funktion ihres brauchbaren Nutzens für einen gegebenen Zweck sei. Wadim bestand auf dem fundamentalen Unterschied zwischen Meinung und Wahrheit. Die Meinung, schrieb er, „ist eine Kategorie der Sozialpsychologie, ein charakteristischer Zug des gewöhnlichen Bewusstseins. Die Wahrheit ist eine Kategorie der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Weltanschauung, eine Sichtweise der Zukunft, die sich auf eine aufrichtige und objektive Analyse von Vergangenheit und Gegenwart begründet.“

David North (links) und Wadim S. Rogowin in Australien, 1998

Wadims Suche nach der objektiven historischen Wahrheit war die wesentliche Grundlage und Zweckbestimmung seines geistigen Lebens. Das Problem der objektiven Wahrheit bestand für Wadim nicht in einem abstrakten theoretischen Muster, in welches das Thema der historischen Forschung willkürlich gepresst wurde. Nein, es lag in diesem Thema selbst. Und Wadims Thema war die Geschichte der politischen Kämpfe innerhalb der sowjetischen Kommunistischen Partei und der Kommunistischen Internationale von 1922, ein Jahr vor der Gründung der Linken Opposition, bis 1940, dem Jahr der Ermordung Trotzkis durch einen Agenten von Stalins NKWD. Er sah seine alles beherrschende geistige Aufgabe und moralische Verantwortung darin, die objektive Wahrheit über diese entscheidende Geschichtsperiode herauszulösen aus dem riesigen Lügengebäude, das Stalin und seine Nachfolger errichtet hatten - als Koryphäen der postmodernen Geschichtsschreibung, noch bevor dieser Begriff erfunden worden war. Wenn es, wie die postmodernen Theoretiker behaupten, keinen notwendigen Zusammenhang zwischen der Geschichte und einer wissenschaftlich verifizierbaren, objektiven Wahrheit gibt – und wenn, um diesen Gedanken fortzuführen, Berichte über die Geschichte lediglich der Phantasie und Vorstellung entspringen –, dann dürfen die Darstellungen der Sowjetgeschichte aus dem Munde Andrej Wyschinskis während der drei Moskauer Prozesse eben so viel Gültigkeit beanspruchen, wie alle anderen auch. Die unterschiedlichen Versionen der Sowjetgeschichte, wie sie in verschiedenen Ausgaben der staatlich abgesegneten Enzyklopädien erscheinen, dürfen in diesem schäbigen Begriffsrahmen nicht als Lügen verworfen werden, sondern müssen als alternative „Vorstellungswelten“ der Vergangenheit rationalisiert und gerechtfertigt werden. Die Apologeten des Postmodernismus mögen argumentieren, dass dies nicht in ihrer Absicht liege, aber Ideen haben ihre eigene Logik.

Wadim Rogowin verstand, dass die sowjetische Tragödie in der Irreleitung und Zerstörung des Geschichtsbewusstseins wurzelte. Die politische Unreife und Kopflosigkeit, mit der die sowjetische Bevölkerung auf die Ereignisse der achtziger und neunziger Jahre reagierte, ihre Unfähigkeit, eine progressive Antwort auf die Krise ihrer Gesellschaft zu finden, war in erster Linie das Ergebnis von Jahrzehnte langen Geschichtsfälschungen. Ohne eine wirkliche Kenntnis der Vergangenheit konnte man die Gegenwart nicht verstehen. In dem Maße, wie die russische Arbeiterklasse den Stalinismus für das unvermeidliche Produkt des Sozialismus hielt und glaubte, dass sich der tragische Verlauf der Sowjetgeschichte zwangsläufig aus der Revolution im Oktober 1917 ergeben habe, war sie politisch entwaffnet und konnte keine Alternative zur Auflösung der Sowjetunion und zur Restauration des Kapitalismus erkennen. Die große Frage, die Wadim Rogowin stellte – Gab es eine Alternative zum Stalinismus? – ist mit Sicherheit grundlegend für ein Verständnis der Geschichte der Sowjetunion. Aber die Implikationen dieser Frage verzweigen sich weit über die Grenzen der ehemaligen UdSSR hinaus; und sie sind ausschlaggebend nicht nur für unser Verständnis der Vergangenheit, sondern auch für unsere Vision der Zukunft. Vor dem Hintergrund seiner Erforschung der sowjetischen Vergangenheit versuchte Wadim Rogowin die wesentlichen Erfahrungen und Lehren des zwanzigsten Jahrhunderts zu erfassen. Aus diesem Grunde sind die Werke Wadim Sacharowitsch Rogowins von weltweiter Bedeutung.

Während seiner gesamten beruflichen Laufbahn erwies sich Wadim als bewundernswert gewandter Schriftsteller. Mehr als 250 wissenschaftliche Abhandlungen führte er in seinem Lebenslauf als Soziologe auf. Aber selbst diese beeindruckende Schaffenskraft verblasst vor den Leistungen seiner letzten sieben Lebensjahre, in denen er sechs Bände (zu je mindestens 350 Seiten) vollständig und einen siebten zu drei Vierteln abschloss. Hinter einem Nebel aus Zigarettenrauch schienen Wadim die Worte mühelos aus der Feder zu fließen. Es passierte ihm einfach nicht, dass er einmal steckenblieb. Aber selbst der gewandteste Autor hätte ein Werk von diesem Umfang – sechs abgeschlossene, dicht und tiefgründig argumentierende Geschichtsbände unter Einbeziehung umfangreicher Recherchen – nicht fertigstellen können, wenn es nicht das Ergebnis jahrelanger geistiger Vorarbeit gewesen wäre. Lange bevor er sein Werk zu Papier brachte, hatten große Teile davon in seinem Denken bereits Gestalt angenommen. Wadims historischer Zyklus ist das Ergebnis von Forschungen und Überlegungen, die sich über sein gesamtes Leben erstreckten.

Ausschlaggebend für Wadims intellektuelle Fruchtbarkeit war außerdem seine tiefe persönliche Identifikation mit den Idealen und dem Geist der revolutionären Bewegung, deren tragisches Schicksal das Thema seiner historischen Forschungen bildete. Hierin unterschied er sich grundlegend von der großen Mehrheit der westeuropäischen und amerikanischen Akademiker auf dem Gebiet der russischen und sowjetischen Studien. Letztere können, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, die Ziele und Beweggründe der Revolutionäre nicht begreifen, geschweige denn damit sympathisieren. Solche Historiker, die ihren eigenen Zynismus und ihre eigene Apathie auf die Vergangenheit projizieren, zeigen sich in geradezu schmerzhafter Weise unfähig, eine historische Periode zu verstehen, deren größte Vertreter revolutionäre Ideen beseelten, für die sie ihr Leben zu opfern bereit waren. Wadim war anders. Er konnte sich nicht nur in die heroischen Führer der Linken Opposition hineinversetzen, er teilte auch ihre Ziele und Ideale. Das war keine äußerliche Affektiertheit. Wadim selbst erinnerte – mit der Kraft seiner Persönlichkeit und der Intensität seines Denkens – an einen gesellschaftlichen Typus, der einst in der russischen und der Weltgeschichte eine herausragende Rolle gespielt hatte, dann aber vom Stalinismus beinahe vollständig vernichtet worden war: die russische revolutionäre Intelligenz. Wenn ich an Wadim denke, erinnere ich mich unwillkürlich an das sehr schöne Portrait des Ethos dieses ungewöhnlichen gesellschaftlichen Phänomens von Isaiah: „Jedem russischen Schriftsteller wurde bewusst gemacht, dass er als Zeuge auf einer öffentlichen Bühne stand, so dass die kleinste Entgleisung, die ihm passierte, eine Lüge, eine Irreführung, eine Schwäche gegen sich selbst oder mangelnder Eifer für die Wahrheit ein verruchtes Verbrechen war. [...] [W]enn man in der Öffentlichkeit sprach, sei es als Lyriker, Romanschriftsteller, Historiker oder in welcher öffentlichen Eigenschaft auch immer, dann übernahm man die volle Verantwortung für die Unterweisung und Führung der Menschen. Wenn man dazu berufen war, dann war man durch einen Hippokratischen Eid gehalten, die Wahrheit zu sagen und sie nie zu verraten, und diesem Ziel hatte man sich selbstlos zu weihen.“ [1]

Stalinsche Säuberungen

Wadim wurde im Jahr 1937 geboren. Jenes Jahr sah die Vernichtung der besten Vertreter der revolutionären Tradition, des Programms und der Kultur, auf denen die Errungenschaften der Sowjetunion während der ersten beiden Jahrzehnte ihres Bestehens beruht hatten. Wer immer an führender Stelle am Sieg der Oktoberrevolution und an der Gründung der Sowjetunion teilgehabt hatte, wer in irgend einem Bereich des sowjetischen Lebens die Fähigkeit zu unabhängigen und kritischen Gedanken bewiesen hatte, war ein Kandidat für die Kugel des Scharfrichters. Stalins Säuberungen waren das Mittel, mit dem die Bürokratie ihre Usurpation der politischen Macht festigte. Doch diese Definition des Terrors, so politisch präzise sie ist, bringt die gesellschaftlichen und kulturellen Folgen der alptraumartigen Ereignisse von 1937 allein nicht hinreichend zum Ausdruck. Alles, was in der russischen Gesellschaft reaktionär und rückständig war, nahm in der Orgie des von Stalin angestifteten Massenmordes hingebungsvoll Rache an der Revolution.

Unter den Hunderttausenden Opfern Stalins befand sich auch Wadims Großvater mütterlicherseits, Alexander Semjonowitsch Tager. Er war kein Revolutionär gewesen, sondern ein liberaler Vertreter der fortschrittlichsten Teile der alten russischen demokratischen Intelligenz. Als ausgezeichneter Jurist hatte er in einem Gerichtsverfahren von 1922 die Führer der Sozialrevolutionäre verteidigt, denen die Organisierung von Terroranschlägen gegen die bolschewistische Regierung zur Last gelegt worden war. Der Prozess gegen die Sozialrevolutionäre unterschied sich in mehrfacher Hinsicht deutlich von jenen Prozessen, die Stalin anderthalb Jahrzehnte später organisierte. Erstens wurden die Angeklagten, die als Gegner der Sowjetregierung keine Reue zeigten, nicht gezwungen, ihren politischen Überzeugungen abzuschwören oder sich selbst mit Beschimpfungen zu überhäufen. Zweitens konnten sie in Anwesenheit internationaler Beobachter (darunter der Vorsitzende der Zweiten Internationale, Vandervelde) eine tatsächliche politische und juristische Verteidigung betreiben. Anwalt Alexander Tager handelte als Vertreter der juristischen Interessen seiner Klienten, nicht als zweitrangiges Werkzeug der anklagenden Staatsanwaltschaft.

Ein Vorfall während des Prozesses warf ein Licht auf Tagers Mut. Die Regierung hatte vor dem Gerichtsgebäude eine Arbeiterdemonstration organisiert. Eine Gruppe der Demonstrierenden verschaffte sich Zugang zum Gerichtsraum, um die Verhandlung zu stören und den Tod der Angeklagten zu verlangen. Juri Pjatakow, einer der wichtigsten bolschewistischen Führer, führte den Vorsitz der Verhandlung. Er erklärte den Demonstrierenden, dass das Gericht ihre Wünsche erwägen würde. Tager und mehrere andere Verteidiger protestierten mit Nachdruck gegen diese Verletzung der ordentlichen Verfahrensregeln und verließen den Gerichtssaal. Der Prozess endete mit der Todesstrafe gegen mehrere Angeklagte. Sie wurde jedoch unter der Bedingung ausgesetzt, dass die Partei der Sozialrevolutionäre ihre Terroranschläge gegen die Regierung einstellte. Nach dem Prozess musste Tager seine Auflehnung mit dem Exil büßen. Innerhalb weniger Monate wurde er jedoch nach Moskau zurückberufen, und es wurden keine weiteren Maßnahmen gegen ihn ergriffen. Man gestattete ihm sogar recht regelmäßige Auslandsreisen mit seiner Frau, die einer besonderen, in Russland nicht verfügbaren ärztlichen Behandlung bedurfte. Vor Beginn des Terrors war dies durchaus nicht unüblich. Wadims Großvater erfreute sich der Hochachtung und Freundschaft so bekannter politischer Persönlichkeiten wie Anatoli Lunatscharski. In den frühen dreißiger Jahren veröffentlichte Tager eine maßgebliche Studie über den berüchtigten Fall von Mendel Beilis. Als Jude war Beilis Opfer eines Schauprozesses der vorrevolutionären zaristischen Regierung geworden, in dem absurde Vorwürfe wegen angeblicher Ritualmorde erhoben worden waren. Das Vorwort zu diesem Band verfasste Lunatscharski, der darauf drängte, dass er in so viele europäische Sprachen wie irgend möglich übersetzt werden sollte, um der wachsenden Gefahr des Antisemitismus entgegenzuwirken. Im Jahr 1938 wurde Tager, obwohl er nie etwas mit einer antistalinistischen politischen Tendenz zu tun gehabt hatte, gemeinsam mit weiteren bekannten Juristen verhaftet. Es war eine der bitteren Ironien jener furchtbaren Periode, dass Tager nur sechs Monate vor seiner Verhaftung von keinem anderen als Andrej Wyschinski zum Eintritt in dessen juristisches Institut aufgefordert worden war. Als die Geheimpolizei kam, um Wadims Großvater zu verhaften, versicherte dieser seiner Frau, dass es sich um einen Irrtum handeln müsse und dass sie sofort Wyschinski unterrichten solle, der sicherlich für seine umgehende Freilassung sorgen werde. Wadims Großmutter sah ihren Mann nie wieder und erhielt erst ein Jahrzehnt später zuverlässige Nachricht von seiner Hinrichtung.

Wadim hielt das Andenken seines Großvaters in Ehren und freute sich, als Tagers Studie des Beilis-Falles in Russland neu aufgelegt wurde. Man kann sich ausmalen, wie sich das Trauma von Alexander Tagers Verhaftung, seines Verschwindens und seines Todes auf seine Familie auswirkte. Aus dem Munde seiner Großmutter erfuhr Wadim erstmals von den Schrecken der Säuberungen, und man darf getrost annehmen, dass die tragische Erfahrung seiner Familie Wadims geistige Entwicklung maßgeblich beeinflusste. Wadim erzählte mir, dass er den Charakter der stalinistischen Regierung zum ersten Mal bewusst missbilligte, als er knapp dreizehn Jahre alt war. Inmitten der überzogenen Feierlichkeiten zu Stalins siebzigstem Geburtstag stellte sich Wadim plötzlich die Frage, weshalb beinahe alle anderen Führer aus den Reihen der Alten Bolschewiki lange vor diesem Alter ein frühes Ende ereilt hatte. Wadim fragte seinen Vater, weshalb die meisten Mitstreiter Lenins in den dreißiger Jahren erschossen worden waren. Wie war es möglich gewesen, dass sich so viele Revolutionsführer als „Volksfeinde“ entpuppten? Die Versuche des Vaters, den Sohn mit hohlen und wenig überzeugenden Hinweisen auf „parteifeindliche“ Aktivitäten abzuspeisen, fruchteten nicht. Verstört und wahrscheinlich auch geängstigt durch die Fragen, gab Wadims Vater die Antwort, die damals als endgültig und unanfechtbar galt: „Meinst Du nicht, dass Stalin dies besser versteht, als Du?“ Wadim war nicht überzeugt. Er fragte sich weiterhin, weshalb so viele Revolutionsführer, und sogar sein eigener Großvater, erschossen worden waren. Dann kam ihm ganz plötzlich ein furchtbarer Gedanke, der, wie er instinktiv erkannte, die Antwort auf seine Fragen bot: „Stalin muss ein Verbrecher sein!“ Wadim stritt sich weiter mit seiner Familie. Als er heranwuchs, erkannte er, dass die Sowjetunion keine gerechte Gesellschaft war. Er sah die Armut und die scharfen Gegensätze in der sozialen Lage der verschiedenen Schichten der Moskauer Bevölkerung. Wadim wusste außerdem, dass es Gefangenenlager gab: Leute aus seinem Mietshaus wurden während der „Kampagne gegen die Kosmopoliten“ verhaftet, die Stalin 1952-53 entfesselte. Die Nachricht von Stalins Tod im März 1953 war für Wadim, wie er sich später erinnern sollte, Anlass zu Freude und zu Feiern.

Chruschtschows „Geheimrede“ von 1956

Die Veränderung des politischen und gesellschaftlichen Klimas der Sowjetunion nach Stalins Tod war zweifellos der wichtigste Faktor in der geistigen Entwicklung des jungen Wadim Rogowin. Zum Zeitpunkt des 20. Parteitags der KPdSU war er beinahe 19 Jahre alt. Als der Inhalt von Nikita Chruschtschows „Geheimrede“ – in der zum ersten Mal Stalins Verbrechen verurteilt wurden – bekannt wurde, überraschten die Enthüllungen Wadim nicht besonders. Wichtige neue Tatsachen kamen ans Licht, aber größtenteils fühlte sich Wadim durch die Enthüllungen einfach in seinem Hass auf Stalin bestätigt. Er ließ sich jedoch nicht mit Chruschtschows Versuch abspeisen, Stalins Verbrechen als bloße Exzesse des „Personenkults“ zu erklären, ganz zu schweigen von Chruschtschows Behauptung, dass Stalins politische Linie – vor allem im Kampf gegen die trotzkistische Opposition der zwanziger Jahre – in ihren Grundzügen richtig gewesen sei.

Als sich Wadim für das Hauptfach Ästhetik an der Universität Moskau einschrieb, absolvierte er mühelos seine Pflichtseminare und erreichte hervorragende Zensuren. Anstatt die Vorlesungen zu besuchen, verbrachte er so viel Zeit wie möglich in der Bibliothek der Geschichtswissenschaftler, wo er alte Nummern der Prawda und anderer Zeitschriften las, die ein Licht auf die politischen Kämpfe der zwanziger Jahre warfen. Je genauer sich Wadim mit den alten innerparteilichen Auseinandersetzungen befasste, desto mehr überzeugte er sich von der Richtigkeit der Position Trotzkis. Unaufhaltsam zog es ihn zu der Schlussfolgerung, dass Trotzki die größte Persönlichkeit der Sowjetgeschichte gewesen sei. In einer Diskussion, die ich am Wochenende der Feier zu seinem sechzigsten Geburtstag mit Wadim führte, vertraute er mir an, dass sich alle Grundgedanken, die später seinen historischen Zyklus prägen sollten, ursprünglich während der Lektüre gebildet hatten, die er in seinen Zwanzigern studiert hatte. Seither, sagte mir Wadim, habe er von einer Zeit geträumt, in der es möglich werden würde, der sowjetischen Bevölkerung die Wahrheit über ihre Geschichte zu sagen.

Aber die in der UdSSR obwaltenden politischen Umstände – selbst während der „Tauwetterperiode“ in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren – waren seriösen geschichtlichen Werken nicht zuträglich. Während der ersten Stadien seiner akademischen Laufbahn war Wadims Hauptforschungsgebiet die Ästhetik. Seine historischen Forschungen betrieb er privat. Nur mit den vertrauenswürdigsten Kollegen und Freunden, und auch dann nur äußerst vorsichtig, konnte er über die Vorzüge der von Trotzki und der Linken Opposition vertretenen Politik diskutieren. Obwohl Kritik am herrschenden Regime immer üblicher geworden war, löste jede Erwähnung des Namens Trotzki nach wie vor Misstrauen und Furcht aus. Der Vater eines der Freunde Wadims, ein bekannter Journalist, hatte im Kreise einer kleinen Gruppe Dissidenten beiläufig bemerkt, dass Trotzki ein großer Redner gewesen sei. Eine weitergehende Meinung zu Trotzkis politischen Ansichten hatte dieser Journalist nicht geäußert. Doch die beiläufige Bemerkung kam dem KGB zu Ohren; der Journalist wurde prompt aus seiner Stellung entlassen und die Familie in Armut gestürzt. Einmal zog Wadim einen bekannten, von ihm geschätzten Theaterdirektor ins Vertrauen. Ihm gegenüber äußerte er seine Bewunderung für Trotzkis Ansichten über die Kunst. Der Direktor war erschüttert. „Weshalb sprichst Du so offen mit mir?“, fragte er. Er glaube nicht, antwortete Wadim, dass der Direktor, als ein persönlicher Freund und integrer Mann, ihn denunzieren werde. Das werde er nicht, versicherte ihm der Direktor; doch es könne für ihn unangenehme Folgen haben, wenn die Behörden von den Ansichten seines jungen Freundes erführen.

Neben der Angst trug ein weiterer Faktor dazu bei, dass sich Wadim isoliert fühlte. Die Dissidentenbewegung, die Mitte der sechziger Jahre entstand, zeigte wenig Interesse an einer sozialistischen Kritik des bürokratischen Regimes. Sie kritisierte den Stalinismus nicht von links (d.h. auf der Grundlage eines sozialistischen Programms), sondern von rechts (d.h. als Bitte um politische Unterstützung an die amerikanische Bourgeoisie). In diesem Milieu war das revolutionäre Programm Trotzkis tabu.

Das Problem der sozialen Ungleichheit in der UdSSR

Ungeachtet seiner Liebe für Literatur und Kunst suchte Wadim begierig nach einem Forschungsgebiet, das seinen historischen und politischen Interessen direkter entsprach. Glücklicherweise begann das Regime seine zuvor strikten Auflagen für die soziologische Forschung zu lockern, und war es nur deshalb, weil die Bürokratie zur Entwicklung ihrer Politik tiefere Einsichten in die Struktur und Probleme der äußerst komplexen Sowjetgesellschaft benötigte. Also nahm Wadim offiziell seine Forschungen wieder auf und wurde Soziologe. Ohne es offen zuzugeben, entnahm er dem Programm der Linken Opposition das zentrale Thema seiner akademischen Forschungsarbeit: das Problem der sozialen Ungleichheit in der Sowjetunion. Wadim benutzte seine soziologischen Forschungsarbeiten, um die Kluft zwischen den Idealen des Sozialismus und der sowjetischen Realität aufzuzeigen, und um für eine egalitäre Politik einzutreten. In der Liste von Wadims Schriften findet man Titel wie die folgenden: „Jugend und gesellschaftlicher Fortschritt“, „Die Sozialpolitik in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft: Richtungen, Tendenzen, Probleme“, „Soziale Sicherheiten und Probleme bei der Vervollkommnung der Verteilungsverhältnisse“, „Wirtschaftliche Effektivität und soziale Gerechtigkeit“, „Soziale Gerechtigkeit und Wege zu ihrer Verwirklichung in der Sozialpolitik“, „Soziale Aspekte der Verteilungspolitik“, „Soziale Aspekte bei der beschleunigten Lösung des Wohnungsproblems“, und „Die Dialektik von sozialer Gleichheit und Ungleichheit im gegenwärtigen Entwicklungsstadium der Sowjetgesellschaft“.

Während der Regierungszeit Breschnews – der sogenannten „Stagnationsära“ – wurde die Krise der UdSSR offenkundig. Für Wadim war dies eine Periode tiefer Frustration. Seine früheren Hoffnungen, dass die Grundsätze des Sozialismus in der Sowjetunion eine Wiedergeburt erfahren würden, schienen immer weniger realistisch. Das frühere „Tauwetter“ war einer neuen „Eiszeit“ gewichen. Mit staatlichem Zwang wurde versucht, kritische Untersuchungen über Stalins Rolle in der Geschichte zu unterdrücken. Alles, was Wadim schrieb, unterzogen die Zensoren einer Art literarischen Leibesvisitation. Einige Artikel erblickten nie das Licht der Welt, viele wurden erst veröffentlicht, nachdem einzelne Absätze gestrichen oder erheblich verändert worden waren. Dennoch ereignete sich während der letzten Periode der „Stagnationsära“ ein unerwarteter Glücksfall für Wadim. Normalerweise besprachen die Zensoren die von ihnen bewerteten Artikel nur mit den Verlegern und Herausgebern der Zeitungen und Zeitschriften, für die sie bestimmt waren. Mit den Autoren wurde ganz selbstverständlich keine Rücksprache gehalten. Von ihnen erwartete man, dass sie jegliche Entscheidung hinnahmen. Doch ein langjähriger Beamter der Zensurbehörde war von Wadims Schriften fasziniert. Er beschloss, sich direkt an den Autor zu wenden. Niemals zuvor hatte er Artikel gelesen, die das Problem der sozialen Ungleichheit mit einer solchen Einsicht, Klarheit und Kühnheit behandelten. Weshalb, fragte er sich, befasste sich Wadim so beharrlich mit diesem Thema? Weshalb hielt er soziale Gleichheit für erreichbar? Entsprach sie der menschlichen Natur? Wadim fand sich, gleich einem Charakter in einem existentialistischen Schauspiel, in einem ausführlichen philosophischen Streitgespräch mit eben jenem Beamten wieder, der bevollmächtigt war, seine Schriften den Flammen zu übereignen. Sein Schicksal hing in der Schwebe. Doch den Zensor – dessen Gewissen durch die jahrelange bürokratische Routine noch nicht völlig abgetötet war – beeindruckte die Stärke von Wadims Argumenten. Er versprach, sein Möglichstes zu tun, damit die Artikel erscheinen konnten.

Mit dem Aufstieg Gorbatschows an die Macht und der Einführung der Glasnost wuchs das Publikum für Wadims Schriften immens. Er nutzte die neuen Gelegenheiten, indem er 1985 eine Artikelserie für die Komsomolskaja Prawda schrieb, in der er die vorherrschenden gesellschaftlichen Privilegien in ihren offenen und verdeckten Formen anprangerte, eine strenge Begrenzung der Einkommensungleichheiten und eine deutliche Verbesserung des Lebensstandards der breiten Massen forderte. Wadims Zensor äußerte seine Besorgnis, ließ die Artikel aber schließlich unverändert veröffentlichen. Die Komsomolskaja Prawda hatte eine Auflage von 20 Millionen, und die Artikel riefen eine leidenschaftliche Reaktion hervor. Sie wurden allgemein als Angriff auf die gesellschaftliche Stellung der herrschenden Bürokratie aufgefasst. In den nächsten Monaten gingen bei der Komsomolskaja Prawda Tausende von Briefen ein, in denen die Artikel entweder gelobt oder verdammt wurden.

Trotzkis Schriften

Der politische Wandel, der mit Gorbatschows Machtantritt einherging, ermutigte Wadim zunächst. Es war nicht nur möglich geworden, gesellschaftliche Probleme kühner und vor einem weitaus größeren Publikum anzusprechen, Wadim konnte auch zum ersten Mal offen über Leo Trotzki und den politischen Kampf der Linken Opposition gegen den Aufstieg des Stalinismus reden. Eine weitere einschlägige Entwicklung war die unverhoffte Veröffentlichung mehrerer Bände von Trotzkis Schriften, insbesondere aus den dreißiger Jahren, die Wadim niemals zuvor gesehen hatte. Zum ersten Mal verschaffte er sich die wichtigste russisch-sprachige Publikation der internationalen trotzkistischen Bewegung, das Bulletin der Opposition. Wadim verschlang und verarbeitete diese Texte, die ihn in seinen trotzkistischen Überzeugungen bestärkten und diese vertieften. Für Wadim besaßen diese Schriften nicht nur historische, sondern auch außerordentliche aktuelle Bedeutung; denn es sollte sich bald erweisen, dass niemand, weder in der politischen noch in der geistigen Elite, den Charakter der Krise, in der sich die Sowjetunion befand, auch nur ansatzweise verstand. Mit jeder neuen Verkündung eines „historisch notwendigen“ Politikwechsels nahmen sich die wirren Improvisationen Gorbatschows absurder aus. Der Generalsekretär bereiste die Welt, um sich feiern zu lassen, hatte darüber hinaus jedoch nicht die geringste Vorstellung, was er tun solle. Gorbatschows Verwirrung widerspiegelte sich in der Orientierungslosigkeit der gesamten sowjetischen Intelligenz. Nichts in ihrer bisherigen Arbeit, so schien es, hatte sie auf den Zusammenbruch der UdSSR in den späten achtziger Jahren vorbereitet.

Wadim war davon überzeugt, dass ohne eine gründliche Aufarbeitung der Geschichte die Probleme der Sowjetunion weder verstanden noch gelöst werden konnten. Die wesentliche Voraussetzung für eine solche Aufarbeitung war die Säuberung der historischen Darstellung von allen Lügengeschichten über Leo Trotzki. Die Möglichkeit einer Erneuerung der sowjetischen Gesellschaft auf sozialistischem Wege hing von einer ehrlichen Untersuchung der trotzkistischen Kritik am Stalinismus und des von der Linken Opposition vertretenen Alternativprogramms ab. Mit der zunehmenden Verschlechterung der politischen und wirtschaftlichen Lage erschien Wadim die Notwendigkeit, Trotzkis Werk zu sichten, einfach unabweisbar. Doch nun stieß er auf ein politisches und gesellschaftliches Phänomen, das ihn erneut isolierte: die panische Flucht praktisch der gesamten Intelligenz in das Lager der Rechten. Über die Entwicklung rechtsgerichteter Tendenzen unter der Intelligenz hatte sich Wadim schon seit langem Rechenschaft abgelegt. Die Dissidentenbewegung hatte ihm wegen ihrer Orientierung an der internationalen bürgerlichen öffentlichen Meinung und ihrer Feindseligkeit gegenüber dem Marxismus nie zugesagt. Dennoch war zumindest in den akademischen und intellektuellen Kreisen, in denen er verkehrte, die Kritik an der sowjetischen Regierungspolitik in sozialistische Begriffe gekleidet worden. Doch gegen Ende der achtziger Jahre legten seine Freunde und Berufskollegen – mit sehr wenigen Ausnahmen – eine ungezügelte Bewunderung für das kapitalistische System und einen ebensolchen Glauben an dieses an den Tag. Argumenten, die sich auf Tatsachen und Vernunft stützten, waren sie nicht zugänglich. Wadim sah sich gezwungen, die Beziehungen zu Freunden und Kollegen eine nach der anderen aufzukündigen, darunter auch jene zu Sergej Schatalin. Er war einer seiner engsten Mitstreiter und sogar Mitautor eines Artikels gewesen. Doch Schatalin wurde einer der Wirtschaftsberater Gorbatschows und machte sich international einen Namen als Urheber des „500-Tage-Plans“, wonach die sowjetische Wirtschaft mit den Methoden der „Schocktherapie“ auf den kapitalistischen Markt umgestellt werden sollte.

Ein Nebenprodukt dieser Rechtswendung war eine neue Medienkampagne, mit der jeder Gedanke daran ausgemerzt werden sollte, dass der Trotzkismus eine Alternative zum Stalinismus gewesen sein könnte. Schamlos kombinierten die Medien die schlimmsten Verleumdungen Trotzkis aus der Stalinzeit mit den reaktionären Argumenten westlicher Sowjetologen. Die Kampagne gegen Trotzki – die sich im wesentlichen gegen das gesamte Erbe des Marxschen Sozialismus richtete – fand bei der zerfallenden ex-sowjetischen und russischen Intelligenz große Resonanz. Das wichtigste – oder vielleicht besser: bekannteste – Produkt dieser Kampagne waren die Bücher von General Dimitri Wolkogonow.

Gab es eine Alternative?

Inmitten dieses reaktionären Umfelds begann Wadim mit der Arbeit an dem Projekt, dem er den Rest seines Lebens widmete: einer marxistischen Geschichte der politischen Konflikte innerhalb der Kommunistischen Partei und der Kommunistischen Internationale. Kein anderer Historiker in der ehemaligen Sowjetunion, von außerhalb ihrer Grenzen ganz zu schweigen, war dieser Aufgabe gewachsen. Weshalb nicht? „Geschichtsschreibung“, bemerkte E.H. Carr einmal, „ist jedoch gerade dann groß zu nennen, wenn des Historikers Sicht der Vergangenheit durch Einsicht in die Probleme der Gegenwart erleuchtet ist.“ [2] Diese Feststellung liefert uns den Schlüssel zum Verständnis von Wadims Leistungen als Historiker. Zweifellos brachte er in diese Arbeit gewisse außergewöhnliche Fähigkeiten ein: sein enzyklopädisches Wissen über die sowjetische Geschichte, seine erstaunliche Beherrschung eines umfangreichen Faktenkomplexes, seine sichere Fähigkeit, die Ereignisse in einen breiteren politischen und gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen, und seinen durchsichtigen, ungekünstelten Stil. Doch über diese Stärken hinaus verfügte er über einen weiteren unschätzbaren Vorteil: die tiefe Überzeugung, dass die gegenwärtige Krise nicht nur Russlands, sondern der gesamten Welt das Vermächtnis der Niederlagen ist, welche die internationale sozialistische Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren infolge der Verrätereien und Verbrechen der stalinistischen Bürokratie erleiden musste.

Und doch findet sich in Wadims Zyklus keine Spur von Pessimismus. Die Ereignisse, die er erzählt und analysiert, insbesondere in jenen Bänden, die sich direkt mit der Vorbereitung und Durchführung des stalinistischen Terrors von 1936-39 befassen, sind in der Tat entsetzlich. Man kann diese Lektüre nur als grauenerregend bezeichnen. Dennoch schildert Rogowin bei allem Schrecken die sowjetische Tragödie als ein Drama, dessen Schlussakt noch aussteht. Im Vorwort zum dritten Band heißt es: „Der historische Prozess, den die Oktoberrevolution eingeleitet hat, wurde nicht abgeschlossen, sondern nur aufgehalten.“ Was Wadims Werk seine moralische Intensität verleiht, ist nicht nur die Empörung des Autors, sondern vor allem seine Überzeugung, dass der Stalinismus die Sache des Weltsozialismus nur vorübergehend aus dem Gleise geworfen hat. Ungeachtet der Niederlage, die sie in den dreißiger Jahren erlitt, verkörperte die Linke Opposition die Möglichkeit, dass die Sowjetunion eine andere, weitaus progressivere Entwicklung hätte nehmen können. Und allein diese Möglichkeit widerlegt alle Behauptungen, dass der Stalinismus das notwendige und unvermeidliche Ergebnis des Bolschewismus gewesen sei. Die unbestreitbare Tatsache, dass es eine Alternative zum Stalinismus gegeben hat, bedeutet, dass das historische Potential des Sozialismus nicht ausgeschöpft worden ist.

Rogowins Geschichtsauffassung ist dem Wesen nach dynamisch. Wadim besteht auf der unverminderten Bedeutung der Ereignisse in den dreißiger Jahren, weil er den historischen Ablauf als ein einziges, ineinander verflochtenes Kontinuum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auffasst. Die Rolle, die Wadim anstrebte, ist vielleicht am besten in dem Vers Pasternaks wiedergegeben, den er dem vierten Band seines Zyklus vorangestellt hat: „ Historiker-, sagt' Hegel einstens/ Propheten sind's, mit scharfem Blick/ Vorausschau halten sie, indem sie/ schaun ins Vergangene zurück.“

Ein weiteres entscheidendes Element von Wadims historischem Zyklus ist seine Interpretation des Konflikts zwischen dem stalinistischen Regime und der Linken Opposition als Zusammenstoß zweier unversöhnlicher gesellschaftlicher Prinzipien - des Prinzips der Gleichheit und des Prinzips der Ungleichheit. Der soziale Gehalt des politischen Programms der trotzkistischen Opposition, die den Interessen der Arbeiterklasse Ausdruck verlieh, war der Kampf um Gleichheit. Das Ziel, das in der Politik des stalinistischen Regimes zum Ausdruck kam – und ihm die Unterstützung der Bürokratie und diverser gesellschaftlicher Zwischenschichten einbrachte – war die Ungleichheit. Das Streben nach sozialen Privilegien – materielle Vorteile für wenige auf Kosten vieler – fand in den Bestialitäten des stalinistischen Regimes seine notwendigerweise brutalen politischen Ausdrucksformen. Der mordende Diktator verkörperte die wesentliche gesellschaftliche Einstellung der Bürokratie in Vollendung: „Stalins Gier nach materiellen Dingen des Lebens, sein Hang zu zügellosem Luxus im Alltag vererbte sich auch an seine Nachfolger, bis hin zu Gorbatschow. Sie waren – im Unterschied zur alten Garde der Bolschewiki – weit davon entfernt, die materiellen Belastungen und Entbehrungen des Volkes zu teilen.“ [3]

Wadims Analyse der sozialen Grundlage des Stalinismus leitete seine Analyse des letztlichen Zusammenbruchs der UdSSR. Oft argumentierte er, dass der Prozess der kapitalistischen Restauration auf die reaktionäre, anti-egalitäre Politik zurückzuführen sei, die Stalin von den dreißiger Jahren an bis zu seinem Tod betrieben hatte. Wadim stellte fest, dass die Feindschaft der gebildeten und geistigen Elite gegen das Sowjetregime als Reaktion auf die beschränkten Versuche von Stalins Nachfolgern einsetzte, das Ausmaß der sozialen Ungleichheit, das der verstorbene Diktator gefördert hatte, zu verringern. Die Nomenklatur verabscheute die sozialen Zugeständnisse an die Arbeiterklasse, zu der sich die Sowjetbürokratie nach Stalins Tod gezwungen sah. Die Dissidentenbewegung, betonte Wadim, entwickelte sich aus diesen Vorbehalten heraus und war in diesem Sinne eher ein Produkt des Stalinismus, als eine Opposition gegen ihn.

Mit seiner Verteidigung marxistischer Prinzipien verdammte sich Wadim nach dem Zusammenbruch der UdSSR im Dezember 1991 zu beinahe vollständiger Isolation. Das nun einsetzende Schauspiel aus politischer Reaktion, gesellschaftlichem Rückschritt und moralischer Verkommenheit erfüllte Wadim mit Abscheu. Die für ihn wesentliche Voraussetzung für kreatives geistiges Schaffen – der ständige Ideenaustausch mit vertrauenswürdigen Kollegen und Freunden – war bereits 1992 praktisch unmöglich geworden. Es gab buchstäblich niemanden, mit dem er den Inhalt des ersten Bandes seines historischen Zyklus besprechen konnte, und nur unter größten Schwierigkeiten konnte er die Veröffentlichung durchsetzen.

Wadim nimmt Kontakt zum IKVI auf

Zu eben diesem Zeitpunkt lernte Wadim Rogowin das Internationale Komitee der Vierten Internationale kennen. Die Beziehung, die sich über die nächsten sechs Jahre hinweg entwickelte, beeinflusste uns nicht weniger als ihn. In den späten achtziger Jahren, vor seiner Begegnung mit dem IKVI, hatte Wadim Diskussionen mit linken Tendenzen von außerhalb der Sowjetunion geführt, die sich trotzkistisch nannten. Er war begierig, mehr über Perspektive und Programm der Vierten Internationale zu erfahren. Wadim traf sich mit dem Führer der pablistischen Bewegung, Ernest Mandel. Doch die Diskussionen mit Mandel hinterließen bei Wadim ein tiefes Gefühl der Enttäuschung. Als Wadim Mandel aufforderte, die Lage in der Sowjetunion zu analysieren, erwartete er eine beißende Kritik an der Politik der Kremlbürokratie. Statt dessen lobte Mandel Gorbatschow in den höchsten Tönen und äußerte große Hoffnungen hinsichtlich der Perestroika. Er schien ehrlich überrascht, als er feststellte, dass Wadim seine Bewunderung für den ersten Sekretär der KPdSU nicht teilte. Mandel hinterließ bei Wadim den Eindruck eines geruhsamen „bourgeoisnij Professor“.

Eine glückliche Fügung brachte Wadim in Kontakt mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale. In den Jahren 1992-93 betrieb mein guter Freund Fred Choate, ein Unterstützer des Internationalen Komitees, in Moskau Forschungsarbeiten über das Leben Alexander Woronskis. Woronski war eine wichtige Persönlichkeit der Linken Opposition gewesen. Fred stieß in einer Zeitschrift auf einen kurzen Artikel über Trotzkis Ansichten zur Literatur. Ihn beeindruckte der objektive Tonfall des Artikels und die Aufrichtigkeit, mit der er die Ansichten Trotzkis zusammenfasste. Es war ungewöhnlich, in einer sowjetischen Zeitschrift einen Artikel über Trotzki zu lesen, der nicht mit plumper Ironie und/oder Falschdarstellungen gespickt war. Der Autor war Wadim Rogowin. Fred beschloss, Verbindung zu ihm aufzunehmen. Er ermittelte seine Telefonnummer, rief ihn an und verabredete sich mit ihm. Die Begegnung verlief sehr gut. Wadim war hocherfreut, eine ernsthafte Diskussion über das Thema der Linken Opposition zu führen. Dennoch teilte Fred Wadim nicht sofort mit, dass er persönlich Verbindungen zur trotzkistischen Bewegung hatte.

Dann kam das Schicksal zum Zuge. Kurz zuvor war Wadim eine Ausgabe der russisch-sprachigen Publikation des Internationalen Komitees, des „ Bulletins der Vierten Internationale“ in die Hände gefallen. Er und seine Frau Galia hatten den Inhalt sorgfältig studiert und hielten das „ Bulletin“ für eine authentische trotzkistische Publikation. Galia, in ihrer umsichtigen Art, sagte zu Wadim, er solle doch versuchen, Verbindung aufzunehmen... mit David North! Aber wie? Wadim sprach Fred an. Hatte er, fragte Wadim, jemals von North gehört, und wisse er vielleicht, wie man Verbindung zu diesem Menschen aufnehmen könne? Fred gab Wadim zu verstehen, dass er ihm wohl behilflich sein könne.

Während Wadim uns suchte, hatte das Internationale Komitee ihn gesucht. Zwischen 1989 und 1991 war ich mehrmals in die Sowjetunion gereist und hatte zahlreiche Akademiker getroffen. Ich hatte gehofft, dass man irgendwo in dieser riesigen wissenschaftlichen Gemeinde einen Gelehrten finden würde, der inmitten des Zusammenbruchs der Sowjetunion die Notwendigkeit einsah, die vom Stalinismus begangenen Verbrechen an der sozialistischen Bewegung zu entlarven und darüber hinaus über den Kampf zu schreiben, den Trotzki und die Linke Opposition in den zwanziger und dreißiger Jahren gegen das Wachstum und die Machtbefestigung der Bürokratie geführt hatten. Die Suche war zunächst erfolglos geblieben. Die Historiker und Soziologen, mit denen ich sprach, erwiesen sich einer nach dem anderen als kleinkarierte Zyniker, die an ernsthafter Arbeit weder interessiert noch dazu fähig waren. Das Klima der politischen Reaktion hatte alle Grundsätze und Ideale erstickt, an die sie vielleicht einmal geglaubt hatten. Sie machten augenscheinlich den Marxismus für jedes Problem verantwortlich, das ihnen in der Gesellschaft oder in ihrem eigenen Leben begegnete. Die Reorganisierung Russlands auf der Grundlage des Kapitalismus hielten sie für ein regelrechtes Wundermittel.

Ich erinnere mich an eine Diskussion, die ich im Herbst 1991 mit einem bekannten sowjetischen Wissenschaftler führte, der am Historischen Archivinstitut in Moskau eine hochrangige Stellung innehatte. Zwei Jahre zuvor hatte mir derselbe Mann den größten Hörsaal des Instituts zur Verfügung gestellt, wo ich dann einen Vortrag über Trotzkis Kampf gegen Stalin gehalten hatte. Doch seither hatte er vor dem Druck der Reaktion die Segel gestrichen. Von seinen früheren sozialistischen Neigungen war überhaupt nichts mehr übrig. Er war der festen Überzeugung, dass die Einführung der Marktwirtschaft sämtliche Probleme Russlands rasch lösen werde. Ich widersprach ihm und erklärte, dass die uneingeschränkte Unterordnung Russlands unter die Weltwirtschaft das Land um hundert Jahre zurückwerfen werde. „Das“, antwortete er lakonisch, „wäre eine unermeßliche Verbesserung gegenüber der gegenwärtigen Lage.“ Von Leuten mit derartigen Ansichten konnte man keine positive Antwort erwarten, wenn man ein objektives Studium der trotzkistischen Opposition zum stalinistischen Regime anregte. Die gesellschaftliche und politische Einstellung, die sie bezogen hatten, gestattete es ihnen nicht, sich einzugestehen, dass der Stalinismus eine groteske Perversion der Prinzipien der Oktoberrevolution gewesen war, und dass die Linke Opposition eine tatsächliche, tragfähige sozialistische Alternative zur Politik der Sowjetbürokratie vertreten hatte.

Kampagne zur Verteidigung der historischen Wahrheit

Ungeachtet der Apathie und Opposition, die ihm unter den demoralisierten Überbleibseln der sowjetischen Intelligenz entgegengeschlagen war, begann das Internationale Komitee im März 1992 eine Kampagne zur Verteidigung der historischen Wahrheit: um die Fälschungen, Verrätereien und Verbrechen des Stalinismus aufzudecken, und um auf der Grundlage der historisch verbürgten Tatsachen die unversöhnliche Opposition des Marxismus gegen den Stalinismus deutlich zu machen, die in dem heroischen Kampf Trotzkis und der Linken Opposition verkörpert war. Am 11. März 1992, im einleitenden Bericht zum 12. Plenum des IKVI, hieß es: „Um die Lüge zu widerlegen, der Stalinismus sei Marxismus, muss man zeigen, was der Stalinismus ermordet hat. Wir müssen die Frage beantworten: gegen welchen Feind hat der Stalinismus die schrecklichsten Schläge geführt? Die größte politische Aufgabe unserer Bewegung muss es sein, die historische Wahrheit wiederherzustellen, indem wir die weitreichende politische Bedeutung der Verbrechen des Stalinismus aufzeigen. Im Zentrum dieser Enthüllung muss die Offenlegung der Dokumente der Moskauer Prozesse, der Säuberungen und der Ermordung Trotzkis stehen... Wenn wir von einer Kampagne zur Aufdeckung der historischen Wahrheit sprechen, so sehen wir darin eine Aufgabe, die nicht nur der Arbeiterklasse im engen Sinne, sondern der gesamten progressiven Menschheit dient. Was in der Lubjanka geschah, geht die gesamte um Fortschritt ringende Menschheit an. Die Entlarvung der Verbrechen des Stalinismus ist ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit, den Schaden zu überwinden, den er der Entwicklung des gesellschaftlichen und politischen Denkens zugefügt hat.“ [4]

Während der längsten Zeit seines Lebens war es Wadim nicht möglich gewesen, seine trotzkistischen Überzeugungen offen zu diskutieren, von einer Beteiligung an der Arbeit der Vierten Internationale ganz zu schweigen. In ähnlicher Weise hatte unsere Bewegung Jahrzehnte lang das Vermächtnis von Trotzkis Kampf aufrechterhalten, ohne Verbindung zu wirklichen Marxisten innerhalb der Sowjetunion aufnehmen zu können. Trotz der beträchtlichen Hindernisse, die aus widrigen historischen Umständen herrührten, waren Wadim Rogowin und die Vierte Internationale am Ende, nachdem sie mehr als ein halbes Jahrhundert getrennt zurückgelegt hatten, auf dieselbe Umlaufbahn eingeschwenkt.

Die Diskussionen zwischen Wadim und dem Internationalen Komitee begannen im späten Frühjahr 1992. Zunächst hatten wir größtenteils über das neue Medium E-mail Verbindung gehalten. Mit Fred als Übermittler und Übersetzer tauschten wir, wenn auch in etwas eingeschränkter Weise, Ideen und Vorschläge für weitere literarische und politische Arbeit aus. Im Oktober 1992 traf sich Wadim während eines kurzen Besuchs in Berlin mit Genossen Peter Schwarz. Im Februar 1993, während eines Seminars über die Geschichte des Internationalen Komitees in Kiew, trafen Wadim und ich uns zum ersten Mal. Die Diskussionen, die wir an jenem Wochenende führten, verliefen nach einem Muster, das sich die folgenden Jahre wiederholen sollte: wir redeten, debattierten, stritten uns, waren uneinig, einigten uns, lachten und entwarfen Pläne. Im Verlauf weiterer Begegnungen in Moskau 1993 und Anfang 1994 besprachen wir im einzelnen die Ausarbeitung von Wadims historischem Zyklus. Wie ich bereits ausführte, hatte Wadim die grundlegenden Umrisse dieses Werks in vielen Forschungs- und Studienjahren bereits entworfen. Und doch erweiterte sich der geistige und politische Umfang seiner Arbeit nach den Diskussionen mit dem Internationalen Komitee ganz erheblich. Schon nach den ersten Diskussionen kam Wadim zu dem Schluss, dass er den ersten Band neu strukturieren und umschreiben müsse. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als schulde Wadim seine Ideen dem Internationalen Komitee. In solchen Begriffen kann die dialektische Entwicklung seines Denkens nicht erfasst werden. Vielmehr wurde seine Kreativität durch Diskussionen beflügelt, die seine Vorstellungskraft anregten und neue Ideen in seinem Bewusstsein weckten. Ursprünglich hatte Wadim sein Projekt auf vier Bände berechnet. Die Auswirkungen seiner Zusammenarbeit mit dem Internationalen Komitee schlugen sich unmittelbar in der Tatsache nieder, dass der Umfang seiner Arbeit auf sieben Bände anwuchs.

Was Wadim Rogowins Werk so einzigartig macht

Wadims Werk wird auf Jahrzehnte hinaus die historische Literatur zum Thema des stalinistischen Terrors dominieren. Ein Werk von solch monumentalen Ausmaßen kann nicht knapp zusammengefasst werden. Doch muss man betonen, wodurch sich Wadims Werk von praktisch allen übrigen abhebt: er besteht darauf, dass der Hauptzweck und die Funktion des Terrors die Vernichtung der trotzkistischen Opposition gegen das stalinistische Regime war. Angesichts der Tatsache, dass das stalinistische Regime die Vernichtung des Trotzkismus zum Sinn und Zweck des Terrors erklärte, mag sich der unbedarfte Leser – der die Standardwerke der westlichen Historiker über den Terror nicht kennt – die Frage stellen, weshalb ich ausgerechnet diesen Aspekt von Wadims Thesen für wesentlich und außergewöhnlich halte. Die Anwort lautet, dass ein großer Teil der westlichen Geschichtsschreibung zum Thema der Säuberungen darauf abzielt, den zentralen Stellenwert des Kampfes gegen Trotzki und seine Ideen herabzumindern, wenn nicht zu leugnen. Wie Wadim feststellte, widmet das Werk Robert Conquests – das dreißig Jahre lang das bekannteste seiner Art war – dem Thema des Trotzkismus nur wenige Seiten. Wenn auch in weniger plumper Form, vertreten viele Historiker – selbst jene, die ihre Arbeit aufrichtig und gewissenhaft betreiben (und es gibt solche Leute) –, dass der Terror alles war, was man sich auf Erden nur ausdenken kann, nur kein Kampf gegen den Einfluss Trotzkis. Schließlich, so argumentieren sie, sei Trotzki 1929 aus der Sowjetunion ausgewiesen worden. Die bekanntesten Mitglieder der alten Linken Opposition hätten ihre früheren trotzkistischen Ansichten widerrufen. Die systematische Repression hätte jegliche politische Arbeit der trotzkistischen Gruppen, die Mitte der dreißiger Jahre noch verblieben sein mochten, unmöglich gemacht.

Wadim bekämpfte diese Ansichten. Sie unterschätzten, so argumentierte er, die Stärke der marxistischen Tradition innerhalb der Sowjetunion und die Tiefe der revolutionären Einstellung unter breiten Schichten der Bevölkerung. Darüber hinaus hatten sich die alten Bolschewiken, auch wenn sie ihren Ansichten abgeschworen hatten, niemals mit der stalinistischen Herrschaft abgefunden. Es bestand durchaus noch die Möglichkeit, dass sich die angestaute Unzufriedenheit der Massen an ihnen orientieren würde. Selbst innerhalb der Bürokratie gab es Elemente, die nicht vollständig mit ihrer eigenen revolutionären Vergangenheit gebrochen hatten und auf deren Loyalität sich Stalin nicht uneingeschränkt verlassen konnte. Trotzkis Schriften wurden gelesen und übten nach wie vor Einfluss aus. Nach dem Mord an Kirow im Dezember 1934 fand man in seiner Wohnung mehrere Bände von Trotzkis Schriften. Wadim analysierte die Verbindungen zwischen oppositionellen Strömungen innerhalb der UdSSR und Trotzki selbst. Die Säuberungen entsprangen nicht der Paranoia eines Wahnsinnigen. Stalin, so betonte Wadim, hatte reale Gründe, den Einfluss Trotzkis zu fürchten, der nicht nur innerhalb der Sowjetunion, sondern auch außerhalb ihrer Grenzen spürbar war. Worin also bestand der letzte Zweck des Terrors? „Die Große Säuberung von 1937-38“, schrieb Wadim, „war für Stalin gerade deshalb erforderlich, weil er das kräftige Wachstum der revolutionären Bewegung der Vierten Internationale nur so unterbinden konnte, sie nur so daran hindern konnte, zur führenden revolutionären Kraft der Epoche zu werden; weil er die Meinung der Weltöffentlichkeit, die sich andernfalls möglicherweise für die ‘trotzkistischen' Ideen geöffnet hätte, nur auf diese Weise irreleiten und demoralisieren konnte.“

Anfang 1994 erschien der zweite Band von Wadims Zyklus. Eine Auflage von 10.000 war in Auftrag gegeben worden, und da es keinen anderen Lagerplatz gab, wurden alle Bücher in Wadims Wohnung geliefert. Überall stapelten sich in braunes Papier eingewickelte Bücherpacken – auf Regalen, Tischen, in den Schränken, unter den Betten und Stühlen, und oben auf dem Kühlschrank. Wadim war begeistert über das Eintreffen seines „Neugeborenen“, und arbeitete bereits mit aller Energie am dritten Band. Neben der Unterstützung des Internationalen Komitees hatte die Freigabe bislang unter Verschluss gehaltener Dokumente aus den Staatsarchiven seiner Forschungs- und Schreibarbeit einen starken Impuls verliehen. Niemals zuvor in seinem Leben, gestand Wadim freimütig, sei er so glücklich gewesen. Endlich konnte er all das in die Tat umsetzen, wovon er zuvor nur hatte träumen können. Dann geschah das Unerwartete. Im Januar 1994 unterzog er sich einer gründlichen ärztlichen Untersuchung, bei der auch eine Computertomographie des Verdauungstraktes erstellt wurde. Die Ärzte äußerten sich zufrieden mit seinem Gesundheitszustand. Als Wadim im Mai jedoch über Beschwerden klagte, sahen sie sich die alten Aufnahmen noch einmal genauer an, und entdeckten einen Schatten, den sie zuvor übersehen hatten. Sie ließen eine neue Tomographie erstellen. Diesmal war ein Geschwür im Dickdarm deutlich zu erkennen. Bei der folgenden Operation wurde ein großer Tumor entfernt. Der Chirurg entdeckte ausserdem zwei Metastasen in Wadims Leber, die er durch eine Resektion zu entfernen versuchte. Die Prognose war niederschmetternd: man musste mit einer raschen Verschlechterung von Wadims Zustand rechnen. Wahrscheinlich hatte er kaum mehr als ein weiteres Jahr zu leben.

Der Kampf gegen die postsowjetische Schule der Geschichtsfälschung

Wadim nahm diese Botschaft außerordentlich gelassen auf. „Ich kann meinem persönlichen Schicksal“, sagte er, „nichts besonders Tragisches abgewinnen.“ Man konnte Wadims stoische Reaktion nur bewundern, aber wir alle empfanden diese unerwartete und schreckliche Entwicklung als zutiefst, geradezu im klassischen Sinne tragisch. Gerade, als die objektiven Bedingungen Wadim endlich gestatteten, sein Lebensziel in die Tat umzusetzen, wurde er von einer erbarmungslosen, unheilbaren Krankheit heimgesucht. Im Herbst 1994, als sich Wadim hinreichend von der Operation erholt hatte, besuchte ich ihn in Moskau. Er hatte die Arbeit an dem dritten Band, den er innerhalb weniger Monate abzuschließen hoffte, wieder aufgenommen. Wie üblich legten wir als erstes eine Tagesordnung für unsere Diskussionen fest. Der wichtigste Punkt lautete: „Zukunftspläne“. Wir sprachen über die Auswirkungen der jüngsten Fälschungskampagne, die mit der Veröffentlichung der Bücher von Professor Richard Pipes und Dimitri Wolkogonow losgetreten worden war. War es nicht an der Zeit, schlug ich Wadim gegenüber vor, dass das Internationale Komitee eine „Internationale Gegenoffensive gegen die postsowjetische Schule der Geschichtsfälschung“ eröffnete? Wadim wiederholte den Titel sofort auf Russisch, wodurch er gleich noch grandioser und eindrucksvoller wirkte. Er fand den Vorschlag großartig. Ich fragte Wadim, ob er bereit wäre, Anfang Frühjahr 1995 eine Vortragsreise in die USA zu unternehmen. Wadim war begeistert. Ich muss zugeben, dass ich, als ich den Vorschlag äußerte, durchaus nicht wusste, ob Wadim im kommenden Frühjahr noch am Leben sein würde. Aber die Aussicht auf Vorträge im Ausland wirkte auf Wadim heilsamer, als jede erdenkliche medizinische Behandlung. Mit seiner Begeisterung kehrte auch seine uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit zurück. Rasch schloss er den dritten Band ab und warf sich auf die Vorbereitung seiner Vorträge in Amerika.

Der erste Vortrag sollte an der Michigan State University in Lansing stattfinden, der zweite an der University of Michigan in Ann Arbor. Weitere Termine wurden in Palo Alto und Boston vereinbart. Unsere Partei organisierte eine Kampagne für diese Vorträge, wie man sie an amerikanischen Universitäten seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr erlebt hatte. Wir kündigten sie als „großes intellektuelles Ereignis“ an – was den Studenten so selten, ungewöhnlich und begrüßenswert vorkam, dass gleich viel Interesse und Aufregung entstand. Ängstlich erwarteten wir die Ankunft Wadims und Galias. Seit meinem Besuch in Moskau waren mehrere Monate vergangen. Ich fragte mich, ob er den Strapazen der Reise und einer anstrengenden Vortragsreihe gesundheitlich gewachsen sein werde. Aber meine Sorgen sollten sich rasch als unbegründet erweisen. Wadim war in geradezu euphorischer Stimmung, und seine körperliche Verfassung erschien robust. Er legte ein nie erlahmendes Interesse an allen Aspekten des amerikanischen Lebens an den Tag. Wir stellten bald fest, dass wir einen der bemerkenswertesten Entdecker seit Marco Polo beherbergten. Zwischen den Diskussionen über die bevorstehenden Vorträge wollte Wadim unbedingt so viel von Detroit und Umgebung sehen, wie irgend möglich. Sein Interesse an Soziologie war nicht bloß theoretischer Natur. Wadim war ein hervorragender Beobachter und fasziniert von der Vielfältigkeit, den Merkwürdigkeiten und den Widersprüchen der Vereinigten Staaten. Er wollte so viel vom amerikanischen Leben spüren und schmecken, wie irgend möglich – und das meine ich wörtlich. Während eines Ausflugs zu einem Einkaufszentrum zog einmal ein Eiscafé Wadims Aufmerksamkeit auf sich. Er stürmte hinein und staunte über die unzähligen verschiedenen Eissorten. Er bestellte einen Becher mit drei Kugeln. Der Verkäufer hinter der Theke wies auf eine riesige Auswahl an Toppings – Streusel oder Saucen, mit denen in Amerika das Eis überzogen wird. Welches Topping, fragte er Wadim, hätte er denn gern? „Alle“, lautete die Antwort.

Die Vorträge gerieten zum Triumph. An der Michigan State University kamen beinahe 150 Studenten, Fakultätsmitglieder und Mitarbeiter der Universität. An der University of Michigan zählte das Publikum beinahe 250 Menschen. Wadim konnte komplexe Gedankengänge in einer Weise darstellen, die sie einem sehr bunt zusammengesetzten Publikum verständlich und aufschlussreich erscheinen ließ. Er legte großen Wert auf den Austausch mit dem Publikum. Am meisten genoss er die Fragerunde, weil sie ihm erlaubte, die Reaktion seines Publikums einzuschätzen, einzelne Elemente seiner Darlegungen zu verdeutlichen und neue Ideen auszuführen, die ihm vorher nicht gekommen waren.

Zum Abschluss seiner Tour durch die Vereinigten Staaten vereinbarten wir eine weitere Vortragsreise in anderen Teilen der Welt. Im Februar 1996 sprach Wadim in England und Schottland. Im Mai und Juni 1996 trat er in Australien in Hörsälen auf, in denen es nur Stehplätze gab. Es kamen so viele Besucher, dass es die Geschichtsfakultäten der Universitäten, wo diese Veranstaltungen stattfanden, regelrecht schockierte und oft geradezu verdross. Die vier Vorträge, die Wadim hielt – zwei in Sydney, zwei in Melbourne – zogen insgesamt beinahe 2000 Besucher an. Im Dezember 1996 reiste Wadim nach Deutschland, um an der Humboldt-Universität in Berlin und an der Ruhruniversität in Bochum zu sprechen.

Der Erfolg seiner Vorträge erfüllte Wadim mit Befriedigung. Doch die größte Freude bereitete ihm die Begegnung mit den Genossen vom Internationalen Komitee. Wegen seiner tiefen Isolation in Russland war er um so dankbarer, wenn er mit Freunden und wirklichen Genossen zusammen sein konnte. Bei ihnen fand er einen Geist des Idealismus und der Solidarität, der in den bürokratisierten Organisationen, die er aus der UdSSR kannte, einfach undenkbar war. Sich mit Trotzkisten aus aller Welt zu treffen und mit ihnen zusammenzuarbeiten, war für Wadim und Galia nicht nur eine politische und intellektuelle, sondern auch eine zutiefst emotionale Erfahrung. Je näher der Tag ihrer Rückkehr nach Moskau rückte, desto mehr verdüstere sich jedes Mal die Stimmung Wadims und Galias. Sie versuchten die Fassung zu bewahren, indem sie ihre Gastgeber mit Geschenken überhäuften. Wenn sie dann am Flughafen ankamen und es Zeit wurde, endgültig Lebewohl zu sagen, gab es immer Umarmungen und Tränen.

Das Leben in Moskau war für Wadim nicht einfach. Während die Auslandsreisen für seine Gesundheit und moralische Verfassung Wunder wirkten, folgte der Rückkehr nach Moskau oftmals ein körperlicher und emotionaler Rückschlag. Wadims Krankheit machte lange, anstrengende Chemotherapien unvermeidbar. Erschwert wurden sie jedoch durch die Isolation, die Wadim in Russland verspürte. Von seinem alten Freundes- und Kollegenkreis war wenig übrig geblieben. Viele hatten sich einfach an die neuen Umstände angepasst, indem sie ihren alten Überzeugungen und Prinzipien abgeschworen hatten. Wadim lehnte es ab, die persönliche Verbindung zu solchen Leuten in irgend einer Form aufrecht zu erhalten. Dann gab es andere, weniger anpassungsfreudige Freunde, die das Gefühl hatten, ihr Leben habe unter den völlig entwürdigenden Bedingungen des postsowjetischen Lebens jeden Sinn verloren. Wadim und Galia bemühten sich nach Kräften, solche Freunde zu unterstützen und ihnen Mut zu machen. Einmal lud Wadim eine alte Freundin zum Essen ein. Er wollte, dass ich sie kennenlernte und mit ihr über Arbeit und Perspektiven unserer Bewegung diskutierte. Sie hörte schweigend zu und sagte kaum ein Wort. Die wenigen Bemerkungen, die sie einstreute, verrieten pechschwarzen Pessimismus und Mutlosigkeit. Als die Frau gegangen war, erklärte Wadim: „Sie war einst die vielleicht ehrlichste und angesehenste Journalistin der Sowjetunion. Ihre Artikel über soziale Probleme und über die Bedingungen des Alltagslebens wurden von Millionen Menschen gelesen. Jede Woche erhielt sie Tausende Briefe. Dann wurde ihre Zeitung eingestellt, und sie konnte keine andere Arbeitsstelle finden. Sie hat kein Publikum mehr, und sie sieht keinen Grund mehr weiterzuleben. Ich kenne viele solche Leute.“

Um seinen Gemütszustand im Gleichgewicht zu halten, versuchte Wadim – soweit dies möglich war – eine gewisse Distanz zu den politischen Tagesereignissen zu wahren. Awner Sis, der brillante sowjetische Ästhetik-Wissenschaftler und einer der wenigen verbliebenen engen Freunde Wadims, sagte einmal: „Wenn wir im Fernsehen die Nachrichten anschauen, sehen wir nur zwei Typen von Leuten – Idioten und Verbrecher.“ Wadim versuchte, sich so gut er konnte auf seine historische Arbeit zu konzentrieren. Doch das Ausmaß des ihn umgebenden geistigen, gesellschaftlichen und moralischen Niedergangs traf ihn zutiefst. Obwohl er den konterrevolutionären Charakter des Stalinismus begriff, fand es Wadim schwierig zu akzeptieren - wenn nicht vom Verstand, so doch vom Gefühl her –, dass aus der Kommunistischen Partei, einer Organisation mit 40 Millionen Mitgliedern, nicht wenigstens ein paar Dutzend, wenn schon nicht einige Tausend, wirkliche Marxisten hervorgegangen waren.

Am Wochenende von Wadims sechzigstem Geburtstag hatte die Kommunistische Partei zu einer Demonstration gegen Jelzin aufgerufen, die auf den 42. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland fiel. Obwohl Wadim Sjuganow hasste, hoffte er doch, dass das Datum der Demonstration in irgend einer Weise noch verbliebene sozialistische Empfindungen unter der Moskauer Bevölkerung wachrufen würde. „Zumindest werden wir ein paar rote Fahnen sehen“, sagte Wadim und drängte mich, ihn zu begleiten, um die Demonstration anzuschauen. Ich kam gern mit, warnte ihn aber vor überzogenen Hoffnungen. Die Demonstration widerte Wadim an: man sah ein paar rote Fahnen, aber noch mehr Plakate mit Stalin-Bildern. Außerdem wurden Hakenkreuze gezeigt und antisemitische Flugblätter in großer Zahl verteilt. Vor der Lubjanka machte die Demonstration halt, und Sjuganow hielt eine Ansprache von den Stufen des alten Hauptquartiers der Geheimpolizei aus, in dem sechzig Jahre zuvor Tausende alte Bolschewiki gefoltert und erschossen worden waren. Als Wadim den Ort des Geschehens verließ, ließ er seiner Enttäuschung und seinem Verdruss freien Lauf. „Jetzt hast du mit eigenen Augen gesehen, was aus unserer Gesellschaft geworden ist“, sagte er immer wieder. Während unseres Wegs durch die Straßen Moskaus versuchte ich, seiner Niedergeschlagenheit entgegenzuwirken. Diese Demonstration repräsentiere nicht die gesamte russische Wirklichkeit, wandte ich ein. Es wirkten auch andere Einflüsse, nicht zuletzt seine eigenen Schriften. Wadim wollte sich nicht trösten lassen. „Was immer ich schreibe, es wird an den Zuständen in diesem Land ohnehin nichts ändern“, beharrte er. Wir kamen an einem kleinen Kiosk vorbei, neben dem einige Tische und Stühle aufgestellt waren. Wir kauften etwas Sodawasser und setzten uns. Das Streitgespräch ging weiter. Plötzlich bemerkten wir, dass ein Mann uns beobachtete. Gerade als wir uns fragten, wer er sein möge, kam er auf Wadim zu und sagte mit ruhiger Stimme: „Ich weiß, wer Sie sind. Bitte nehmen Sie meinen Dank an für das, was Sie geschrieben haben. Sie haben viele Freunde.“ Auf dem Rest des Heimwegs war Wadim in euphorischer Stimmung.

Solche Stimmungswechsel waren bei Wadim nicht ungewöhnlich. Er war ein komplexer, vielschichtiger Mann - eben so viel Künstler, wie Wissenschaftler. Sein Denken war so reich, weil es auf seltene Weise Logik und Gefühl verband. Wadims Fähigkeit, Informationen aufzunehmen, zu analysieren und zu verarbeiten, war geradezu beängstigend. Ein Teil des Geheimnisses der Geschwindigkeit, mit der er schrieb, bestand darin, dass er vieles von dem, was er las, im Gedächtnis behielt – Archivdokumente, Bücher, Zeitschriftenartikel – und nicht viel Zeit aufwenden musste, Notizen niederzuschreiben, durchzuarbeiten und umzustellen. Doch obwohl historische Fakten und soziologische Statistiken sehr viel Raum in seinem Gedächtnis beanspruchten, blieb immer noch genügend für die Poesie übrig. Mühelos rezitierte er die Verse Puschkins, Majakowskis und anderer russisch-sowjetischer Meister. Die Schönheit und Leidenschaftlichkeit seines Vortrags entsprang nicht einfach seinem Gedächtnis. Wadim begriff und empfand die Bilder, die er so einfühlsam wiederzugeben wusste.

Tödliche Krankheit

Als Wadim im Januar diesen Jahres aus Australien abreiste, war er voller Hoffnung. Zum Abschluss seines Vortrags hatte ich ihm die soeben ausgelieferte englisch-sprachige Übersetzung von „1937“ überreicht. Als er das Buch entgegennahm, erklärte Wadim vor dem Publikum, dass die vergangenen sechs Jahre die glücklichsten seines Lebens gewesen seien. Außerdem wolle er seinen Zuhörern ein Geheimnis anvertrauen. Den siebten und letzten Band seines Zyklus werde er dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale widmen, ohne dessen Unterstützung und Zuspruch sein Werk nicht möglich gewesen wäre. In den nächsten Monaten schien Wadim sich gesundheitlich zu behaupten. Im Mai reisten er und Galia nach Israel, um ihre Tochter zu besuchen. Nach seiner Rückkehr bereitete es Wadim plötzlich Mühe, seinen linken Arm zu bewegen. Seine Ärzte versicherten ihm, er habe lediglich einen leichten Schlag erlitten, und es gebe keinen Anlass zur Beunruhigung. Im August dehnte sich die Schwäche jedoch auf die Beine aus. Wadim begab sich in das Institut für Onkologische Wissenschaft, um Tests durchzuführen und sich behandeln zu lassen.

Obwohl mir Wadim telefonisch versicherte, dass sein Zustand stabil sei und die Ärzte eine Verbesserung erwarteten, befürchtete ich das Schlimmste und beschloss, ihn im September zu besuchen. Am 11. September traf ich inmitten des zunehmenden Chaos der Finanzkrise, die durch den Zusammenbruch des Rubels in der Vorwoche ausgelöst worden war, in Moskau ein. Ich begab mich sofort zum Krankenhaus. Zwanzig Jahre zuvor war es ohne Zweifel ein Musterbeispiel für die wissenschaftlichen Errungenschaften der Sowjetunion gewesen. Nun erschien es wie ein Symbol für die soziale Katastrophe, die über Russland hereingebrochen war. Der riesige Gebäudekomplex war kalt und unbeleuchtet. An diesem Freitag Abend konnte man nirgendwo medizinisches Personal finden. Wadims Zimmer befand sich im 18. Stock. Sämtliche Stationen waren verwaist. Man sah nur eine ältere Frau, die sich über einen Putzlappen beugte. Auf der Suche durch die dunklen Korridore fand ich Wadims Zimmer und trat ein. Wadim saß an einem kleinen Tisch und schrieb. Sein Aussehen hatte sich stark verändert. Galia wohnte mit Wadim in diesem Krankenhauszimmer und hatte sämtliche unerlässlichen Arbeiten übernommen, die das von der sozialen Krise gebeutelte Krankenhaus nicht mehr leisten konnte. Sie kochte für Wadim, wechselte seine Bettlaken, prüfte seinen Blutdruck und Blutzucker, verabreichte ihm seine Medikamente und wusch ihn.

Da es bereits spät war und Wadim müde war, kamen wir überein, unsere Diskussionen am nächsten Tag aufzunehmen. Als ich jedoch am Samstag morgen eintraf, hatte sich Wadims Zustand plötzlich drastisch verschlechtert. Er rang nach Luft und schien nur halb bei Bewusstsein. Ich verließ das Zimmer, um einen Arzt zu suchen. Ich fand den Doktor, Professor Litschnitzer, der die erste Operation an Wadim vorgenommen hatte und seine Behandlung überwachte. Jetzt sagte er mir, dass der Krebs auf Wadims Gehirn übergegriffen habe. Gegenwärtig mache Wadim eine schwere Krise durch. Er könne wenig tun, außer Wadims Atmung durch die Gabe von Sauerstoff zu erleichtern. Dann schlug Professor Litschnitzer jedoch vor, dass ich versuchen solle, mit Wadim zu sprechen. Ich ging zurück in das Zimmer, setzte mich neben Wadims Bett und befolgte Litschnitzers Rat. Wadim öffnete die Augen. Sein Atem ging leichter. Nach einer Stunde schien die Krise vorüber zu sein. Wadim richtete sich in seinem Bett auf. Er fragte, wie lange ich in Moskau sein würde. Ich teilte ihm meine Pläne mit. „Nu, tak“, antwortete Wadim. „Lass uns also eine Tagesordnung für unsere Diskussionen aufstellen.“ Als erstes wollte er das Material durchgehen, das er in seinen siebten Band aufnahm, insbesondere die Informationen über den Mord an Trotzki. Als nächstes, sagte Wadim, beabsichtige er einen Brief an Professor Hermann Weber in Deutschland zu diktieren. Dieser hatte eine Aufsatzsammlung zum Thema des stalinistischen Terrors herausgegeben, die einen abwertenden Hinweis auf Rogowins Werk enthielt. Laut Webers Buch hatte Rogowin in seiner Analyse des Terrors den Einfluss Trotzkis überbewertet. Und schließlich wollte Wadim noch besprechen, in welcher programmatischen Form die Sektionen des Internationalen Komitees den Begriff der sozialen Gleichheit aufnehmen wollten. Vor wenig mehr als einer Stunde war es möglich erschienen, dass Wadim noch am selben Tag sterben werde. Nun fasste er Diskussionen ins Auge, die mehrere Tage beanspruchen würden.

Wir verbrachten den Rest des Samstags damit, gemäß seinem Vorschlag das Material für den siebten Band zu sichten. Am Sonntag diktierte Wadim einen brillant argumentierenden Brief an Professor Weber, in dem er die gegen seine Arbeit vorgebrachte Kritik widerlegte. Am Montag sprachen wir über die Bedeutung der Forderung nach sozialer Gleichheit in der heutigen Gesellschaft und stritten uns wie gewöhnlich darüber. Am frühen Abend war Wadim ermüdet, und wir beschlossen unsere Gespräche zum Abschluss zu bringen. Er war äußerst zufrieden mit den Resultaten unserer Arbeit. Ob ich wohl, fragte er, im November noch einmal nach Moskau kommen könne? Ich versprach es ihm. Am nächsten Tag, dem Dienstag, verließ ich Russland. Nach einem Tag Aufenthalt in Westeuropa flog ich am Donnerstag zurück in die Vereinigten Staaten. Als ich nach Mitternacht in Detroit eintraf, war es in Moskau bereits Freitag Morgen. Fünfzehn Minuten, nachdem ich mein Haus betreten hatte, erreichte mich die Nachricht aus Moskau. Wadim war soeben verstorben.

Wadims Bestattung fand am 21. September in einem Außenbezirk von Moskau statt. Die russischen Medien nahmen keine Notiz von seinem Tod. Eine verhältnismäßig kleine Gruppe hatte sich versammelt, um diesem außergewöhnlichen Mann die letzte Ehre zu erweisen. Doch die Anwesenden repräsentierten alles, was die sowjetische Geschichte an Großem und Prinzipiellem aufzuweisen hat: Juri Primakow, der Sohn von General Witali Primakow, der 1937 von Stalin ermordet worden war; Juri Smirnow, der Sohn des Linksoppositionellen Wladimir Smirnow, der 1936 von Stalin ermordet worden war; Sorja Serebrjakowa, die Tochter des Linksoppositionellen Leonid Serebrjakow, und Waleri Bronstein, den Großneffen Lew Dawidowitsch Bronsteins, besser bekannt unter dem Namen Trotzki. Diese Überlebenden und Zeugen von Ereignissen, die zu den schrecklichsten des 20. Jahrhunderts gehören, waren imstande, die Bedeutung des Lebens Wadim Sacharowitsch Rogowins zu würdigen. In Zukunft werden noch viele mehr, in Russland und rund um die Welt, Wadims Bücher lesen und sein Andenken ehren. Denn der große Historiker ist selbst in die Geschichte eingegangen.

Anmerkungen:

1. Isaiah Berlin, Russische Denker, Frankfurt a.M.: Fischer 1995, S. 185.

2. E.H. Carr, Was ist Geschichte?, Stuttgart: Kohlhammer 1974, S. 37.

3. Wadim Rogowin, Vor dem Großen Terror – Stalins Neo-NÖP, Essen: Mehring Verlag 2000, S. 260.

4. Vierte Internationale, Jg. 19, Nr. 1, S. 81–82.

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Weiterführende Lektüre

Werke von Wadim Rogowin beim Mehring Verlag:

Gab es eine Alternative zum Stalinismus? Artikel und Reden, Essen 1996.

Band 1: Trotzkismus, Essen 2010. [Einleitung online]

Band 2: Stalins Kriegskommunismus, Essen 2006. [Einleitung online]

Band 3: Vor dem Großen Terror – Stalins Neo-NÖP, Essen 2000. [Einleitung online]

Band 4: 1937 – Jahr des Terrors, Essen 1998. [Einleitung online]

Band 5: Die Partei der Hingerichteten, Essen 1998. [Einleitung online]

Band 6: Weltrevolution und Weltkrieg, Essen 2001. [Einleitung online]

Weitere Essays und Würdigungen auf der WSWS:

Eine Würdigung Wadim Rogowins
[28. Mai 2002]

Zum 20. Todestag des marxistischen Historikers und Soziologen Wadim Rogowin

[21. September 2018]

Wadim Rogowin und die Soziologie des Stalinismus
[3. November 2018]

Eine Würdigung Wadim Rogowins von Galina Rogowina-Waluschenitsch
[18. Juni 2002]

Wadim Rogowin und die Bedeutung seiner historischen Arbeit
[30. Oktober 1998]

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