Führender Wissenschaftler verurteilt britische Politik der „Herdenimmunität“

Großbritannien hat sich in der vergangenen Woche zum Zentrum der Coronavirus-Pandemie in Europa entwickelt. Die offizielle Zahl der Todesfälle betrug gestern Abend mehr als 16.000, allein letzten Freitag wurden weitere 847 Tote gezählt. Unter den Opfern befindet sich auch der ehemalige britische Fußballnationalspieler Norman Hunter, der 1966 mit seiner Mannschaft die Weltmeisterschaft gewann.

Die konservative Regierung von Boris Johnson hat nichts zur Vorbereitung auf die Pandemie unternommen. Stattdessen hat sie auf eine Politik der „Herdenimmunität“ gesetzt, bei der sich Millionen Menschen mit Covid-19 infizieren sollten und die hunderttausende Todesopfer zur Folge haben könnte.

Dominic Cummings, Johnsons wichtigster Berater, verteidigte diese Politik Ende Februar hinter verschlossenen Türen auf brutalste Weise. Laut der Times fassten einige Torys, die bei seiner Rede anwesend waren, seine Positionen folgendermaßen zusammen: „Herdenimmunität schützt die Wirtschaft. Wenn das bedeutet, dass ein paar Rentner sterben: Pech gehabt.“

Die britische Regierung musste diese Politik im März aufgrund des weit verbreiteten Widerstands, der u. a. von den wissenschaftlichen Beratern der Regierung vom Imperial College kam, offiziell aufgeben. Allerdings wird immer klarer, dass sie trotz der befristeten Ausgangsbeschränkungen, die den Zusammenbruch des National Health Service (NHS) verhindern sollen, weiterhin verfolgt wird.

Am Freitag verurteilte Professor Anthony Costello die Politik der „Herdenimmunität“ und machte dabei deutlich, dass außer den Ausgangsbeschränkungen keine nennenswerten Maßnahmen umgesetzt wurden. Costello ist Professor für internationale Kindergesundheit und Direktor des Institute for Global Health am University College London (UCL). Von 2015 bis 2018 war er Direktor für Mütter-, Kinder- und Jugendgesundheit bei der Weltgesundheitsorganisation.

In einem Interview mit dem Daily Telegraph bezeichnete er die Reaktion der Regierung auf Covid-19 als „totales Chaos“. Weiter sagte er: „Wir haben bisher in jedem Stadium das Falsche getan. Wir müssen unsere Politik ändern. Doch dafür gibt es im Moment keine Anzeichen. Das Gerede, die Kurve abzuflachen, deutet darauf hin, dass eine Herdenimmunität angestrebt wird. Stattdessen hätten wir die Epidemie unterdrücken und eindämmen müssen.“

Costello warnte, ohne systematische Massentests würde die britische Bevölkerung erst nach acht bis zehn Coronavirus-Infektionswellen eine ausreichende Immunität erlangen. Diese Prognose basiert auf den Aussagen des obersten wissenschaftlichen Beraters der Regierung, Sir Patrick Vallance. Von den 66 Millionen Einwohnern Großbritanniens müssten 40 Millionen mit dem Virus infiziert werden, um „Herdenimmunität“ zu erlangen.

Er warnte weiter: „Laut aktuellen Schätzungen, auch denen des wissenschaftlichen Chefberaters, wären nach dieser Welle nur etwa 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung infiziert. Für eine Herdenimmunität wären also weitere fünf oder vielleicht sechs Wellen notwendig, um die 60 Prozent zu erreichen.“

Costello betonte: „Falls die Ergebnisse der aktuellen Berechnungen stimmen, werden wir keine Herdenimmunität erreichen.“ Damit bezog er sich auf eine Studie von niederländischen Wissenschaftlern, laut denen auf dem Höhepunkt der dortigen Pandemie nur drei Prozent der niederländischen Bevölkerung Immunität gegen das Virus erlangt hatten. Der Neurowissenschaftler Professor Karl Friston vom UCL erklärte, dass bis zum Ende der ersten Phase der Ausgangsbeschränkungen im Durchschnitt nur 6,4 Prozent der europäischen Bevölkerung aufgrund selbst produzierter Antikörper immun sein werden.

Jede Welle würde Massen an Todesopfern fordern. Am Freitag erklärte Costello im Gesundheitsausschuss des Unterhauses: „An dieser [ersten] Welle könnten [in Großbritannien], bis sie vorbei ist, 40.000 Menschen sterben.“

Großbritanniens Krankenhäuser haben mittlerweile rund 16.000 Tote gemeldet. Schätzungen zufolge könnten es außerhalb der Krankenhäuser nochmals genauso viele sein. Vor diesem Hintergrund sind selbst Costellos schlimme Zahlen möglicherweise zu niedrig.

Laut Costello sind Ausgangsbeschränkungen erfolglos, wenn sie die einzige Maßnahme blieben: „Sie sollten mit Tests, Kontaktverfolgung und digitalen Apps kombiniert werden, wie es in Südkorea bereits erfolgreich umgesetzt wurde.“ Solche Maßnahmen wurden zwar wiederholt versprochen, doch keine wurde bisher umgesetzt.

Als sich die Pandemie in Großbritannien auszubreiten begann, kündigte die Regierung an, es werde keine systematischen Tests geben. Wer Symptome habe, solle sich in häusliche Quarantäne begeben. Als es dann täglich Hunderte Todesopfer gab, mussten die Torys versprechen, bis Ende des Monats 100.000 Tests durchzuführen. Allerdings haben sie dieses Ziel noch nicht einmal ansatzweise erreicht.

Statt flächendeckend zu testen, behaupteten sie vor Wochen, Antikörpertests seien der richtige Weg. Auf diese Weise könne man feststellen, wer sich mit Covid-19 angesteckt, bereits Antikörper entwickelt habe und somit einen natürlichen Schutz gegen die Krankheit aufweise. Die Regierung kaufte für mindestens 16 Millionen Pfund zwei Millionen Testkits aus China, die sich jedoch als unzuverlässig erwiesen. Jetzt erklären die Wissenschaftler, sämtliche dieser Tests seien fehlerhaft, und aufgrund der Mutationen des Virus werde es ohnehin keine Immunität geben.

Die Umwandlung von Messehallen in London, Birmingham und Manchester in Behelfskrankenhäuser ist eine einzige Katastrophe. Das Londoner Behelfskrankenhaus mit 4.000 Plätzen nahm am Osterwochenende nur 19 Patienten auf, am Dienstag waren es gerade mal 30. Es ist dort nicht möglich, Covid-19-Patienten mit Vorerkrankungen – also die große Mehrheit der Infizierten – zu behandeln. Eine Aufnahme wird entsprechend verweigert. Krankenhäuser in London waren gezwungen, die Anzahl der Betten auf ihren Intensivstationen zu verdoppeln – allerdings auf Kosten anderer Pflegestationen und sogar von Operationssälen –, um mit der Katastrophe fertig zu werden.

Doch der eigentliche Grund, warum die Krankenhäuser bisher auch ohne die Behelfseinrichtungen zurechtkamen, sind die Tausenden Covid-19-Patienten, die in Altenheimen oder zu Hause sterben. Die Regierung rät weiterhin dazu, bei Verdacht auf eine Covid-19-Infektion in häuslicher Quarantäne zu bleiben. Viele tun das und beschränken sich darauf, ihren Hausarzt oder den Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) zu konsultieren. Wenn ein schwerer Verlauf der Krankheit bemerkt und der NHS um Hilfe gebeten wird, ist es für viele bereits zu spät. Andere schieben den Anruf beim NHS hinaus, weil den Dienst nicht unnötig belasten wollen. Viele befürchten zudem, dass ein Krankenhausaufenthalt den sicheren Tod bedeutet.

Besonders kriminell ist, dass die Regierung für das medizinische Personal nicht die Schutzausrüstung vorrätig hat, die zur sicheren Behandlung von Covid-19-Patienten notwendig wäre. Folglich kam es zu Masseninfektionen und zahlreichen Todesopfern unter dem Krankenhauspersonal, den Patienten und anderen Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Laut Nursing Notes sind bis Freitagmorgen 61 Pflegekräfte gestorben.

Am vergangenen Donnerstag wurde die Leitung des Royal College of Nursing vom Nationalen Gesundheitsdienst gewarnt, es gebe nur noch für die nächsten 48 Stunden langärmelige Behandlungskittel in ausreichender Menge. Die Kittel sind für die Behandlung von Coronavirus-Patienten unverzichtbar.

Angesichts der akuten Krise ist es unverantwortlich und kriminell, dass mehrere europäische Regierungen sowie US-Präsident Trump ein Ende der Ausgangsbeschränkungen fordern und Millionen zurück zur Arbeit schicken wollen. Und noch während sich Regierungschef Boris Johnson von Covid-19 erholt – und damit ironischerweise beinahe zum Opfer seiner eigenen Politik geworden wäre –, fordert auch der Vorsitzende der oppositionellen Labour Party Sir Keir Starner eine „Exit-Strategie“ von der Regierung. Eine zentrale Komponente ist die Wiedereröffnung von Schulen im ganzen Land.

Ein solches Vorgehen wird den Unmut in der Bevölkerung weiter anheizen. Millionen Arbeiter verfolgen die wachsenden Anzahl von Todesopfern und die verheerenden Folgen der Pandemie für den NHS. Sie werden sich weigern, ohne ausreichende Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz ihr Leben zu riskieren.

Laut einer Studie des Amts für nationale Statistik von letzter Woche erklärten mehr als vier von fünf Erwachsenen in Großbritannien (84,2 Prozent), sie seien sehr oder etwas besorgt über die Auswirkungen des Coronavirus auf ihr Leben. Laut einer anderen Umfrage des Institute for Public Policy Research und YouGov waren fast drei Viertel (72 Prozent) der Beschäftigten im Gesundheitswesen unzufrieden mit der Präventions- und Testpolitik der Regierung. Ganze 96 Prozent der Bevölkerung fordern, dass die Regierung weitere Maßnahmen zum Schutz von Gesundheits- und Pflegepersonal trifft.

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