Trotz weiterhin hohem Risiko beendet Deutschland den Corona-Lockdown

Der R-Wert von 1,2 am Pfingstmontag ist ein deutlicher Hinweis auf die Gefahr einer zweiten Pandemiewelle. Dennoch wollen im Juni praktisch alle Bundesländer zur „Normalität“ zurückkehren. Für hunderttausende Arbeiter stellt dies ein tödliches Risiko dar.

Weltweit hat die Corona-Pandemie längst die Zahl von sechs Millionen Infizierten überschritten, von denen über 6 Prozent oder über 375.000 Menschen gestorben sind. Auch in Deutschland sind bisher mehr als 8500 Menschen an Covid-19 verstorben.

Nach wie vor schätzt das Robert-Koch-Institut (RKI) die Gefährdung durch Covid-19 als insgesamt „hoch“ und für Risikogruppen als „sehr hoch“ ein. Die Reproduktionszahl (R-Wert), welche angibt, wie viele weitere Personen ein Infizierter durchschnittlich ansteckt, liegt bei 1,2. Damit ist sie schon den vierten Tag in Folge deutlich über den kritischen Grenzwert 1 gestiegen. Jeder R-Wert über 1 beinhaltet die Gefahr, dass sich das Virus wieder exponentiell ausbreitet.

Dennoch kehren die verantwortlichen Politiker nicht, wie versprochen, zu wirksamen Maßnahmen zurück. Gerade die Pfingsttage haben gezeigt, dass die bundesdeutschen Politiker von AfD bis Linkspartei entschlossen sind, im Interesse der Wirtschaft rasch wieder „Normalität“ einkehren zu lassen. Besonders aggressiv treibt Bodo Ramelow (Die Linke) den neuen Kurs voran: Der Ministerpräsident von Thüringen hat den „Krisenmodus“ offiziell für beendet erklärt, den Übergang „von Verboten zu Geboten“ angekündigt und den thüringischen Krisenstab aufgelöst.

Auch in allen anderen Bundesländern werden die Pandemie-Schutzmaßnahmen – Maskenpflicht, Mindestabstand, Kontaktbeschränkung – auf riskante Weise über Bord geworfen. Über Nacht sind Geschäfte, Kaffees, Restaurants, Sportstätten wieder geöffnet, als wäre nichts gewesen. Gottesdienste und Versammlungen, ja sogar Chorproben sind zugelassen. Die Bahn lässt ihre Züge ohne Einschränkung der Passagiere oder andere, wirksame Schutzmaßnahmen rollen und füllt sie notfalls bis zum letzten Platz.

Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) hat für den heutigen Mittwoch einen Beschluss zur Aufhebung der Reisewarnung angekündigt. In Mecklenburg-Vorpommern wurde schon vor Pfingsten das Reiseverbot aufgehoben, so dass schätzungsweise 300.000 Touristen das Bundesland an der Küste besuchten. Zum 15. Juni sollen dort auch Hallen- und Erlebnisbäder wieder öffnen. In den anderen Bundesländern sieht es kaum anders aus.

Die Ministerpräsidenten der Länder wetteifern geradezu darin, wer am schnellsten alle Schulen und Kitas wieder öffnet. Schon Mitte Mai waren in Berlin, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Brandenburg die Schulen und Kitas wieder offen. Auch Baden-Württemberg, das die zweihöchste Corona-Infektionsrate aufweist, öffnete schon im Mai seine Schulen. Ab Juni folgen nun alle anderen Bundesländer nach.

Selbst in Bayern und im Saarland, den Ländern mit der höchsten und dritthöchsten Infektionsrate, sollen die Schulen noch vor den Sommerferien wieder den regulären Betrieb aufnehmen. Dabei häufen sich die Meldungen über Schulklassen, die nach wenigen Tagen von neuen Corona-Ausbrüchen betroffen sind. In Göttingen, wo nach einer Familienfeier 68 Menschen positiv getestet wurden, sind durch Kontaktpersonen unter den Kindern und Jugendlichen mittlerweile dreizehn Schulen betroffen.

Rücksichtslos werden auch die Kita-Erzieher wieder mit großen Kindergruppen konfrontiert, und auch Lehrer und Erzieher, die den Risikogruppen angehören, werden nicht verschont. Dabei ist es mit kleinen Kindern kaum möglich, Abstand und Mund-Nasen-Schutz einzuhalten. Wie ein Erzieher aus Nordrhein-Westfalen der WSWS berichtete, klaffen Theorie und Praxis weit auseinander.

Auch die WHO-Vorgaben für das Testen, Kontakteverfolgen und Isolieren werden nicht erfüllt. Die Gesundheitsämter sind stark überlastet, und all das Personal, das ihnen zum systematischen Corona-Management zusätzlich zugeteilt wurde, wird bereits wieder abgezogen.

Vor einer Woche räumten mehr als 60 Prozent der Gesundheitsämter bundesweit in einer Umfrage ein, dass sie gar nicht genügend Personal hätten, um bei Corona-positiven Fällen die Kontaktnachverfolgung zu gewährleisten. Nur jedes achte Amt gab an, dass es auch enge Kontaktpersonen ohne Symptome testen lasse. Das waren gerade mal 21 von 375 Gesundheitsämtern!

Wie der Berliner Charité-Virologe Drosten im Spiegel erklärte, trug der Shutdown im März dazu bei, in Deutschland 50.000 bis 100.000 Todesfälle zu vermeiden. Ihn jetzt wieder aufzuheben, sei gerade in Schulen und Kitas ein kritisches Manöver, da „wir immer noch nicht genau wissen, wie ansteckend Kinder sind“, so Drosten: „Dann müssen wir schauen, mit welchen Werkzeugen wir einen größeren Ausbruch dort schon in der Frühphase verhindern können – der sonst garantiert kommen wird.“

Die Virologen sind sich einig, dass das Virus sich nicht nur über Tröpfchen, sondern auch über sehr viel kleinere Aerosole ausbreitet, für die es nicht reicht, anderthalb Meter Abstand einzuhalten. Hinzu kommt die Verbreitung durch so genannte Superspreader, die als Einzelpersonen eine ganze Gruppe anstecken können. Im Spiegel-Interview betonte Drosten, dass man sich darauf einstellen müsse, neue Richtlinien zu entwickeln, die „Testlogistik“ ganz neu zu planen und zu überlegen, „wie wir beginnende Ausbrüche verfolgen… Wenn man merkt, wo sich ein Ausbruch zusammenbraut, muss man gleich voll draufhauen.“

Allerdings schlagen die Politiker all diese Erkenntnisse und klaren Maßregeln in den Wind. Verfrüht und rücksichtslos setzt die herrschende Klasse im Interesse der Wirtschaft und der Banken eine allgemeine Rückkehr an die Arbeit durch. Dabei sind die gravierenden Probleme und Mängel, die sich in der Pandemie gezeigt haben, auch nicht annähernd behoben worden.

Die Arbeiterklasse bezahlt dafür einen hohen Preis. Laut RKI sind unter den offiziell bestätigten Toten auch 75 Personen, die in Krankenhäusern und sozialen Einrichtungen gearbeitet hatten. Dazu zählen 20 Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger und Notfallsanitäter, 48 Altenpfleger und andere Heimbetreuer, sowie 7 Personen, die in Kitas, Kinderheimen und Schulen tätig waren. Sie alle haben den riskanten Umgang mit der Pandemie, das Fehlen von Handschuhen, Schutzausrüstung, etc. und den allgemeinen mörderischen Arbeitsstress mit dem Leben bezahlt.

In den Pflegeheimen sind über 3700 Menschen, hauptsächlich Senioren, einen verfrühten und unnötig grausamen Tod gestorben. Bei all diesen Zahlen ist die Dunkelziffer sehr hoch, wie das Institut selbst einräumt. Zudem lassen sich die Zahlen nicht genau zuordnen. Beispielsweise zählt das Robert-Koch-Institut in die letzte Gruppe der „Pflegeeinrichtungen“ auch die Obdachlosenunterkünfte, Flüchtlingsheime und Gefängnisse. So lässt sich ein genaues Bild nicht erkennen.

Alarmierend ist eine weitere Zahl: Demnach sind 51 Personen verstorben, die in Gaststättenküchen, Gemeinschaftsküchen oder „fleischverarbeitenden Betrieben“ tätig waren. Dazu zählen zweifellos auch Werksvertragsarbeiter in den Schlachthöfen, die immer wieder als Corona-Hotspots in Erscheinung getreten sind.

Erst letzte Woche sind in einem niederländischen Schlachthof in Groenlo, nahe der Grenze zu NRW, 147 Mitarbeiter positiv auf das Virus getestet worden, von denen 79 in Deutschland wohnen. Das ist mehr als jeder fünfte der Groenloer Fleischfabrik, die zur Schlachthof-Gruppe Vion gehört und fast 700 Arbeiter beschäftigt. Das Unternehmen, das Schlachthöfe in Holland und Deutschland mit insgesamt 12.000 Beschäftigten betreibt, erzielt Umsätze von über fünf Milliarden Euro.

Wie gewohnt sind unter den infizierten Arbeitern zahlreiche Arbeitsmigranten aus Osteuropa, die zu den am meisten ausgebeuteten Schichten gehören. Sie werden ebenso wenig geschützt wie hunderttausende Zeit- und Leiharbeiter, die in heruntergekommenen Unterkünften hausen, wie auch Erntehelfer und Arbeiter in Auto- und Zulieferbetrieben. Daneben sind hunderte Flüchtlinge betroffen, die in den Ankerlagern wie Gefangene eingesperrt werden.

Ein weiterer Pandemieherd ist die Paket- und Logistikbranche. Hier hat sich der jüngste Corona-Ausbruch erneut bei Amazon ereignet. Im Verteilerzentrum FRA3 in Bad Hersfeld haben sich sechs Arbeiter infiziert. Schon Anfang Mai wurden zwei Beschäftigte Corona-positiv getestet. Nur die unmittelbaren Kontaktpersonen wurden in Quarantäne geschickt. Zuvor hatte es schon Dutzende Corona-Fälle bei Amazon in Winsen an der Luhe und am Standort Pforzheim gegeben.

In der Belegschaft wächst der Zorn, da niemand, weder die Geschäftsleitung, noch das Gesundheitsamt noch die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, darauf besteht, den Betrieb stillzulegen, in dem sich das Virus ungehindert ausbreiten kann. Nicht einmal getestet werden die Beschäftigten. Dabei hat Amazon trotz der räumlichen Enge, besonders in den Umkleideräumen, noch neue Leute eingestellt. Anfang Juni ist der sogenannte Corona-Zuschlag von zwei Euro die Stunde weggefallen. Der Spiegel zitiert eine wütende Mitarbeiterin mit den Worten: „Der Corona-Zuschlag fällt weg, aber das Virus ist jetzt da.“

Inzwischen mehren sich in den Medien auch die Berichte von Betroffenen, die Covid-19 nur knapp überlebt haben. Einer derjenigen, deren Leben am seidenen Faden hing, ist Ludger Verst, der in der Frankfurter Rundschau darüber berichtet: „Dieses Virus ist ein unsichtbarer, nicht fassbarer Gegner. Und ich erlebe nun, wie es meinen Körper sabotiert. Es frisst sich in die Lunge und verklebt ihr die Flügel. Tief einzuatmen gelingt mir nicht mehr. Immer öfter röhrender, blutiger Husten. Auch das Fieber steigt wieder. Unter der Maske zerspringt mir der Schädel …“

Das rasche Beenden der Pandemiemaßnahmen ist ein gefährliches Spiel mit dem Feuer. Christian Drosten hatte die schrittweise Lockerung einen „Tanz mit dem Tiger“ genannt. Für die verantwortlichen Politiker ist es eher ein Übergang zur berüchtigten Strategie der „Herdenimmunität“: Sie schicken die Arbeiterklasse zurück an die Arbeit und versäumen es auf kriminelle Weise, sie vor der drohenden Gefahr zu schützen.

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