Bundesweite Schulöffnungen: Ein riskantes Spiel mit Gesundheit und Leben

Millionen Kinder und Hunderttausende Lehrer kehren in diesen Tagen in die Schulen zurück. Es herrscht wieder uneingeschränkter Präsenzunterricht, mit allem was dazu gehört – überfüllten Klassenräumen, ausfallenden Stunden, heruntergekommenen Sanitäranlagen und vollgestopften öffentlichen Verkehrsmitteln und Schulbussen auf dem Weg zur Schule.

Gleichzeitig ist die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland auf dem höchsten Stand seit der Einführung der Schutzmaßnahmen. Allein in den letzten beiden Tagen infizierten sich 1226 und 1445 Menschen mit dem tödlichen Coronavirus. In den USA, wo alle eineinhalb Minuten ein Corona-Patient stirbt, müssen Eltern oder Studierende mittlerweile ein Papier unterschreiben, das die Schulleitung von jeglicher Haftung ausnimmt, falls ein Kind in der Schule an Covid-19 erkrankt und stirbt.

Screenshot der Erklärung, die Studierende am Bates College in Lewiston, Maine, unterschreiben müssen

Vor diesem Hintergrund nannte Steffen Seibert, Sprecher der Bundesregierung, am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Berlin zwei Ziele im Umgang mit der Pandemie: „Das eine ist, die Wirtschaft so gut es geht am Laufen zu halten und das andere ist, den Schul- und den ganzen Bildungsbetrieb wieder voll in Gang zu setzen.“ Wie viele Tote diese Politik fordern wird, erklärte der Regierungssprecher nicht – und die anwesenden Hauptstadtjournalisten fragten ihn auch nicht danach.

Seibert brachte die Haltung der gesamten herrschenden Klasse auf den Punkt. Bereits am Samstag hatten vier große Wirtschaftsverbände der Hauptstadt in einer gemeinsamen Erklärung in bemerkenswerter Offenheit erklärt: „Es ist höchste Zeit, dass der Regelbetrieb an den Berliner Schulen wieder startet.“ Es liege „im Interesse der Unternehmer und ihrer Mitarbeiter“, die Kinder baldmöglichst in die Schulen zurückzuschicken.

Die Rückkehr der Kinder in die Schulen, damit die Eltern als Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, stellt die Weichen für eine weitere verheerende Ausbreitung der Pandemie, die unzählige neue Todesopfer und unsägliches Leid hervorrufen wird. Immer neue Studien belegen, wie gefährlich die Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts ist. Die Behauptung, Kinder infizierten sich nicht oder gäben das Virus nicht weiter, ist eindeutig wiederlegt.

In den USA wurden allein in den letzten beiden Juliwochen 97.000 Kinder positiv auf Corona getestet – seit Beginn der Pandemie waren es einem aktuellen Bericht der American Academy of Pediatrics zufolge sogar 338.000. Mit den Schulöffnungen bereiten die deutschen Landesregierungen ähnliche Zustände vor.

In Mecklenburg-Vorpommern, wo die Schulen bereits Anfang letzter Woche öffneten, mussten ein Gymnasium in Ludwigslust und eine Schule in Rostock wegen positiv getesteter Lehrer, bzw. Schüler bereits wieder geschlossen werden. Ähnliche Fälle gab es auch in Hamburg.

In Berlin, wo der Unterricht am Montag wieder aufgenommen wurde, sind an acht Schulen Corona-Infektionen festgestellt worden, wie die Senatsbildungsverwaltung dem Lokalsender rbb mitteilte. Eine, das Gerhart-Hauptmann-Gymnasium in Treptow-Köpenick mit 800 Schülern, wurde am Donnerstag bereits wieder geschlossen.

In Nordrhein-Westfalen, wo das Schuljahr erst am Mittwoch begann, sind eine Kita in Dortmund und eine Grundschule in Essen wegen Corona-Infektionen wieder geschlossen worden. Andere Schulen blieben trotz positiver Tests offen.

Trotzdem setzen die Landesregierungen die Öffnung der Schule mit großer Brutalität in die Tat um. In Schleswig-Holstein, das von der CDU, den Grünen und der FDP regiert wird, werden selbst gefährdete Lehrer mit ärztlichem Attest zum Unterrichten gezwungen. Von 1600 Lehrern, die zu Corona-Risikogruppen gehören, sind lediglich 32 vom Unterricht befreit worden. Alle anderen müssen unterrichten, auch wenn eine Corona-Infektion für sie ein mögliches Todesurteil bedeutet.

In Nordrhein-Westfalen, wo am Mittwoch 200.000 Lehrer und 2,1 Millionen Schüler in den Präsenzunterricht zurückkehrten, herrscht selbst für Kinder von Hochrisikopatienten unbedingte Schulpflicht. „Grundsätzlich sind Schülerinnen und Schüler verpflichtet, am Präsenzunterricht teilzunehmen. Es gelten die allgemeinen Bestimmungen zur Schul- und Teilnahmepflicht“, heißt es dazu auf der Seite des NRW-Schulministeriums.

Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) hat bereits offen eingestanden, dass Covid-19-Opfer fester Bestandteil ihres Schulkonzepts sind. „Wir können Menschen nicht davor schützen, an Covid-19 zu erkranken“, sagte sie in einem Radio-Interview. Es werde „immer Erkrankungen geben“. Die Regierung könne nur dafür sorgen, dass „unsere Krankenhäuser darauf vorbereitet sind, dass genügend Intensivbetten zur Verfügung stehen, dass genügend Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen. Aber wir können nicht alle Menschen schützen.“

Mit über 2.370 Neuinfektionen in den vergangenen sieben Tagen (allein 413 Neuinfektionen innerhalb eines Tages) weist NRW bei rund 52.600 Fällen mittlerweile die bundesweit höchste Infektionsrate auf. In Bochum nähert sich die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner mit durchschnittlich 30 während der letzten sieben Tage gefährlich dem Wert von 50, bei dem ein regionaler Lockdown droht.

„Was mir nicht in den Kopf will, ist der Regelunterricht angesichts steigender Infektionszahlen, nachweislich ja auch durch die Urlaubszeit“, kommentiert Martina R. aus Nordrhein-Westfalen auf Facebook. „Eigentlich müsste der Unterricht für mindestens drei Wochen so gestaltet sein, dass möglichst wenige Leute infiziert werden. Vorerkrankte sollten beispielsweise generell im Homeschooling unterrichtet werden, der Rest in einer Mischung aus Präsenz und Homeschooling, vor allem kleinere Gruppen sind nötig.“

Mit Blick auf die Neuinfektionen in Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg fügt Martina hinzu: „Es zeigt sich ja jetzt schon, dass Regelbetrieb so nicht funktionieren kann. Politik hat kein Gewissen – und Kinder kosten Geld, bringen aber nichts in die Kassen, haben auch keine Lobby. Mit Wissenschaft hat der Regelbetrieb jedenfalls nichts zu tun.“

Schulministerin Gebauer und Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), die für ihre besonders rücksichtslose Corona-Politik verhasst sind, hatten sich zuletzt als einzige Landesregierung gezwungen gesehen, für NRW kurzfristig eine Maskenpflicht im Unterricht anzuordnen – allerdings nicht für Grundschüler. In allen anderen Bundesländern – darunter auch dem von der Linkspartei geführten Thüringen – sehen die Regelungen keinen Mund-Nasen-Schutz vor.

Brigitte, eine Lehrerin aus Rheinland-Pfalz, berichtete der World Socialist Website: „Bei uns geht es bis jetzt offiziell am Montag mit eingeschränktem Regelunterricht weiter. Was das genau heißt, war vor den Ferien noch nicht klar. Genauere Instruktionen soll es erst morgen geben. Ansonsten: volle Klassen, häufig lüften, Masken außerhalb des Saales auf den Fluren und im Pausenhof. In den Klassen – wo es zum Teil schon ordentlich eng ist – soll es keine Maskenpflicht geben. Ich bin schon freudiger am ersten Schultag in die Schule gegangen als dieses Jahr.“

Brigittes Kollegin Maria berichtet von ähnlichen Zuständen in Hessen: „Vor den Ferien kam vom Kultusministerium der ‚Plan‘, dass der Unterricht ähnlich wie vor Corona laufen soll. Das heißt: volle Klassenstärke und volle Stundentafel – aber Händewaschen soll beibehalten werden. Ob eine Maskenpflicht im Schulhof gelten soll, soll die jeweilige Schulleitung entscheiden. Richtung Digitalisierung kam nichts. Am Montag geht es wieder los, und ich bezweifle, dass da noch etwas kommen wird.“

Wissenschaftliche Studien aus Israel und Japan sowie Untersuchungen der Berliner Charité haben bewiesen, dass Bedingungen, wie sie in Klassenzimmern, Turnhallen und Umkleidekabinen herrschen, ein besonders großes Risiko für sogenannte „Clusterinfektionen“ und „Superspreading“-Ereignisse darstellen, in deren Verlauf innerhalb kürzester Zeit hunderte Menschen erkranken.

Barbara, eine Gymnasiallehrerin aus Niedersachsen, sagte dazu im Gespräch mit der WSWS: „Ein Massenausbruch in der Schule – das würde Schulschließung bedeuten – genau wie ein Massenausbruch in der Stadt. Den hatten wir im Juni und mussten deshalb zwei weitere Wochen online unterrichten.“

Obwohl auch an Barbaras Oberschule übernächste Woche der Regelbetrieb wieder beginnen soll, habe sie bisher keinerlei Informationen erhalten, wie der Unterricht konkret gestaltet werden soll, beziehungsweise welche Maßnahmen zu treffen sind. „Gestern bekamen wir unsere Pläne des Unterrichtseinsatzes. Stundenpläne sind noch nicht fertig. Ich würde mich freuen, wenn wir die ersten beiden Wochen auch im Unterricht und in den Lehrerzimmern eine Maskenpflicht hätten. Viele der Kollegen und Schüler sind im Urlaub gewesen – das ist mir persönlich ziemlich unheimlich.“

Wie weitgehend die Bemühungen der Landesregierungen sind, im Interesse der kapitalistischen Profitwirtschaft möglichst rasch zur Tagesordnung überzugehen, zeigt auch der Fall Bayern. Dort hatte das Landesgesundheitsamt 44.000 Urlaubsrückkehrer, die sich seit dem 30. Juli freiwillig auf das Coronavirus hatten testen lassen, bis gestern nicht über ihr Ergebnis in Kenntnis gesetzt. Unter den getesteten Rückkehrern waren rund 900 Infizierte, die damit über Tage hinweg unentdeckt blieben.

Dieselbe Informationspolitik kommt auch in den Schulen zur Anwendung. Ricarda, die bereits am kommenden Montag in ihre Schule zurückkehren soll, erzählt uns: „Ich habe nicht einmal einen Stundenplan. Die Schulleitung wartet bis zum Schluss auf neue Instruktionen. Ich habe die Tische schon einmal einzeln aufgestellt. Dann mache ich in den Einführungstagen eine gezielte Iserv-Schulung [Online-Schulungssystem] mit den Schülern, falls es wieder zur Schließung kommen sollte. Die Schüler sollen ihre Geräte mitbringen und ich übe mit ihnen. Ich hoffe, das reicht.“

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