Anhaltende Massenproteste in Belarus. Konflikt zwischen Russland und der Nato verschärft sich

In Belarus demonstrierten am Sonntag erneut Hunderttausende gegen Präsident Alexander Lukaschenko, der sich zum Sieger der Wahl vom 9. August erklärt hatte. Laut russischen und belarussischen Presseberichten war die Demonstration in Minsk am letzten Wochenende die bisher größte. Sie hatte mehr Teilnehmer als vor zwei Wochen, als sich bereits zwischen 100.000 und 200.000 Menschen beteiligt hatten. Auch im Rest des Landes demonstrierten Zehntausende.

Soldaten hinter Stacheldraht bei den Protesten in Minsk am 30. August

Die Demonstrationen werden vom Widerstand gegen das immer brutalere Vorgehen des Lukaschenko-Regimes angetrieben. In den letzten Tagen wurden Hunderte von Demonstranten verhaftet, darunter streikende Arbeiter und Dutzende Journalisten, viele davon von internationalen Presseorganen. Korrespondenten von Reuters, BBC, der Deutschen Welle, Associated Press und anderen internationalen Nachrichtenagenturen und Medien wurde die Akkreditierung entzogen. Lukaschenko drohte mit dem Einsatz des Militärs gegen Demonstranten.

Im Vorfeld der Proteste von Sonntag mobilisierte das Lukaschenko-Regime neben zahlreichen Einheiten der Spezialpolizei OMON auch Soldaten und paramilitärische Einheiten des Innenministeriums. Im Stadtzentrum waren Gefangenentransporter geparkt. Der Amtssitz des Präsidenten in Minsk wurde von schwer bewaffnetem Sicherheits- und Militärpersonal sowie Panzern umstellt. Genau wie am Sonntag zuvor soll Lukaschenko mit einem Sturmgewehr bewaffnet gewesen sein.

Mindestens 140 Menschen wurden verhaftet, darunter ein Journalist der russischen Presseagentur TASS. In Minsk wurde während der gesamten Dauer der Proteste das Internet abgestellt. Die deutsche Regierung bestellte den belarussischen Botschafter ein, um über Vorfälle zu diskutieren, bei denen deutschen Journalisten in Belarus die Akkreditierung entzogen wurde.

In den Tagen vor den erneuten Massenprotesten hatten sich die Spannungen zwischen Russland und den imperialistischen Mächten wegen der Krise in Belarus verschärft. Am Donnerstag erklärte der russische Präsident Wladimir Putin erstmals seit Beginn der Massenstreiks und -proteste offen seine Unterstützung für Alexander Lukaschenko.

Er erklärte außerdem öffentlich, er und Lukaschenko hätten über die Gründung von speziellen Sicherheitskräften diskutiert, die die Lage in Belarus notfalls unter Kontrolle bringen sollen. Allerdings bestehe laut Putin bisher „kein Bedarf“ für eine solche Einheit. Am Wochenende erklärte der Kreml, Russland würde die Wahl vom 9. August als legitim anerkennen. Am Sonntag lud Putin Lukaschenko in einem weiteren Telefonat nach Moskau ein.

Russland und Belarus haben sich auf einen Kredit in Höhe von einer Milliarde Dollar für die belarussische Wirtschaft geeinigt, die durch die anhaltende Streikbewegung an den Rand des Zusammenbruchs gebracht wurde.

Bisher hat der Kreml eine vorsichtige Haltung zum Lukaschenko-Regime eingenommen. Mit seinem Kurswechsel reagiert er auf die immer stärkere Einmischung imperialistischer Mächte in die Krise in Belarus.

Im Vorfeld von Putins Stellungnahme vom Donnerstag hatte der stellvertretende US-Außenminister Stephen Biegun bei einem Besuch in Litauen am Wochenende zuvor offizielle Diskussionen mit der Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja aufgenommen. Biegun sprach sowohl mit der litauischen als auch mit der ukrainischen Regierung, bevor er zu Gesprächen mit dem Kreml nach Moskau reiste. Details über diese Diskussionen wurden bis jetzt noch nicht veröffentlicht.

Am Freitag erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij, die Ukraine werde alle diplomatischen Beziehungen zu Belarus abbrechen.

Auch Polen und Litauen, die an vorderster Front der Nato-Aufrüstung gegen Russland stehen, haben ihre Unterstützung der Opposition in Belarus verstärkt. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki von der rechtsextremen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hatte vor zwei Wochen angekündigt, Polen werde die belarussische Opposition mit elf Millionen Euro unterstützen. Litauen erklärte am Wochenende, es werde 150.000 Euro für die Unterstützung der „Zivilgesellschaft“ und der „unabhängigen Medien“ in Belarus ausgeben.

Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, die sich seit der Präsidentschaftswahl in Litauen aufhält, wurde für Freitag zu einer Rede vor dem UN-Sicherheitsrat eingeladen. Am Montag verhängten die baltischen Staaten Sanktionen gegen Lukaschenko und 29 weitere Persönlichkeiten seines Regimes. In Berlin bestellte die Bundesregierung den belarussischen Botschafter ein. 

Diese Interventionen der imperialistischen Mächte und ihrer Verbündeten in Osteuropa finden unter dem betrügerischen Vorwand der Verteidigung von „Demokratie“ und „Menschenrechten“ statt. Diese Rhetorik ist eine Farce. Die US-Regierung geht regelmäßig gewaltsam gegen Proteste innerhalb ihrer eigenen Grenzen vor, und US-Präsident Donald Trump ruft offen zu faschistischer Gewalt gegen Immigranten und friedliche Demonstranten auf.

In Deutschland werden die rechtsextreme AfD und neonazistische Terrornetzwerke von beträchtlichen Teilen des politischen Establishments und des Staatsapparats unterstützt. In Polen wurden Meinungsäußerungen über polnischen Antisemitismus und den Holocaust verboten. Die Ukraine und Litauen sind die beiden Länder Europas, in denen am offensten und mit staatlicher Unterstützung Nazi-Kollaborateure und die Waffen-SS verherrlicht werden.

Diesen Regierungen geht es nicht um die demokratischen Rechte der Bevölkerung von Belarus. Vielmehr wollen sie die Krise in diesem Land ausnutzen, um ihren geopolitischen Kurs gegen Russland voranzutreiben. Die Kreml-nahe Zeitung Wsgljad wies in einem Kommentar darauf hin, dass die imperialistischen Mächte eine zu aggressive Intervention in Belarus vermieden haben, um die Beziehungen zwischen Minsk und Moskau nicht zu stärken.

Allerdings wird in führenden Kreisen aktiv über eine Eskalation der imperialistischen Intervention in Belarus diskutiert. Die deutsche Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik, die enge Beziehungen zur Bundesregierung unterhält, erklärte in einem besonders aggressiven Kommentar: „Mit Moskau sollte klar kommuniziert werden, über mögliche Lösungen ebenso wie über die Kosten einer Intervention. Die Furcht vor einer Auseinandersetzung ist gegenstandslos: Die EU befindet sich längst in einem Konflikt mit Russland."

Auch der wachsende Einfluss Chinas, das enge Beziehungen zur belarussischen Regierung aufgebaut und sich zu einem der größten Investoren im Land entwickelt hat, ist den USA und der EU ein Dorn im Auge. Die russische Nesawisimaja Gaseta betonte in einem Kommentar über einen Besuch Stephen Bieguns in Moskau, die USA seien vor allem wegen des Einflusses Chinas in Belarus und allgemein in Europa besorgt.

Gleichzeitig sind die imperialistischen Mächte zutiefst besorgt über die seit drei Wochen andauernde Streikbewegung in Belarus. Sie befürchten, dass das Lukaschenko-Regime durch die gewaltsame Unterdrückung der Proteste die Wut von beträchtlichen Teilen der Arbeiterklasse nur noch weiter anheizen wird. Diese Sorgen teilt auch die russische Oligarchie, die wegen der Streiks beträchtliche wirtschaftliche Verluste hinnehmen musste und ihre Ausbreitung auf Russland befürchtet.

Es sind zwar keine konkreten Zahlen bekannt, doch die Streiks in vielen wichtigen Fabriken, u.a. bei Belaruskali, das 20 Prozent des Kalisalzes der Welt herstellt, scheinen anzuhalten. Letzte Woche legte auch ein Teil der Lehrer die Arbeit nieder. Laut Handelsblatt von letzter Woche haben die Streiks in Staatsunternehmen die Wirtschaft „Milliarden Dollar“ gekostet und den belarussischen Rubel in den Keller stürzen lassen. Das Bruttoinlandsprodukt von Belarus lag im Jahr 2019 bei unter 60 Milliarden Dollar.

Anders Aslund, ein langjähriger Unterstützer des US-Imperialismus in der Region, schrieb am Freitag auf der Website der Denkfabrik Atlantic Council, Belaruskali, das Düngemittelwerk Grodno Asot und die Ölraffinerien Naftan und Mosyr hätten im Jahr 2019 zusammen 68 Prozent der belarussischen Exporte in den Westen ausgemacht. Belaruskali, Grodno Asot und Naftan sind Zentren der Streikbewegung. Aslund warnte: „Ein längerer Streik bei einem dieser vier staatseigenen Unternehmen würde zum Zusammenbruch der belarussischen Exporteinnahmen und des belarussischen Rubel führen und Lukaschenko in die Knie zwingen. Dennoch wird das Ausmaß der drohenden wirtschaftlichen Gefahr, mit der das Land konfrontiert ist, weder allgemein verstanden noch gewürdigt. Wenn die Währung zusammenbricht, fängt der eigentliche Kampf an.“

Die große Gefahr ist, dass die Arbeiter, die jetzt den Kampf aufgenommen haben, an die eine oder die andere Fraktion der herrschenden Klasse gebunden bleiben und zu Schachfiguren in den Machenschaften des Imperialismus werden. Ein echter Kampf zur Verteidigung von demokratischen Rechten muss mit einem Kampf für soziale Gleichheit und gegen den Kapitalismus verbunden werden. Dies können die Arbeiter in Belarus nur durch einen vollständigen politischen Bruch mit allen Fraktionen der herrschenden Klasse und in engem Bündnis mit ihren Klassenbrüdern und -schwestern in ganz Europa und der Welt erreichen.

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