Trotz steigender Corona-Zahlen öffnen alle Schulen

Der Lockdown im Frühjahr hat wissenschaftlichen Studien zufolge in ganz Europa Millionen das Leben gerettet. Jetzt jedoch, seit dem Ende der Sommerferien, werden selbst Schulen und Kitas praktisch uneingeschränkt wieder geöffnet, obwohl die Corona-Fallzahlen ständig steigen.

Mitte August, als die freiwilligen Tests unter Reiserückkehrern und im Umfeld der Schulen deutlich zunahmen, meldete das RKI täglich etwa 1500 Neuinfektionen. In den ersten Septembertagen liegt die 7-Tages-Durchschnittszahl bei über 1200 täglichen Fällen: Am Mittwoch wurden in 24 Stunden 1256 und am Donnerstag 1311 Neuinfektionen registriert. 9321 Menschen sind in Deutschland an Sars-CoV-2 gestorben, allein am Mittwoch gab es acht weitere Todesfälle.

Europaweit hat die Zahl der Corona-Infektionen in dieser Woche die vier Millionen überschritten, mit verheerenden Fallzahlen in Russland, Spanien und Großbritannien. Auch in Frankreich werden derzeit täglich bis zu 5000 Neuinfektionen registriert. In ganz Europa sind bisher rund 216.000 Menschen an der Seuche gestorben.

Schüler drängen sich an einem Schulzentrum in Dortmund-Hacheney

Seit einigen Wochen sind es immer mehr Jüngere, Kinder und Jugendliche, die sich mit der gefährlichen Lungenkrankheit Sars-CoV-2 infizieren. Das Durchschnittsalter liegt auf dem niedrigsten Stand seit Beginn der Corona-Pandemie.

Am Dienstag nahm der Charité-Virologe Christian Drosten seinen NDR-Podcast wieder auf. Er bestätigte, dass die seit Juli steigenden Fallzahlen real und nicht bloß, wie oft behauptet, auf die Zunahme von Tests zurückzuführen seien. Die tatsächliche Infektionshäufigkeit in der Bevölkerung werde vermutlich unterschätzt. „Es kann sein, dass das RKI das Virus zu gering einschätzt“, so Drosten.

Er warnte davor, dass durch neues Infektionsgeschehen rasch ein kritischer Schwellenwert erreicht werden könnte. Davor sollte man „die Augen nicht verschließen“. Er skizzierte eine Situation, in der es, wie zurzeit schon in Frankreich, täglich deutlich mehr Fälle werden.

Die systematische Kontakteverfolgung und -Isolierung sei natürlich wichtig. Aber wenn dies außer Kontrolle gerate, dann müssten die Gesundheitsämter reagieren und wieder einen Lockdown und Kontakt- und Reisebeschränkungen verhängen. Es sei bereits abzusehen, dass „wir in einem Monat mehr Krankenhaus-Einweisungen haben werden ... Wenn wir warten, bis die Intensivstationen voll sind, wird es zu spät sein.“

Der Virologe erklärte: „Diese Infektionskrankheit verbreitet sich sehr stark im Cluster“, es seien „zeitliche und örtliche Cluster“, in denen sich Infektionen häuften. Er betonte, dass wir zwar nicht immer wüssten, wo genau das Virus sei, aber recht gut, was zu seiner weiteren Ausbreitung beitrage: „Je mehr Leute in einem Raum sind, desto besser kann sich das Virus ausbreiten“, so Drosten. 15 bis 20 Personen, die sich dicht beieinander über längere Zeit in einem Innenraum aufhielten, könnten ein gefährlicher Cluster bilden. Der Virologe nannte als Beispiele Fitnessstudios, Familienfeiern, inoffizielle Technokonzerte oder ähnliche Situationen.

Noch wichtiger ist indessen, was er nicht ausdrücklich nannte: die Öffnung von Schulen und Kitas. Dabei liegt gerade hier die Gefahr auf der Hand: Die zurzeit wieder übervollen Kitas und der allgemeine Präsenzunterricht an den Schulen, ohne Abstand und Maskenpflicht im Unterricht, werden zwangsläufig zu zahlreichen neuen Infektionen führen.

Aus einer Graphik der Lehrergruppe #BildungAberSicher geht hervor, dass es in Deutschland seit den Schulöffnungen schon rund 600 Infektionsfälle an Schulen und 179 an Kitas gab. Der jüngste Fall: An der Düsseldorfer Freiherr-von-Stein-Realschule wurden gerade 20 Schüler nach einer Klassenfahrt Corona-positiv getestet. Sie gehörten zu einer Gruppe von 55 Schülern, die Mitte August eine viertägige Busreise durch Oberbayern unternommen hatten.

Am Montag wurde auch in Templin (Brandenburg) eine Lehrerin Corona-positiv getestet. Am selben Tag meldete Bremen (Niedersachsen) zwei Corona-Fälle unter den Schülern der Stadt. In Hessen ist am Mittwoch ein Neuntklässler an Covid-19 erkrankt, worauf die betroffene Schule im Landkreis Hersfeld-Rotenburg den ganzen Lehrkörper und 111 Schüler in Quarantäne schickte.

Immer häufiger werden Lehrer, Erzieher und Eltern gezwungen, wider Willen die Öffnungen mitzumachen oder die Kinder in die Schulen zu schicken, wenn sie nicht Arbeitsplatz, Studienplatz oder den Zugang der Kinder zur Bildung verlieren wollen. In Berlin sind einige Quereinsteiger im Schuldienst damit konfrontiert, dass ihnen das Lehrmaterial für das Studium ihrer Zusatzfächer vorenthalten wird, wenn sie nicht am Präsenzunterricht teilnehmen.

Politiker aller Bundestagsparteien setzen die riskante Öffnungspolitik mit Hilfe der Gewerkschaften, vor allem von GEW und Verdi, mit verteilten Rollen durch. In Nordrhein-Westfalen erklärte die Landesregierung unter Armin Laschet die Maskenpflicht im Unterricht zum 1. September für hinfällig. Am 27. August, also drei Tage zuvor, hatte die GEW-Landesvorsitzende Birgit Koch eine Erklärung publiziert, in der sie die Maskenpflicht in den Klassenzimmern als starke Behinderung des Unterrichts kritisierte.

Zur aktuellen Tarifrunde für zweieinhalb Millionen öffentliche Beschäftigte hat die GEW keine einzige Forderung zum Corona-Schutz aufgestellt. Stattdessen setzen prominente Gewerkschaftsmitglieder wie das Verdi-Mitglied Ulrich Mägde (SPD), Oberbürgermeister von Lüneburg, als Verhandlungsführer der Kommunalen Arbeitgeber die Angriffe auf die Beschäftigten durch.

In Berlin steht die Bildungs-Senatorin Sandra Scheer (SPD), ebenfalls Verdi-Mitglied, für eine gnadenlose Durchsetzung der Schulöffnungen. Während sie selbst im Home-Office arbeitet, kritisiert sie heftig das Gerhart-Hauptmann-Gymnasium, das wegen eines Corona-Ausbruchs den Unterricht einen Tag lang einstellte. Es sei „unverhältnismäßig, ganze Schulen gleich zu schließen“, schimpfte die Senatorin.

Die Öffnungspolitik wird von einer schrillen Verharmlosungs-Propaganda begleitet. Ein krasses Beispiel hierfür ist ein Gastkommentar in der taz, dem Hausblatt der Grünen, gemeinsam verfasst vom Bundestagsabgeordneten Dieter Janacek (Bündnis 90/Die Grünen) und von Kristina Schröder (CDU), Merkels ehemaliger Bundesfamilienministerin. Schröder vertritt den neoliberalen Thinktank INSM (Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft), eine Lobbygruppe der Unternehmerverbände, namentlich von Gesamtmetall.

„Jede Gesellschaft muss während der Pandemie ein gewisses Risiko eingehen“, fordern die beiden, „sonst wären wir gar nicht handlungsfähig.“ Und noch deutlicher: „Die millionenfach ausgefallene Arbeitszeit schwächt unsere Volkswirtschaft.“ Sie stellen Profite über Leben, wenn sie schreiben: „Es wird Ansteckungen auch innerhalb von Schulen und Kindergärten geben... Als Gesellschaft sollten wir diesmal bereit sein, das in einem gewissen Maß hinzunehmen.“

Ihre menschenverachtenden Forderungen untermauern sie mit Sätzen wie: „Je jünger die Kinder, desto geringer sogar die Ansteckungsgefahr, die von ihnen ausgeht“, und „heute wissen wir, dass das Risiko gesunder Kinder, aufgrund einer Ansteckung schwerwiegend zu erkranken, bei nahezu null liegt“. Das erinnert an US-Präsident Donald Trump, der mit der Begründung auf der Öffnung der Schulen beharrt, Kinder seien „definitiv immun gegen diese Krankheit“.

Das sind alles platte Lügen. Wie man inzwischen weiß, können Kinder das Virus nicht nur wochenlang weiterverbreiten, sondern sie sind selbst gefährdet und können an Covid-19 sterben, oder die Infektion kann bei ihnen lebenslange Schädigungen hinterlassen.

Laut einer europaweiten Studie, über welche Die Zeit Ende Juni berichtete, sind von 582 erkrankten Minderjährigen im Alter zwischen drei und 18 Jahren vier an Sars-CoV-2 gestorben. Eine erhebliche Anzahl der jungen Patienten entwickelten eine schwere Erkrankung, und acht Prozent mussten auf einer Intensivstation behandelt werden.

In einer Serie der World Socialist Web Site hat der Arzt Benjamin Mateus wissenschaftliche Erkenntnisse zusammengestellt, die Pädagogen, Schüler und Arbeiter helfen, sich zu schützen und den gemeinsamen Kampf gegen das Virus aufzunehmen. Insbesondere hat er die Annahme, Kinder seien immun gegen Covid-19 oder nicht ansteckend, klar widerlegt (hier der erste und der zweite Teil der Serie in englischer Sprache).

Über die von Wirtschaftsinteressen motivierte Regierungspropaganda und Öffnungspolitik schreibt Mateus, dies sei „keine auf Wissenschaft gegründete Politik, sondern ein im wissenschaftlichen Jargon formuliertes politisches Bestreben, die Bevölkerung einzulullen: Sie soll als vollendete Tatsache akzeptieren, was vermeidbar gewesen wäre und noch immer zu verhindern ist.“

Dies setze jedoch die Erkenntnis voraus, fährt er fort, „dass das wirkliche Heilmittel, das diese Pandemie ausrotten wird, der Sozialismus auf globaler Ebene ist. Diese Krankheit ist das Nebenprodukt von Bedingungen, die der Kapitalismus hervorgebracht hat.“

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